Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


Скачать книгу

Nachtschrank, Mama.“

      Sofia hielt die Sachen weiter Toni entgegen und schenkte Marco nur einen entschiedenen Blick.

      „Marco, du brauchst die Sachen hier doch nicht. Das Portemonnaie wird höchstens gestohlen und mit dem Wohnungsschlüssel kannst du auch nichts mehr anfangen.“

      Dieser Kommentar saß. Marco wusste selbst, dass er seine jetzige Bude wohl oder übel aufgeben musste, weil es ohne Aufzug für ihn nun unmöglich war, zu ihr hinauf in den dritten Stock zu gelangen. Wie erschreckend einfach war es vor einer Woche noch gewesen... Seine Mutter hatte es sicher nicht so gemeint, aber Marco empfand ihre Worte als Schlag in den Magen.

      „Ich will diese Dinge aber trotzdem hier bei mir haben. Es ist mir egal, ob ich sie brauche. Es sind meine Sachen und darüber entscheide immer noch ich!“

      „Wie du willst...“, gab Sofia nach, öffnete ein Stück zu ruppig die Schublade und legte Geldbörse und Schlüssel hinein.

      „Danke.“

      „Marco...“, begann Sofia zögerlich. „Wegen der Wohnung...“

      „Um die Wohnung mach ich mir ein anderes Mal Gedanken, Mama, ist das okay?“ Marco konnte den aggressiven Unterton nicht ganz verbergen, seine Mutter schien dies jedoch nicht zu kümmern.

      „Ich will nur, dass du weißt: du musst dir da keine Sorgen machen. Ich lasse Vaters Zimmer renovieren, dann hast du dort Platz. Es ist ebenerdig und das Bad ist geräumig. Es wäre gar kein großer Aufwand.“

      Toni hielt die Luft an und warf seiner Mutter einen warnenden Blick zu, doch es war bereits zu spät.

      Marco schluckte und starrte seine Mutter entsetzt an. Vaters Zimmer war für ihn immer schon der schrecklichste Ort im ganzen Haus gewesen und als Vater tot war, hatte Mutter es abgeschlossen und nie wieder betreten. Marco hatte sich damals so gewünscht, dass sie ein Spielzimmer daraus machen würde, mit einem Kickertisch, einer Dartscheibe und einem Basketballkorb. Doch sie hatte sich immer geweigert, mit ihrer seltsam hartnäckigen Verbohrtheit, wonach Marco schließlich begonnen hatte, das Zimmer zu verabscheuen.

      „Das ist nicht dein Ernst, Mama! Du willst mich nicht wirklich in dieses Totenzimmer stecken, oder?“

      „Marco!“, rief Sofia empört aus. „Benutze nie wieder dieses Wort!“

      „Warum denn nicht? Das entspricht doch den Tatsachen. Totenzimmer! Glaubst du, dass ich je wieder nach Hause ziehe und dann noch in diese triste Todeskammer?“

      Sofia tat einen tiefen Atemzug und unterdrückte den Impuls, Marco eine Ohrfeige zu verpassen. Sie sah auf ihn herab und blickte in seine provozierend funkelnden Augen.

      „Marco, du bist nun behindert“, bemühte sie sich um einen ruhigen Tonfall. „Wer soll dir denn den ganzen Tag helfen? Zu Hause kann ich mich um dich kümmern.“

      Marco war sprachlos. Er betrachtete seine Mutter und fand in ihr plötzlich einen fremden Menschen. Er musste mehrfach schlucken, bevor er seiner Stimme wieder mächtig war.

      „Ich glaube, so behindert bin ich auch wieder nicht...“, brachte er heiser heraus und räusperte sich. „Ich werde schon für mich sorgen können, Mama. Das hat der Arzt zumindest gesagt.“

      Sofia schwieg und blickte hilfesuchend zu Toni, der ihr zunickte, als wolle er damit Marcos Worte bestätigen. Aber Sofias Bedenken waren noch nicht beigelegt.

      „Und wovon wirst du deine neue Wohnung bezahlen? Deinen Studentenjob als Kellner kannst du so“, sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Marcos Beine, „wohl nicht mehr ausüben... Und ich kann es mir nicht leisten, dir eine Miete zu bezahlen. So eine Behindertenwohnung ist sicher nicht billig und an jeder Ecke zu haben... Marco, sieh doch ein, dass es erst einmal das Beste wäre, nach Hause zu kommen.“

      „Nein, Mama.“ Marco schüttelte entschieden den Kopf. „Ich kann das nicht. Irgendwie wird es schon gehen...“

      „Er bekommt ja noch eine finanzielle Entschädigung, Mama. Ich bin schon dabei, das alles zu regeln. Es ist gar nicht so wenig. Damit kommt er erst mal zurecht. Es gibt da schon Lösungen...“, fiel Toni ein und wurde von Marco mit einem dankbaren Lächeln belohnt. Sofia hingegen hatte nur einen missmutigen Blick für ihn übrig.

      Aus irgendeinem, Marco nicht ersichtlichen Grund wollte seine Mutter sich um ihn kümmern wie damals um Vater. Dabei hätte sie doch froh sein können, diese Last kein weiteres Mal übernehmen zu müssen. Aber es war eine seltsam aggressive, fast lähmende Besorgnis, die sie in sich trug und mit der sie ihn nun zu vereinnahmen versuchte.

      Zu gerne hätte Marco einen Vorwand gehabt, seine Mutter fort zu schicken und so freute er sich, als die Schwester wenig später herein kam, um ihn zu lagern. Er brauchte das Gesicht seiner Mutter dabei nicht einmal sehen, um zu wissen, dass ihr dieser Anblick ganz und gar nicht behagte, und so sehr ihn diese Prozedur bisher immer betrübt hatte, so erfüllte sie ihn diesmal mit einer Mischung aus Gehässigkeit und Schadenfreude.

      Toni hatte sich während der ganzen Szene unbehaglich gefühlt und war froh, dass er mit seiner zugesicherten Unterstützung den erdrückenden Dunst aus Beklemmung ein wenig zu lichten vermochte. Als dann noch die Krankenschwester hereinplatzte, um Marco auf die Seite zu drehen, kam es ihm vor, als bringe sie einen Schwall frische Luft mit hinein, sodass er endlich wieder frei atmen konnte.

      Dieser Umstand sowie Marcos hilfesuchender Blick, den er Toni zuwarf und welcher ihm zu erkennen gab, dass auch er sich nach Erlösung sehnte, veranlasste ihn schließlich, aufzubrechen.

      „Marco sieht müde aus, Mama. Ich glaube, wir sollten nach Hause gehen, damit er noch etwas schlafen kann.“ Toni zwinkerte Marco zu, der mit einem verschwörerischen Grinsen antwortete. Sofia zögerte zwar, willigte dann aber bereitwillig ein, wobei Toni glaubte, einen Anflug von Erleichterung durch ihre besorgte Miene huschen zu sehen.

      Er schickte seine Mutter voraus und wandte sich noch einmal an Marco.

      „Ich bringe Mama jetzt heim und dann komme ich am Nachmittag noch mal vorbei. Ist das okay?“

      Marco nickte.

      „Mach dir keine Gedanken über das, was sie gesagt hat...“

      Wieder nickte Marco, obgleich sich ein Zug von Bitterkeit um seine Mundwinkel abzeichnete.

      „Klar, kein Problem. Ich habe ja quasi gar keine Zeit zum Nachdenken...“, erwiderte er und erhielt dafür einen gequälten Blick, der ihn seine Aussage bereuen ließ.

      „Geht schon, Toni. Ich kriege das hin. Danke für deine Unterstützung.“ Marco lächelte. Wieder einmal jenes Lächeln, das die Last auf den Schultern seines Bruders mildern sollte und Toni die Erlaubnis gab, ohne schlechtes Gewissen zu gehen.

      Zwischenspiel

      Als der Drache ihnen nicht antwortete, zogen sich seine Freunde langsam zurück. Einer nach dem anderen flog davon. Bloß eine blieb. Ein Drachenmädchen, das den Drachen immer sehr gern gehabt hatte. Voll Sorge harrte sie neben ihm aus, doch er nahm sie nicht wahr. Wenn sie sich ihm zu nähern versuchte, kehrte er ihr den Rücken zu und schwieg.

      Die Tiere des Waldes beobachteten das Spiel neugierig, bemerkten bald jedoch, dass es gar keines war. Sie erkannten die Niedergeschlagenheit des Drachen und die Traurigkeit des Drachenmädchens, und sie kamen näher, um zu helfen. Vorsichtig traten sie an den Drachen heran, stupsten ihn sanft mit ihren Nasen in die Seite und fragten, wie sie ihn glücklich machen könnten. Doch er antwortete nicht.

      Das Drachenmädchen hoffte so sehr, dass es ihr mit Hilfe der Tiere gelingen würde, des Drachens Herz zum Schmelzen zu bringen, auf dass der Sprung darin zerfließen und es zu neuer Kraft gelangen würde. Wie sehr aber hatte sie sich getäuscht.

      Lange hatte der Drache sich nicht bewegt, doch nun schien er langsam zu erwachen. Das Drachenmädchen war ganz aufgeregt, glaubte sie doch, nun würde endlich alles gut. Sie lachte ihn an und versicherte ihm, dass sie ihm helfen würde, wo er sie brauchte. Sie und die Tiere