Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel


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sorry, ich bin Sarah Rosen.“ Mit aufgesetzt beherzten Schritten kam Sarah auf Marcos Bett zu und streckte ihm die Hand entgegen. Marco hingegen musterte sie zunächst bloß kritisch. Dann erst schlug er ein.

      „Und was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?“, fragte er und konnte seinen resignierten Tonfall dabei nicht verbergen. Er sehnte sich einfach nach Ruhe, aber ständig platzte jemand hinein in sein Zimmer, in sein Leben, in seinen Körper, in seine Träume. Nichts gab es mehr, was nur ihm allein gehörte und sollte diese Frau nun doch eine Psychologin sein, würde sie nun auch noch in seine Seele platzen wollen.

      Sarah wusste nichts auf Marcos Frage zu sagen. Befangen stand sie da und starrte auf den jungen Mann, der vor ihr in dem Bett lag. Er war hübsch. Das war ihr gleich aufgefallen. Braunes, kurzgeschnittenes Haar, grüne Augen, männliche Gesichtszüge mit sanft geschwungenen Lippen. Der Rest des Körpers war zwar nicht zu sehen, weil er zugedeckt war, aber unter der Decke zeichnete sich eine schlanke Silhouette ab.

      Sarah schluckte und blieb zuletzt an Marcos Augen hängen, die sie immer noch neugierig anblickten. Doch neben der Neugier fand Sarah dort auch etwas anderes. Etwas, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte und ihren Brustkorb mit Schuldgefühlen erdrückte. Es war unsägliche Bitterkeit.

      „Hallo?“, riss Marcos Stimme sie schließlich aus ihrer Betrachtung.

      „Ähm, Entschuldigung... Also, ich bin gekommen, weil...“ Sarah versagte die Stimme. So oft hatte sie sich zurechtgelegt, was sie sagen wollte. Immer und immer wieder war sie diesen Augenblick in Gedanken durchgegangen, aber nun war ihr Kopf leer. Nichts von alledem passte.

      „Ich bin gekommen, weil ich mich entschuldigen wollte“, platzte es schließlich aus ihr heraus und sie fasste sich innerlich an den Kopf ob so viel Blödheit.

      Marco sah sie lange an.

      „Ich glaube, das haben Sie mittlerweile schon ein paar Mal getan...“ Er lächelte, leicht nur und eher traurig, aber Sarah war so erleichtert darüber, dass sie sein Lächeln freudig erwiderte. „Ich würde Ihnen vielleicht sogar verzeihen, wenn ich nur wüsste, was...“, schob er nach und Sarahs Lächeln verschwand wieder. Jetzt kam der schwierigste Teil.

      „Ich...“, stotterte sie. „Ich... Also, Sie...“ Sarah spürte Marcos erwartungsvollen Blick auf ihren Lippen ruhen und wand sich darunter wie ein sterbender Fisch. Nun war es zu spät. Sie hatte sich entschieden, hier her zu kommen und nun war sie da. Es gab kein Zurück mehr. Sie musste es aussprechen.

      Sarah tat einen tiefen Atemzug und dann stieß sie ihre Antwort hervor: „Ich möchte Sie um Verzeihung bitten, weil ich es war, die Sie angefahren hat!... Also, indirekt jedenfalls...“

      Schweigen.

      Sarah hielt die Luft an. Ängstlich blickte sie in Marcos Augen, die sich überrascht weiteten. Sie versuchte darin eine Antwort oder eine Reaktion lesen zu können, doch es gelang ihr nicht.

      Marco hatte mit vielem gerechnet. Er hätte dieser Sarah abgenommen, vom Sozialdienst zu sein und mit ihm über seine Zukunft sprechen zu wollen. Er hätte ihr auch die Psychologin zugetraut, die mit ihm über seine Vergangenheit sprechen wollte. Aber er hätte niemals geglaubt, dass sie diejenige war, die Schuld an seiner persönlichen Hölle trug.

      Fassungslos starrte er sie an, unfähig einen klaren Gedanken zustande zu bringen. Sarah. Dies war also der Name für sein Unglück. Ein junges, zierliches Mädchen mit blondem, dickem Haar, das ihr in langen Wellen über die Schultern fiel, und großen braunen Augen. So niedlich und harmlos, so unberührt vom Leben und doch schon so schrecklich schuldig.

      Marcos Herz begann abrupt zu rasen, die Empörung in seiner Brust zu wühlen. Der Atem blieb ihm weg und er musste ihn bewusst tief einziehen. Er fühlte sich plötzlich zutiefst gedemütigt. Da stand sie, Sarah, das grausame Schicksal zu Fleisch und Blut geworden, und schaute betroffen auf ihn nieder. Betroffen und mitleidig. Mitleid!

      In Marcos Bauch brodelte es, heiß und explosiv. Ein fest verschlossener Topf, der schon viel zu lange über dem Feuer hing und nun dem Überdruck nicht mehr lange standhalten konnte.

      Plötzlich lachte er. Es kam einfach aus ihm heraus. Die Situation war so absurd, so unrealistisch, so lächerlich. Und je verwirrter Sarah ihn dabei ansah, desto mehr lachte er, während ihm gleichzeitig die Tränen in die Augen traten. Tränen der Wut, die das Lachen auffraßen und schon bald wieder ersterben ließen.

      „Ich glaube“, sagte er schließlich, „das ist kein guter Zeitpunkt, den Sie gewählt haben, Sarah Rosen. Ich glaube, Sie werden damit nie einen geeigneten Zeitpunkt finden, denn das, was Sie mir angetan haben, kann ich Ihnen nicht verzeihen.“ Der Überdruck stieg. „Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Sie angerichtet haben? Wissen Sie, was Sie aus mir und meinem Leben gemacht haben?“ Der Topf war nun dem Zerbersten nah. „Wissen Sie das?!“ Marcos Stimme war inzwischen laut geworden und Sarah schüttelte nur verschüchtert den Kopf, das Entsetzen in ihren Augen. Marco hätte sich gerne aufgerichtet, um dieser Person auf halbwegs gleicher Höhe zu begegnen, aber er musste liegen bleiben und zu ihr hinaufschauen. Er war gezwungen dazu und sie war schuld daran. Dennoch versuchte er, sich ein wenig mit seinen Ellenbogen abzustoßen und den Kopf zu heben. Dabei kam er sich so hilflos vor, dass seine ohnmächtige Wut sich noch steigerte.

      „Nein, das können Sie nicht wissen. Sie sind zu arglos dazu. Zu gedankenlos, zu rücksichtslos, zu naiv! Aber ich will es Ihnen sagen: Sie haben es zerstört! Komplett in den Boden getrampelt und noch draufgepisst!“ Marcos Stimme drohte zu kippen. Er schleuderte seine Worte Sarah entgegen, die davor zurückwich, als seien es scharfe Messer.

      „Ja, Sarah, du kleines Mädchen, geh nur! Geh, denn du kannst es ja wenigstens noch. Geh weg, verlasse mein Zimmer und komme nie wieder. GEH, hörst Du? HAU endlich AB!“, schrie er sie zuletzt an und sah mit bitterer Genugtuung zu, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Endlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung, drehte sich um und stürmte fluchtartig aus dem Zimmer. Marco konnte noch ihre Schluchzer vom Flur zu sich hereindringen hören und es erfüllte ihn mit Befriedigung. Gleichzeitig aber hasste er sich auch dafür, denn er erkannte sich gerade selbst nicht wieder.

      Sarah hatte sich alles ganz anders vorgestellt. Ja, dieser Marco hatte wohl recht, sie war naiv. Sie hatte allen Ernstes gehofft, ihm irgendwie erklären zu können, dass es ja keine Absicht gewesen war und dass es ihr wegen des Unfalls so schlecht ging, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte wirklich gehofft, dass sie etwas für ihn hätte tun können. Oh Gott, dachte sie nun, wie dumm war ich bloß!

      Das schlimme aber war, dass sie Marco verstehen konnte. Sie wusste, was der Name der Station bedeutete, auf der er gerade lag, und ihr Verdacht wurde durch seine Äußerung, dass sie ja wenigstens noch gehen könne, nur bestätigt: Er konnte es nicht mehr. Nie mehr... Und noch schlimmer: wenn sie an dem besagten Abend nicht zu spät gewesen wäre, hätte er es jetzt noch gekonnt.

      Als nun Marcos geballter Zorn auf sie niedergegangen war, hatte sie das Entsetzen gepackt. Sie war entsetzt über das, was sie angerichtet hatte und nie wieder gut machen können würde. Sie hatte ein Leben ruiniert! Und nun fiel ihr nichts Besseres ein, als davon zu laufen, gejagt von Marcos Worten, die sie mitten ins Herz getroffen hatten und sie gnadenlos verfolgten.

      Sie hatte ihre Schluchzer gerade noch so lange zurückhalten können, wie sie brauchte, um aus dem Zimmer zu fliehen. Dann aber wurde sie von ihnen überwältigt. Sarah taumelte zur gegenüberliegenden Wand, hielt sich dort an der Haltestange fest und gab ihnen nach. Hätte sie in diesem Moment über sich nachdenken können, ihr wäre dieses ganze Unterfangen furchtbar peinlich gewesen. Nun aber war ihr alles egal.

      Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte, schreckte sie aus ihrem Gram. Ein Mann, sicherlich um die dreißig, braunes Haar und dunkle Augen, stand neben ihr und lächelte sie mitfühlend an.

      „Alles okay?“, fragte er sie besorgt.

      Sarah nickte, noch unfähig zu sprechen.

      „Ich habe Sie aus dem Zimmer stürmen und weinen sehen... Da dachte ich, ich frage mal nach.“

      Sarah