Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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Waschlappen, der sich unaufhaltsam die Beine hinauf arbeitete, bis er dort angekommen war, wo Marco nun voller Entsetzen erkannte, dass wirklich alles unterhalb des Bauchnabels von der Taubheit betroffen war. Routiniert wusch die Schwester Marcos Geschlecht und Marco sah ihr dabei zu; fassungslos darüber, dass er nichts, aber auch gar nichts davon nur ansatzweise spürte; geschockt darüber, dass er etwas unwiederbringlich verloren hatte, was er bis vor wenigen Tagen als so selbstverständlich und schön empfunden hatte; niedergeschmettert, weil er doch erst dreiundzwanzig Jahre alt war und ihm noch ein ganzes Leben bevor stand...

      Tränen, geboren aus grausamer Erkenntnis, Demütigung und Trauer, schossen ihm in die Augen, sodass er sie zukniff, damit die Schwester davon nichts merkte. Aber das Zucken in seinem Oberkörper, das seine unterdrückten Schluchzer mit sich brachten, konnte er nicht verhindern. Rasch nahm er seine Hand vor den Mund und biss sich auf die Seite seines Zeigefingers, konzentrierte sich auf den Schmerz, den seine Zähne verursachten sowie auf seinen Atem, den er zu beruhigen versuchte, und sagte sich immerzu: Gleich hast du es geschafft! Gleich ist es vorbei!...

      Die nagende Schwärze aber, die dabei in seine Seele einzog, blieb und begleitete ihn in den Tag hinein.

      Marcos Mutter Sofia kam gemeinsam mit Toni am späten Vormittag. Marco döste gerade vor sich hin, als sie das Zimmer betraten. Die unruhige Nacht sowie das Schmerzmittel taten ihre Wirkung, sodass Marco nach dem Frühstück froh gewesen war, die Augen zumachen und alles um sich herum für eine Weile aussperren zu können.

      Das Schließen der Tür holte ihn zurück in das Krankenzimmer.

      „Marco!“, brach es aus seiner Mutter heraus, als sie an das Bett herantrat. Sie beugte sich zum ihm herunter, um ihn in die Arme zu schließen, doch Marco spürte ihre Anspannung, die diesen Akt seltsam unbeholfen erscheinen ließ.

      „Hallo Mama“, war alles, was ihm dazu einfiel und er erwiderte die Umarmung allenfalls pflichtschuldig, während er Toni an ihr vorbei einen Blick zuwarf. Er war froh, dass sein Bruder dabei war.

      „Wie geht es dir, mein Junge?“ Seine Mutter richtete sich wieder auf und sah besorgt auf Marco hinunter, während sie seinen Arm streichelte.

      Beschissen, wollte er am liebsten ausspeien, biss sich aber zuletzt auf die Unterlippe und beließ es bei einem im Grunde lächerlichen: „Naja, könnte besser sein.“

      „Mein Gott, wie konnte das denn nur passieren, Marco?“, sagte sie mit erstickter Stimme und wischte sich eilig mit dem Finger eine Träne fort, die aus dem Augenwinkel zu kullern drohte.

      „Mama“, fiel Toni da ein, „lass ihn doch in Ruhe damit.“

      Die Mutter blinzelte und warf ihrem älteren Sohn einen pikierten Blick zu, wandte sich dann aber wieder an Marco und lächelte bemüht tröstlich.

      „Na, das wird schon wieder...“

      Fast hätte Marco gelacht, wenn es nicht so erbärmlich gewesen wäre.

      „Ja, bestimmt.“

      „Nein, ich meine, wir sind ja da, Marco. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, auch um deine Zukunft nicht. Wir kümmern uns um dich!“

      Großartig..., dachte Marco und „Danke“ sagte er, in der Hoffnung, damit das Thema abhaken zu können, denn um seine Zukunft wollte er sich gerade eigentlich keine Gedanken machen. Das hier und jetzt genügte ihm schon. Seine Antwort vermochte es allerdings nicht, die verspannte Atmosphäre zu lösen.

      „Und, was macht ihr heute noch so?“, fragte er deshalb müde und erntete damit zwei verständnislose Blicke.

      „Wir helfen dir gleich beim Umzug auf die Akutstation“, rettete Toni schließlich die Situation und hob die kleine Reisetasche hoch, die er in der Hand hielt, um Marco zu demonstrieren, dass er Kleidung für ihn dabei hatte. Sichtbar erleichtert nickte Sofia dazu und widmete ihre Aufmerksamkeit sogleich dem Nachtschrank, auf dem einige wenige Utensilien lagen, darunter ein Buch, das Marco nicht einmal angerührt hatte, sein Discman und eine alte CD von Pink Floyd. Mit wenigen Griffen hatte sie die Sachen in eine kleine Tasche gesteckt. Dann zog sie die Schubladen auf und kramte das Portemonnaie und Marcos Wohnungsschlüssel heraus. Während sie die Geldbörse gleich zu den anderen Sachen in die Tasche packte, hielt sie den Schlüssel hingegen nachdenklich in der Hand. Marco beobachtete sie dabei und als sie zu ihm aufsah, trafen sich ihre Blicke.

      „Wo ist denn der Autoschlüssel?“, fragte sie schließlich mit skeptischer Miene.

      „Der Autoschlüssel?“, tat Marco ahnungslos.

      „Ja, ich hatte dir das Auto doch geliehen, damit du es auch benutzt. Warum bist du denn um Himmels Willen bei dem Wetter in der Dunkelheit mit dem Fahrrad gefahren?“ Der Vorwurf in Sofias Worten war nicht zu überhören und Marco wand sich innerlich unter ihm.

      „Ich hatte den Schlüssel auf die Schnelle nicht gefunden, muss ihn wohl verlegt haben. Ich hatte es eilig...“

      Sofia bedachte Marco mit einem langen Blick, der so viele Gedanken gleichzeitig ausdrückte, von denen sie jedoch keinen einzigen aussprach. Der schlimmste davon war, dass Marco heute noch laufen könnte, wenn er sich die Zeit genommen und den Schlüssel gesucht hätte. Der zweite war die Wut darüber, dass sie Marcos Schlendrian schon immer verurteilt hatte und er ihm nun im wahrsten Sinne des Wortes das Kreuz gebrochen hatte. Und der dritte war die schmerzende Bitterkeit, die sie darüber empfand, dass Marco nun behindert und damit in ihren Augen ein Pflegefall war.

      Marco konnte all das in den Augen seiner Mutter lesen und es tat ihm weh, tief in seiner Seele. Er fühlte sich bereits aufgegeben, noch bevor er überhaupt ausloten konnte, welche Möglichkeiten ihm noch blieben.

      „Glaub mir, wenn ich gewusst hätte, wie das endet, hätte ich ihn gesucht...“, setzte er schließlich geschlagen nach, um ihr damit den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Aber nun ist es wohl zu spät.“

      Sofia zog die Mundwinkel herunter, kam jedoch nicht mehr dazu, zu antworten, denn eine Schwester betrat das Zimmer.

      „So, es geht jetzt auf die andere Station!“, kündigte sie schwungvoll an und begann damit, Marcos Tasche auf das Fußende des Bettes zu legen und die Bremsen zu lösen. Toni half ihr, das Bett aus dem Raum heraus, über den Flur zu den Aufzügen zu schieben, während Sofia mit zusammengekniffenen Lippen folgte.

      Toni warf seiner Mutter einen flüchtigen Blick zu. Er wusste, wie düster es in ihr aussah. Alles, was sie nie an Kummer über ihren Mann ausgesprochen hatte, alles, was sie sich bemüht hatte nach seinem Tod zu vergessen, brach nun aus ihr heraus. Sie war für keinerlei Argumente zugänglich gewesen, hatte gar nicht verstehen wollen, als Toni ihr erklärte, dass Marco doch ein hohes Maß an Selbständigkeit zurückerlangen würde. Wenigstens hatte sie ihm zugehört, als er sie bat, Marco heute gegenüber nichts von ihren Sorgen zu erwähnen. Ob sie sich allerdings daran halten würde, war fraglich.

      Marco kam sich vor, wie nutzloser Ballast. Er war es gewöhnt, sich um sich selbst zu kümmern und hatte es immer schon gehasst, jemanden um Hilfe bitten zu müssen. Nun aber lag er wie ein hilfloser Walfisch im Bett und musste sich durch die Flure schieben lassen. Alle um ihn herum liefen, sahen traurig auf ihn herab und er, der Walfisch, lag da und konnte nur blöde zurück glotzen und womöglich noch verkrampft lächeln. Schon der ganze Tag war bis zu diesem Moment ein einziges Desaster gewesen, eine Ansammlung von Demütigungen und Würdeverlust. So empfand er es. Genauso! Und langsam begann es in ihm zu brodeln. Leise noch, aber er spürte es. Eine Unruhe, Unzufriedenheit, Unmut, der Wunsch danach, wegzulaufen, und das verfluchte Wissen darüber, dass genau dies sein Problem war...

      Für heute reichte es, dachte er und schloss die Augen, um auf diese Weise wenigstens den Blicken zu entfliehen.

      Marcos neues Zimmer unterschied sich kaum von dem vorherigen. Es sah nicht ganz so krank machend aus, aber das war es auch schon. Immerhin.

      Toni und Sofia machten sich daran, Marcos Kleidung in den Schrank zu räumen sowie Buch und Discman auf den Nachtschrank zu legen. Als Sofia Portemonnaie und Schlüssel aus der Tasche holte, zögerte sie. Dann reichte sie die Sachen an Toni.

      „Nimm