Achim Grauer

Occupys Soldaten


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die beiden Anschläge zeitnah aufgetreten sind und die Täter in beiden Fällen aus der selben Ecke kommen, gehen wir von einer konzertierten Aktion verschiedener Terrorzellen der Occupy Soldaten aus.“

      Rodgaus machte eine Pause, als müsse er kurz nachdenken. Wobei sich Jack sehr sicher war, dass Rodgaus das auf diesem Level der Gesprächsführung nicht nötig hatte. Das hier war eine Inszenierung.

      „Außerdem ist Franz von Moor, der erst kürzlich die Leitung der Bank von seinem Vater übernommen hat, unauffindbar.“, fuhr Rodgaus fort. „Was den Schluss nahe legt...

      „... das er ebenfalls entführt wurde.“, vollendete Jack den Satz und schwieg betroffen.

      Es trat eine kurze Pause ein, in der ein jeder der drei Männer seinen Gedanken nachzuhängen schien. Jack sah aus dem Augenwinkel Xavier, der es irgendwie geschafft hatte, den grauen Grundfarbton des Raumes anzunehmen und sich kaum noch vom Hintergrund abhob. Offensichtlich hatte er beschlossen, dass es das Klügste war, sich einfach ganz aus dem Gespräch herauszuhalten.

      „Unser eigentliches Problem sind weniger die beiden entführten Bankenvorstände.“, nahm Rodgaus den Faden wieder auf.

      „Das sind systemimmanente Kollateralschäden von geringer Bedeutung. – Ihre Nachfolger können es kaum erwarten, zum Zug zu kommen.“

      Zynismus pur, dachte Jack angewidert.

      „Unsere Hauptsorge gilt den Sympathisanten der Occupy Soldaten und der öffentlichen Meinung, die unseren Experten zu Folge langsam zu kippen droht.“

      Reine Panikmache, Herr Kriminaloberrat, schoss es Jack durch den Kopf. Tatsächlich gab es inzwischen kaum eine Talkrunde mit den ewig gleichen Experten, die sich nicht lang und breit über das Phänomen „Occupys Soldaten“ ausließ. Ein besonders geschickter TV-Versimplifizierer sprach gar schon von einem von Islamiten gesteuerten „Europäischen Flächenbrand“.

       Eine perfekt getimte Inszenierung.

      Die Schamlosigkeit mit der hier Ängste geschürt wurden, war ganz schön dreist. Stellte sich die Frage:

       Wem nütz das alles?

      „,Der Exekutiven“, fuhr Rodgaus fort, „sind bedauerlicher Weise die Hände gebunden, da der einzige Mensch, der uns weiterhelfen könnte, von seinem Recht zur Zeugnisverweigerung gebrauch macht.“

       Was sie sehr verdächtig und extrem interessant macht.

      „Hören Sie Rodgaus, es tut mir leid, wenn ich vorhin etwas aufbrausend reagiert habe, aber ich habe eben gerne die Wahl und möchte vorher wissen, worum es geht.“ Es war ein Friedensangebot.

      „Ehrlich gesagt hab ich nämlich immer noch keinen blassen Schimmer, wie ich ihnen helfen soll?“

      „Indem Sie sich mit unserer Unbekannten unterhalten und versuchen herauszufinden, was Sie gesehen hat, wie Sie in die Geschichte verwickelt ist, oder was Sie vor uns verbergen möchte.“ Rodgaus nickte unmerklich in Richtung der Papiere, trat aus dem Lichtfächer und schickte sich an, den Raum zu verlassen.

      „Ich soll...?“ Jack war für einen Moment sprachlos, fing sich aber sofort wieder.

      „Ich dachte Sie will mit niemandem reden.“

      Rodgaus wand sich in der Tür noch einmal halb um.

      „Sie besteht darauf mit Ihnen und nur mit Ihnen zu sprechen, Herr Kosinski.“

      War da tatsächlich so etwas wie ein gequälter Ton in Rodgaus Stimme zu hören gewesen, oder hatte er sich das nur eingebildet? Jacks Gedanken überschlugen sich.

      Der Folterknecht braucht Dich, Jack. Das änderte natürlich alles. Jack musste grinsen, als ihm bewusst wurde, dass er am längeren Hebel saß.

      Rodgaus war von Ihm abhängig. So sah’s aus.

      Deshalb hatte der auch die Nummer mit der Weisungsbefugnis und dem Nationalen Notstand abgezogen. Um ihn zu beeindrucken. Und es hatte ja auch geklappt, das musste Jack neidlos anerkennen. Aber der Wunsch der Sirene hatte das Blatt gewendet und zugegebener Maßen Jacks Eitelkeit gekitzelt.

      Als habe Rodgaus seine Gedanken gelesen, nahm der das Gespräch wieder auf.

      „Erzielen Sie Ergebnisse, Jack. Und zwar schnell. Sonst kann ich nicht für die Würde unserer stummen Freundin garantieren.“

       Was hieß das jetzt schon wieder? Wollte Rodgaus ihm etwa weismachen, dass er ernsthaft vorhatte sie zu foltern, falls Jack nicht mitspielte oder versagte?

      Jack konnte es nicht glauben. Deutschland war doch nicht China oder Russland. Und Frankfurt war definitiv nicht Guantanamo.

      „Ich sehe Sie in einer halben Stunde im Präsidium in der Adickesallee, Herr Kosinski. – Ihr Fahrer wartet bereits vor der Tür“, beendete Rodgaus das Gespräch ungerührt, dann war er beinahe lautlos gegangen.

       Make my day.

      Quid pro quo

      In der wohlig warmen Dunkelheit seiner Besinnungslosigkeit waren plötzlich unzählige Arme, die ihn aufhoben und behutsam in eine kühlende, duftende Flüssigkeit legten. Stimmen murmelten an seinem Ohr wie Sirenen, denen er mit Wonne gefolgt wäre, hätte er noch Macht über seinen Körper gehabt. Seine tränenden Augen wurden mit einer ätzenden Tinktur benetzt, die ihn beinahe ins Bewusstsein zurückgeholt hätte, aber schließlich eine Linderung und Beruhigung der malträtierten Netzhaut brachte. Er spürte einen Stich in der Armbeuge und eine brennende Schlange kroch durch seine Adern dem Herzen zu, das zu platzen schien, als sie es erreichte. Dann verlor er endgültig das Bewusstsein und eine wohltuend gefühllose Finsternis bedeckte seine Qualen wie ein seidenes Leichentuch. Aber nur für einen kurzen Moment.

      Große braune Kinderaugen blickten ihn traurig aus einem Schädel an, der nur noch mit einer pergamentartig dünnen Haut bespannt war. Der Kopf wackelte kraftlos in den Armen der Frau, deren Brüste wie leere Tüten schlaff an ihrem ausgemergelten Körper hingen. Anklagend sah sie zu ihm auf. In ihrem Gesicht arbeitete es. Ihm wurde schlecht, als er sah, wie sich das Fleisch unter der Haut bewegte, als suchten kleine Maden darin einen Unterschlupf. Er wollte den Kopf abwenden.

      Aber es gelang ihm nicht.

      „Kennen Sie Milton?“, zischte eine Stimme an seinem Ohr. Verwirrt hielt er Ausschau nach dem Sprecher, konnte ihn aber nicht ausmachen. Als er wieder auf die Mutter mit ihrem Kind hinab sah, grinste ihn eine Maske an, die er kannte. Er hatte sie schon einmal irgendwo in einem früheren Leben gesehen.

      Eine Massai? Eine Zulu? – Nein! Aber eigentlich war es auch egal. Wie inzwischen alles egal geworden war.

      „Kennen Sie Milton?“, fauchte die Maske jetzt bedrohlich und hielt ihm das Kind unter die Augen. Jede Rippe trat anklagend aus seinem Leib hervor, als gelte es, einem weltweiten Publikum noch zu Lebzeiten Einblicke in das Leiden eines ganzen Kontinents zu gewähren.

      Es ist genug, wollte er rufen und hätte beinahe laut aufgelacht.

      Es ist genug! So nimm, Herr, meinen Geist zu Zions Geistern hin, dröhnte Bachs Kantate in seinem Schädel. Lös auf das Band, das allmählich reißt. Befreie diesen Sinn, der sich nach seinem Gotte sehnet, der täglich klagt und nächtlich tränet: Es ist genug!

      

      Wie hatte er diese unbeschreiblich schöne geistliche Musik und insbesondere Bach immer verehrt. Hier hatte er ein seelisches Erlebnis gehabt, das ihm die Kirche nie hatte geben können. Ein Bedürfnis, das sein Intellekt immer verachtete hatte und das er sich nur unter dem Deckmantel des Kunstgenusses erlaubt hatte. Denn eigentlich war er Atheist. Oder wie er scherzhaft zu sagen pflegte, ein wertorientierter Christ. Aber tief in seinem verborgensten Wesenskern sehnte er sich nach Absolution und der Geborgenheit, die er nicht einmal als Kind gespürt, aber immer erahnt hatte.