Achim Grauer

Occupys Soldaten


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      Er hatte Xavier unterschätzt. Und wie er ihn unterschätzt hatte. Vielleicht steckte ja doch mehr hinter dieser Opportunistenfassade als er vermutet hatte. Gerade als Jack sich mit diesem Gedanken anzufreunden begann und Anstalten machte aufzustehen, meldete sich Xavier wieder zu Wort.

      „Hatten Sie schon einmal ein Déjà-vu, Jack? Hatten Sie schon einmal das Gefühl, eine Situation schon einmal erlebt zu haben, obwohl Sie ganz genau wissen, dass Sie sie gerade zum ersten und einzigen Mal erleben? Kennen Sie das Gefühl, genau zu wissen wie es weitergehen wird? Unaufhaltsam, unveränderbar? Esoteriker sprechen von Parallelwelten, der Gleichzeitigkeit divergenter Multiversen, die uns die Chance geben unsere Zukunft zu verändern. Zu pendeln zwischen den Welten.“

      Jetzt war Xavier endgültig übergeschnappt.

      Da war Jack das eiskalte Opportunistenarschloch doch bedeutend lieber. Aus diesem Gefasel hier konnte er sich keinen Reim machen.

       Worauf lief das hinaus? Sollte es noch eine Steigerung zur Schwangerschaftsvertretung geben? War das die etwas abgedrehte Einleitung dazu?

      Er sah Xavier an. Aber er konnte keinen ustinovschen Kaiser-Nero-Anflug in seinen Gesichtszügen erkennen. Stattdessen lächelte Xavier versonnen vor sich hin und fuhr im Brustton der Überzeugung fort:

      „Sehen Sie Jack, ich habe auch eine Vision. Und in dieser Vision werde ich zum Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt gewählt. Ich bliebe dann zwar faktisch noch Ihr oberster Dienstherr, hätte aber natürlich nichts mehr mit dem Tagesgeschäft zu tun.“

      Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen ehe er den Faden, nun etwas sachlicher, wieder aufnahm.

      „In dieser win win Situation wären Sie ihren unbequemen Vorgesetzten los und ich müsste mir nicht mehr jeden Tag Ihre unintelligenten, infantilen und primitiven Machosprüche anhören. “

      O.K., dass hatte gesessen. Aber was war denn bitteschön so falsch daran? Was konnte er denn dafür, dass der Rest der Menschheit offensichtlich ganz zufrieden damit war, die Schnauze zu halten, alles abzunicken und die nächste Gehaltsstufe zu erklimmen.

      Gerade als Jack Xavier ironisch „Meine Stimme haben Sie, Herr Direktor“ entgegnen wollte, schoss der plötzlich unvermittelt aus seinem Chefsessel auf Jack zu. Fast hätten sich ihre Nasenspitzen berührt und Xavier zischte gefährlich leise:

      „Und genau aus diesem Grund werden Sie das bisschen Sozialkompetenz, das Sie haben, in die Waagschale werfen und ihrem Neandertalerhirn für die Dauer der Zusammenarbeit mit dem BKA Freigang geben. Sie werden zum allseits gelobten und geachteten Botschafter meiner, unserer Feuer- und Rettungswache 1 mutieren und das BKA in allen Belangen unterstützen oder die Schwangerschaftsvertretung für die Gladbeck wird ihr geringstes Problem in den nächsten 20 Jahren ihrer Dienstzeit werden.“

      Nach einer kleinen Pause richtete sich Xavier hinter seinem Schreibtisch wieder auf. Auf der lederüberzogenen Platte des imposanten Möbels zeichneten sich die Umrisse seiner beiden Hände ab.

      Feingliedrige Pianistenhände, wie Jack registrierte.

      „Ich habe keine Ahnung, wie das BKA auf die absurde Idee kommt, Sie könnten denen helfen. Und es ist mir im Grunde auch vollkommen egal. Ich will nur, dass Sie sich so gut wie möglich verkaufen, haben wir uns da verstanden.“

      Xavier wartete nicht einmal Jacks Reaktion ab, sondern riss bereits die Tür auf und stürmte ihm voran aus dem Büro in Richtung Konferenzraum 1.

      An der Tür zum Treppenhaus schloss Jack wieder zu Xavier auf, konnte sich aber eine kleine Spitze nicht verkneifen.

      „Aus dem Besuch bei Dr. Jansen wird dann wohl nichts mehr...“

      Aber Xavier hatte Jacks Anwesenheit offensichtlich vollkommen ausgeblendet oder es war ihm schlicht zu albern auf diese neuerliche Stichelei einzugehen. Das gab Jack Gelegenheit, über die Entwicklungen der letzten Minuten nachzudenken und etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Wäre da nur nicht sein Schienbein gewesen, das bei jedem Schritt höllisch schmerzte.

       Bestimmt hatte Xavier absichtlich den Aufzug links liegen gelassen um ihn zu quälen.

      Andererseits war Xavier für seinen Fitnesswahn bekannt. Es würde Jack nicht überraschen, ihn auf der Teilnehmerliste des Empire State Building Treppenlaufs wieder zu finden.

      Worauf er sich aber keinen Reim machen konnte, war diese BKA Anfrage. Grübelnd humpelte er hinter Xavier dem Konferenzraum 1 entgegen.

      Zurück im Spiel

      Schweißperlen standen auf seiner Stirn, sammelten sich an der Nasenwurzel, liefen über seine markante Nase und fielen in stetem Strom lautlos vor ihm auf den graugelb gesprenkelten Linoleumfußboden. Der Wischmob schwang in monotoner Regelmäßigkeit über sie hinweg und nahm sie in den reinigenden Fluss seiner Bewegungen auf. Schlup – Schlup, Schlup – Schlup, Schlup – Schlup. Meter für Meter arbeitete sich Franz an den Zellen des Frankfurter Polizeipräsidiums entlang. Dabei achtete er sorgfältig darauf, dass sein Gesicht unter der Dienstmütze des Reinigungspersonals verborgen blieb. Die Augen schützte eine getönte Brille. Seine Haut schimmerte vom Rauch der vergangenen Nacht ungepflegt rot, als hätte er die letzten Jahre unter einer der zahlreichen Mainbrücken verbracht. Seine Bewegungen waren mechanisch und für einen flüchtigen Beobachter unterschied er sich in nichts von den Kollegen der Putzkolonne. Ein Blick in seine zugedröhnten Augen hätte allerdings genügt, um ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit für lange Zeit hinter den dicken Stahltüren des Gefängnistraktes verschwinden zu lassen. Denn die blitzten vor größenwahnsinniger Euphorie. Die Pupillen waren vom Rauch der letzten Nacht gerötete und auf Stecknadelkopfgröße geschrumpften.

      

      Er würde diese kleine Schlampe finden. Und dann würde er dafür sorgen, dass sie ihr verdammtes Hurenmaul ein für alle mal halten würde. Aber vorher würde er sie noch sehr eindringlich nach seinem sauberen Herrn Bruder befragen.

      Der Hass, der in ihm aufloderte, als er an Karl dachte, überschwemmte sein von Koks und Paracetamol ohnehin schon ins Nirwana gepuschte Gehirn und schüttete eine gigantische Welle Adrenalin in seinem Körper aus. Dieser Cocktail aus künstlichen und körpereigenen Drogen hielt ihn aufrecht und am Leben. Er spürte den mörderisch schmerzhaften Schulterdurchschuss nicht mehr. Er nahm die Wunde nicht einmal mehr ansatzweise als Handicap wahr. Im Gegenteil, er hatte sich noch nie besser gefühlt.

      Vor den Zellen standen die Schuhe der Gefangenen. Nicht etwa, weil der Service hier so gut gewesen wäre und jedem Häftling ein Paar gesäuberter Schuhe pro Tag zustand, sondern weil – Vorschrift im Strafvollzug – verhindert werden sollte, dass die Weggeschlossenen mit den Schnürsenkeln ihrem Dasein ein vorzeitiges Ende setzten.

      Franz bedachte jedes Paar mit einem kurzen, prüfenden Blick. Männerschuhe ließ er links liegen. Bei erkennbar weiblichem Schuhwerk riskierte er einen unauffälligen Blick ins Innere der Zelle. Er würde sie finden. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

      „Meine goldenen Träume.“ Franz kicherte verhalten in sich hinein. Er hätte brüllen können vor Lachen. Aber er hatte ja noch einen Auftrag. Der Feudel flog förmlich von einer Seite zur anderen. Ein irres Grinsen fraß sich in sein Gesicht, als er leise „Pack die Badehose ein...“ zu pfeifen begann.

      

       Halte aus Schwesterlein. Dein Erlöser ist nah.

      Stare down mit Armin Rodgaus

      Endlich hatten sie den Konferenzraum erreicht. Die Tür stand offen und gab den Blick frei auf die spärliche Einrichtung und den in öffentlichen Gebäuden unvermeidbaren grauen Teppich.

       Irgendjemand verdiente sich da eine goldene Nase.

      An den Wänden hingen verschiedene Karten Frankfurts