Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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Ein Geruch, den er noch gut aus seinem Zivildienst im Krankenhaus kannte. Allerdings lag diese Zeit nun schon über drei Jahre zurück und diesmal, soviel war ihm klar, befand er sich auf der anderen Seite der Krankenhausgesellschaft. Auf der Seite der Patienten.

      Wie der Sand durch den engen Hals einer Sanduhr, rieselte diese Erkenntnis langsam in Marcos Bewusstsein, häufte sich dort auf, wog schwerer und schwerer und brachte die Waage der Ungewissheit schließlich ins Wanken. Krankenhaus, hallte es in seinem Kopf. Krankenhaus... Und plötzlich war das Bild wieder da. Scheinwerfer, ein Auto, das unaufhaltsam auf ihn zukam, ein kurzer, elektrisierender Schmerz, wahnsinnig, und dann bloß noch Dunkelheit.

      Marco riss die Augen auf und dieses Mal bereitete es ihm keine Mühe mehr. Sein Herz raste. Die Luft, die er atmen wollte, reichte nicht und er geriet in Panik. Er wollte sich aufrichten, doch sein Körper verweigerte sich ihm. Es schien, als sei er in Watte gepackt und weit, weit von seinem Willen entfernt. Er wollte rufen, brachte jedoch bloß ein Flüstern zu Stande und selbst das erforderte eine ungeheure Anstrengung. Die Luft entwich seinen Lungen, doch sie kehrte nicht zurück und Marco fürchtete, ersticken zu müssen. Schwärze zog herauf und legte sich besänftigend über seine Sinne. Marco fühlte eine Hand, die sich auf seinen Oberarm legte, kam aber nicht mehr dazu, nach ihrem Besitzer zu schauen.

      Toni konnte nur noch dabei zusehen, wie sein kleiner Bruder die Augen schloss. Die ganze Zeit hatte er neben Marcos Bett ausgeharrt, um bei ihm zu sein, wenn er erwachte. Zuletzt aber musste er eingenickt sein, sodass er im entscheidenden Moment zu spät reagierte. Hilflos strich er Marco nun durch das Haar, so wie damals, als Vater gestorben war und er ihn getröstet hatte; ihn, Marco, der noch zu klein gewesen war, um zu verstehen, was Siechtum und Tod eigentlich bedeutete, während er, Toni, mit seinen dreizehn Jahren die Rolle des Vaters übernahm, weil die Mutter zu tief in ihrer Trauer gefangen war. Inzwischen war Marco zwar erwachsen, aber die väterlichen Gefühle ihm gegenüber hatte Toni nie mehr ganz ablegen können, selbst wenn er sich bemühte, es Marco nicht spüren zu lassen, weil er wusste, dass es ihn ärgerte. Jetzt allerdings, jetzt, wo Marco bewusstlos und versehrt vor ihm lag, jetzt wogen diese Gefühle plötzlich wieder schwer wie Steine in seinem Herzen.

      Die Ärzte hatten Toni erklärt, dass Marco unter Schmerz- und Beruhigungsmitteln stand, damit er den anfänglichen körperlichen Schock erst einmal überwinden konnte, ohne dabei auch noch mit seinen seelischen Nöten kämpfen zu müssen. Er würde noch früh genug erwachen und die Tragweite seiner Verletzung begreifen müssen. Bis dahin aber, so hatten sie Toni geraten, sollte er nach Hause gehen, um sich auszuschlafen.

      Doch er blieb. Seit zwei Tagen lebte er nun schon hier in der Klinik an der Seite seines Bruders, verschwand bloß kurz, um sich zu Hause frisch zu machen, und schlief nachts in einem Bett, das die Schwestern ihm großzügiger Weise in das Krankenzimmer geschoben hatten, obwohl das auf der Intensivstation nicht erlaubt war. Aber glücklicherweise wurden hier viele Augen zugedrückt und Toni war dankbar dafür.

      Mittlerweile war die Dosis der Medikamente gesenkt worden und Marcos Schlaf wurde bereits unruhiger, sodass Toni nun erst recht nicht von seinem Bett weichen wollte. Sicher, man hatte ihm gesagt, dass sein Bruder ja nicht im Sterben lag und es ihm als dreiundzwanzigjährigen Mann durchaus zuzumuten war, alleine aufzuwachen. Er sei hier in guten Händen und Toni würde sofort informiert werden, wenn es soweit war. Aber für Toni kam das nicht in Frage. Marco würde ihn brauchen und nicht zuletzt gab es noch einen weiteren Grund, bei ihm zu bleiben.

      Der Grund war ihre Mutter, die mit der Situation vollkommen überfordert war. Vaters überraschend früher Schlaganfall damals und die darauf folgenden Jahre der Pflege hatten ihre Kraft bereits weitestgehend aufgezehrt, und Marcos Unfall raubte ihr nun den letzten, kläglichen Rest.

      Als sie von dem Unfall erfuhr, hatte sie alles stehen und liegen gelassen und war gemeinsam mit Toni ins Krankenhaus geeilt, bloß um ihren Sohn dort bewusstlos im Bett liegen zu sehen und neben ihm zusammenzubrechen. Sie weinte, klagte, fragte voller Verzweiflung nach dem Warum, strich mit zittriger Hand über Marcos Haar, über seine Wange und war nicht mehr zu beruhigen. Toni hatte Mühe, sie von Marcos Bett zu lösen und aus dem Zimmer zu ziehen, damit sie sich draußen wieder fangen konnte. Er brachte sie nach Hause, blieb noch lange bei ihr und versuchte sie zu trösten, hörte ihren Klagen zu und sah, wie die Tränen irgendwann versiegten, ihre Stimme immer leiser wurde, bis sie schließlich einem Schweigen wich und einer eigenartig schwelenden Wut die Oberhand überließ.

      Fast gewann Toni den Eindruck, seine Mutter fühle sich durch Marcos Unfall persönlich gekränkt und nehme ihm übel, dass nun er ihr so großen Kummer bereitete. Dementsprechend sah Toni es als seine Aufgabe, seine Mutter so viel wie möglich zu entlasten, und dazu gehörte, dass er neben Marco wachte, damit sie nicht das Gefühl hatte, es selber tun zu müssen; und – das begriff Toni allerdings erst ein wenig später - damit sie nicht täglich Zeuge werden musste, wie ihr Sohn von einem jungen, sportlichen Mann zu einem unselbständigen Häuflein Elend ohne die geringste Privatsphäre degradiert wurde. Von dieser Tatsache aber wurde auch Toni kalt überrascht, sodass er daraufhin stets die Flucht ergriff, wenn das Pflegepersonal herannahte, und erleichtert darüber war, dass Marco noch nicht viel von all dem mitbekam.

      Nachdem Toni eingesehen hatte, dass Marco erst einmal wieder in sein Dämmertal zurückgekehrt war, löste er sich seufzend von dem Bett und nahm seinen Stammplatz auf dem Besuchersessel ein. Er griff sich die Gerichtsunterlagen, um sie für den kommenden Dienstag ein weiteres Mal durchzugehen, wobei er sich kaum darauf konzentrieren konnte und sich ernsthaft fragte, wie er diesen Termin für die Kanzlei wahrnehmen sollte. Aber es blieben ihm ja noch zwei Tage bis dahin. Und so war er zumindest ein wenig beschäftigt.

      Diesmal waren es nur wenige Stunden, die Marco schlief, obgleich er das natürlich nicht wusste. Ihm kam es vor, als tauche er nach Jahren aus einem zähflüssigen See voll verwirrender Bilder auf und sehe endlich wieder etwas, das konkret und fassbar war. Die Watte hatte sich aus seinem Kopf und Körper zurückgezogen und Marco nutzte die Klarheit, um dort noch einmal anzusetzen, wo er zuletzt das Bewusstsein verloren hatte.

      Er sog den Atem ein und war erleichtert, dass es ihm nun problemlos gelang. Dann wandte er den Kopf zu jener Seite, wo er das letzte Mal die Hand an seinem Arm gespürt hatte, und fand Toni auf dem Sessel, vertieft in sein Skript. Er wollte ihn ansprechen, doch lenkte ihn plötzlich etwas davon ab. Es war der banale Wunsch, sein linkes Bein anzuziehen, um sich damit abzustoßen und ein wenig auf die Seite kippen zu lassen, sodass er Toni besser hätte sehen können.

      Der Gedanke war da, aber das Bein nicht.

      Eiskalte Panik zuckte durch Marcos Brust. Unvermittelt begann sein Herz wie wild gegen die Rippen zu schlagen, wieder drohte der Atem ihm die Luft zu versagen. Verzweifelt versuchte Marco, sein Bein zu bewegen. Erst das eine, dann das andere, doch da war nichts. Sein Wille versickerte ungehört.

      Das kann doch nicht sein!, dachte er. Da muss doch etwas passieren! Immer wieder sandte er seinen Wunsch aus, erst konzentriert, dann hektisch und zuletzt rasend vor Angst. Doch er kam nicht an.

      „Toni“, stieß er aus, als gelte es, nach einem rettenden Anker zu greifen, bevor er in den Untiefen der Furcht ertrank, und Toni reagierte sofort. Erschrocken warf er seine Unterlagen beiseite, sprang auf und eilte zu seinem Bruder.

      „Hey Marco, wie geht es dir?“, fragte er reflexartig, bereute diese Frage allerdings im gleichen Moment, konnte er doch eindeutig die nackte Angst in Marcos Augen erkennen.

      „Toni, wo sind meine Beine? Ich kann sie nicht fühlen. Sind sie... haben sie sie...“

      „Sie sind da, wo sie immer waren, Marco. Keine Angst, sie sind da!“ Toni griff nach Marcos Hand, die bis dahin nervös über die Bettdecke getastet hatte, und hielt sie fest. Im Gegenzug hob Marco mühsam den Kopf, um einen Blick Richtung Füße zu werfen. Doch sie waren zugedeckt und die zwei sanften Hügel, unter denen sie zu erahnen waren, schienen ihn nicht zu beruhigen.

      „Aber ich kann sie nicht fühlen! Warum kann ich sie nicht fühlen, Toni? Was ist denn mit mir passiert?“ Hastig zog Marco seine Hand aus Tonis Griff, um erneut nach seinen Beinen zu tasten. Schließlich packte er seine Decke und riss sie hoch, um darunter zu schauen. Toni sah, wie er versuchte,