sie alle vor und neben mir und grinsten mir hämisch zu. Und noch erschreckender empfinde ich plötzlich, wie chaotisch ich war und bin. Ich habe an jeder Unordnung reichlich mitgewirkt. Immerzu habe ich die Liebe verloren und mich selbst samt die anderen dafür bestraft. Ich kann ihn hören, im Hall sogar. Immer deutlicher kann ich ihn hören, den Schrei nach Entschiedenheit.“ Demonstrativ, mit aufgerissenen Augen, sah ich sie an. „Das denke ich gerade.“
Überfordert nahm sie einen kräftigen Schluck aus ihrem Weinglas, streckte ihren Hals zu mir herüber und schüttelte den Kopf. „Okay,“ antwortete sie derart lang gezogen, weil ihr eine sofortige Antwort, für die gerade sie stets stand, unmöglich war.
Eine Weile sprachen wir kein Wort, bevor ich ihre Hand griff. „Ich mag dich. Aber bitte! Lass’ uns über etwas anderes reden! Du bist ihre beste Freundin. Und ich bin kein Narr.“
Wieder artikulierte sie ihr Einverständnis mit jenen in Länge gezogenen Silben, obgleich Neugier in ihren Augen funkelte.
Uns verband aufs Neue eine Form der Wortlosigkeit, die aber zu halten deswegen nicht unangenehm war, weil sich die Einsicht um die Unmöglichkeit eines aufrichtigen Gesprächs endgültig eingestellt hatte.
„Hast ja Recht. Eve würde auch nicht wollen, wenn wir hinter ihrem Rücken über sie herziehen würden. Aber eine Frage habe ich noch?“ Sie beugte sich zu mir hervor und genoss sichtlich ihre kleine Provokation, weil sie mir mit dieser Pose ihre Brüste nun vollkommen vor Augen führte.
„Lass’ hören!“ gab ich ohne jede Überlegung zurück.
„Wer ist die eine andere Frau, an die du denkst?“
Ich konnte nicht anders. Augenblicklich brach lautes Gelächter aus mir hervor. „Die bist du. Wer denn sonst?“ schob ich nach, als ich mich wieder beruhigt hatte.
„Ja, ja! Ist klar.“
„Eve wollte diese Auszeit,“ bemerkte ich im Bemühen den Gehalt unseres Gesprächs zu versachlichen, nachdem der Kellner zwei neue Weingläser gebracht und damit für eine wohltuende Unterbrechung gesorgt hatte. „Und die Gelegenheit nutzen, sich darüber klar zu werden, was der eine an dem anderen hat.“
Die folgende Stunde unserer Unterredung versank im Meer allgemeiner Belanglosigkeiten. Karo war schlau, dachte ich bisweilen. Karo war ein Luder, dachte ich in anderen Momenten. Auf jeden Fall war sie Eves beste Freundin. Mit roten Lippen und tief geschnittenem Top wollte sie tatsächlich glänzen, wie sie offenbarte. Sie war nicht auf der Suche. Aber es könnte ja geschehen, wie sie schluchzte. Dass ihr ein cooler Kerl begegnete, einer, der ihr Interesse und mehr reizte, einer, der einen Ritt ins Abenteuer wert wäre. Dann würde sie sich ärgern, wenn sie nicht wenigstens ein kleines bisschen darauf vorbereitet gewesen wäre. Karo war eindeutig auf der Suche nach dem Einen von Zehn von Hundert, schoss es mir ins Hirn, als sie sich selbst, und nach ihrer Meinung die Frauen ganz grundsätzlich, in ihrem Auftreten und Spielverhalten erklärt hatte.
Und doch. Die Wahrheit war eine andere. Ich war tatsächlich ein Narr. Denn dass sich Karo mit mir verabredet hatte, weil sie tatsächlich mehr von der Frau wusste, die ich liebte, die aber gleichzeitig so wenig dafür tat, dass ich es beruhigt tun konnte, und dass sie bereit war ihre Freundschaft zu riskieren, weil sie an dem Glück dieser Frau interessiert war, lag fern ab jeder meiner Wahrnehmung. Für meine Beschränktheit im Zustand meiner Schmerzen sollte ich noch bitterlich büßen.
Ich verharrte. So hatte ich ihn noch nie gesehen, so nahe, wie ich auf ihn blicken konnte, war ich ihm noch nie gekommen. Alle morgendlichen Routinen wie Einzelfrühstück und Körperhygiene waren erledigt. Zwei Glas Wein hatte ich am Abend zuvor mehr gehabt als Karo, die plötzlich vorgegeben hatte, sich für den Arbeitstag schonen zu müssen. Von der Nacht hatte ich nichts mitbekommen. Demnach durfte ich davon ausgehen, dass ich sie einigermaßen ruhig verbracht hatte.
Nun stand ich im Schlafzimmer Kopf, eine Stellung, die ich gelegentlich, vornehmlich während einer Schreibphase, aufsuchte, um aus anderer Perspektive einen neuen Zugang zu erlangen. Ich war nackt. Und mein ständiger Begleiter hing befriedet meinen Bauch entlang in einer Position, von der ich nach reiflicher Überlegung sagen durfte, dass sie genauso ungewollt wie einmalig war. Je länger ich auf ihn schielte, desto mehr verkrampften sich Muskeln. Eine Frage war so überraschend aufgekommen, dass ich mir selbst mit der ersten Suche nach einer Antwort attestierte, endgültig verrückt geworden zu sein. Wie oft schon war ich in eine Frau eingedrungen? Noch unerklärlicher war mir, dass ich diese Frage fortan nicht mehr aus dem Kopf bekam. Wie oft hatte er dort gesteckt, wo nach der Rückkehr früher oder später doch nur Unheil auf mich wartete? Ich ergab mich schließlich. In böser Vorahnung, wieder aufrecht, mit seiner Verhüllung und einem neuen Kaffee, begann ich, zunächst eher zaghaft, dann energischer um ein verlässliches Ergebnis bemüht, zu bilanzieren.
Meine Rechnung war schockierend. Siebenunddreißig Lebensjahre. Sieben Jahre in festen Händen. Mit sechzehn hatte es begonnen. Machte demnach vierzehn Jahre, in denen ich zwei bis drei im Monat, also etwa dreißig im Jahr... Es waren hunderte. Überschlägig über vierhundert. Frauen. Frauen, Menschen also, keine Euro, keine Mark und auch keine Kilometer. Ich war fassungslos. Das konnte nicht sein. Doch es war so. Etwa fünfzig einstige Gespielinnen fielen mir auf Anhieb namentlich ein, als ich das Alphabet innerlich nach ihren Namen durchgegangen war, etwa doppelt so viele befanden sich in dem Speicher meines alten Telefons.
Über all die Jahre fiel ich, erneut vorsichtig geschätzt, drei- bis viermal die Woche allein in Bars hinein und oft zu zweit wieder hinaus. Blieb der Kontakt zu jenen Mädels aufrecht, erweiterte sich der Kreis williger Frauen noch einmal, nämlich dann, wenn die Freundinnen in mein Beuteschema passten. Das Spiel mit dem anderen Geschlecht war ein Sport geworden, über Jahre vervollkommnet, für das es aber weder einen Lohn noch einen Preis gegeben hatte. Allein die Akzeptanz war meine Vergütung. Hamburg bot die besten Reviere. Kiez, Schanze, Hamburger Berg, Eppendorf, Neustadt, Eimsbüttel – es gab nicht eine Bar, die ich nicht kannte. Nach kurzer Zeit wusste ich, welcher Frauentyp wo bevorzugt verkehrte, was sie mochte und was sie gerne hörte, stellte Mann sich ihr vor. Ein paar Drinks reichten meistens, um Zunge und Zweifel zu lösen.
Mir fielen meine Auslandsaufenthalte ein, Polen, Dänemark und England, wo ich ein paarmal für jeweils einige Wochen als Journalist gearbeitet hatte. Die Frauen dort waren unverkrampfter, weiblicher und vor allem unkomplizierter als in der zwischenmenschlichen Wüste Norddeutschland samt ihrer so genannten Weltstadt. Ich erinnerte mich an Dreharbeiten auf Jamaika, wo die Nächte anstrengender waren als die Tagesleistung. Auch drei Jahre Los Angeles waren entgegen allen gemeinhin geäußerten Bekundungen von angeblich typisch amerikanischer Prüderie eine Hochburg der Lust gewesen. Wieder angekommen bei jenem hohen Beischlafergebnis, das mich selbst gehörig verblüfft hatte, zählte ich die Begegnungen hinzu, die ich zu meinen Zeiten als Fotograf vor der Linse und im Bett hatte und addierte sie mit denen, die ich in zahlreichen Urlauben auf Ibiza, Mallorca, Tarifa oder sonst wo besamt hatte. Mitunter war es vorgekommen, dass ich an einem Wochenende mit zwei Frauen intim geworden war, innerhalb eines Tages.
Der Anzahl gehabter Frauen setzte ich die entgegen, mit denen ich mir hätte vorstellen können, sie zu ficken, es aber nicht tat, weil sie mich nicht wollten. Meine Rechnung durfte nicht stimmen, dachte ich und versuchte gewisse Fehlzeiten anzurechnen, wenn ich beispielsweise von morgens bis spät abends gearbeitet hatte und aufgrund von Krankheit, Muskelkater oder Lustlosigkeit einfach Zeit und Kraft fehlten. Das beruhigte zwar, änderte aber an dem Zahlenwerk so gar nichts. Die Vermutung lag nahe, dass es durchaus noch ein paar mehr gewesen waren.
Eine ganze Weile dachte ich über das Wort nach, das beschrieb, was ich derart oft getan hatte. Ich hatte gefickt. Ficken war vulgär, doch von der Allgemeinheit so selbstverständlich verstanden wie gebraucht, dass diese Bezeichnung sogar im Duden stand, als derbe Formulierung für Koitus. Ich konjugierte koitieren, konnte diesem Synonym aber für den Sprachgebrauch im Alltag so wenig abgewinnen. Ficken als Morphem war Lust. Ficken war Begierde, Ficken war Trieb. Schnell und befriedigend, rücksichtslos und so leicht zu haben wie eine beliebige Ware unserer Wegwerfgesellschaft. Im Gegensatz dazu liebte man sich, schlief miteinander oder vollzog Beischlaf. Ein paar Gedanken später war ich mir sicher, das, was ich so oft vollzogen hatte, weiterhin schamlos als Fick zu bezeichnen, denn mit der