Jonah Zorn

Menschlich


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antwortete sie ihm bereitwillig. „Erst mal nur fünfzehn, um in der Probezeit nicht zu übertreiben.“

      „Wie viele hatten sich den beworben, wissen Sie das zufälligerweise?“ Durchgehend machte er sich Notizen auf einem Block; seine Schrift jedoch konnte sie auf Kopf nicht entziffern. Schon von Kindesalter an war sie chronisch neugierig und sie wusste auch von da an, wie sie mit gewissen Taktiken an die gewünschten Informationen kam.

      „Mehr als dreißig, wenn ich mich nicht irre.“

      „M-hm.“ Meinte der Kommissar nur knapp, um ihr danach einen tadelnden Blick zuzuwerfen, weil sie ständig auf sein Geschriebenes linste. Sie lächelte unschuldig.

      „Was haben Sie als ‚Young Adult’ zu tun?“

      „Alles.“

      „Genauer.“ Einmal wollte sie Strenge in seiner Stimme hören. Innerlich lächelte sie, äußerlich zuckte keiner ihrer Muskeln.

      „Das Problem der Kinder ist, dass sie Eltern haben, die sich nicht um sie kümmern. Das zweite Problem ist, dass diese Eltern nicht diese gewisse Grenze überschreiten um sie deswegen zur Rechenschaft zu ziehen. Da kommen die ‚Young Adults’ ins Spiel. Während die Justiz…“ Sie machte eine bildhafte Pause zum Atmen. „…völlig versagt, versuchen wir den Kindern zu helfen und ihnen eine sichere Zukunft zu sichern.“

      „Sehr edel.“ Das verärgerte sie. „Es ist eine gute Sache. Außerdem erfordert es viel Kraft von den Verantwortlichen.“

      „Ihr Schützling ist Lauren Winkler, richtig?“ Wechselte er das Thema offensichtlich.

      „Ja genau.“

      „Kannten sich Lauren und Charlotte von Langen, der Schützling von Mia-Sophie?“

      „Sicherlich, jeder, der in das Projekt integriert ist, kennt auch die anderen. Wie eine Familie.“

      „Wie eine Familie…“ Wiederholte er und änderte wieder das Thema. „Ist Ihnen aufgefallen, dass Mia-Sophie einige Tage verschwunden war, so in der Familie?“ Seine Andeutungen erfreuten sie nicht wirklich, das wusste er. Aber sie war auch gefasst genug um zu wissen, dass er das extra machte. „Was meinen Sie?“

      „Das Verschwinden von Frau Seidel hat ein Ende. Sie ist aufgetaucht. Heute Morgen. Sie ist tot, Frau Cavillo. Ermordet.“ Der Keks der gerade zu ihrem Mund wandern wollte, hielt inne. Ihren Mund, den sie bereits geöffnet hatte, blieb noch kurz offen, dann schloss sie ihn um mit pochendem Herzen. Sie war völlig perplex.

      „Es tut mir sehr leid um Ihre Freundin.“

      „Ja…ja.“ Stammelte sie. „Aber das kann doch nicht sein.“ Unwillkürlich fasste sie sich an ihren Hals, erst dann versuchte sie sich wieder auf den Kommissar vor ihr zu konzentrieren. Nochmals fragte er nach, ob sie sich erinnern konnte, ob ihr das Fehlen von Mia-Sophie in der Gruppe aufgefallen war. Sie versuchte die letzten Tage irgendwie Revue passieren zu lassen und tatsächlich da war nie eine Erinnerung an Mia-Sophies Anwesenheit.

      „Sie…Sie haben Recht, ich habe sie bestimmt schon einige Tage nicht mehr gesehen.“ Ruby konnte es kaum fassen, dass es augenscheinlich niemanden aufgefallen war. Und nun das!

      „Können Sie sich erklären woran das gelegen haben kann?“ Unbeholfen rutschte sie von der Küchentheke herunter und bemühte sich mit zittrigen Händen die Keksdose zurückzustellen.

      „Ich…ich kann es mir nur so erklären, dass es niemandem aufgefallen war, weil es nicht verpflichtend ist sich zu melden. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man länger von einem Mitglied nichts hört.“

      „Wissen Sie ob sie Feinde hatte?“

      „Ich kannte sie nicht so gut. Ich würde unsere Beziehung wie die von Kollegen bezeichnen.“

      Dazu sagte er nichts. „Kam sie Ihnen irgendwann anders vor. Verschreckt, ängstlich?“

      „Es ist schon länger her, aber nein. Bei den Besprechungen war sie wie immer.“

      Er machte sich ein letztes Mal Notizen, dann erhob er sich abrupt. „Danke vorerst…“ meinte er im Gehen, „…wenn ich noch Fragen an Sie habe, werde ich mich melden. Wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, rufen Sie mich an.“ Sie ging immer noch sehr wackelig auf den Beinen hinter ihm her und nahm seine Karte. Irgendwie kam ihr sein Abschied sehr abgehackt vor, aber ihre Gedanken waren gerade viel zu durcheinander, um über so etwas nachzudenken.

      Mia-Sophie war ermordet worden.

      Doch so einfach wollte sie ihn nicht gehen lassen, vorher wollte sie noch versuchen ein bisschen aus ihm rauszubekommen.

      „Warum hat der Vorstand der Gemeinschaft nichts erfahren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie niemand vermisst gemeldet hat.“

      „Wer sagt denn, dass das nicht getan wurde?“

      „Wie? Das hätten wir doch erfahren.“

      „Wenn Sie mit ‚Wir’ die Mitglieder des Projekts meinen, würde ich anfangen mich zu fragen wie seriös diese kleine Selbsthilfegruppe wirklich ist.“ Sie runzelte die Stirn.

      „Mia-Sophies Tod war kein normales Verbrechen, habe ich Recht oder habe ich Recht?“

      „Das sollten Sie uns überlassen.“

      „Weichen Sie mir nicht aus.“

      „Passen Sie auf sich auf, Frau Cavillo.“ Entgegnete er mit einem Tonfall der sie in ihrem derzeitigen Hochmut gar nicht erfreute. „Das werde ich!“ Rief sie ihm nach, als er gerade an seinem Wagen ankam.

      „Passen Sie auf sich auf…“ Wiederholte sie sauer. „…als ob ich ein kleines Dummchen bin, das mit der Realität nicht klarkommt.“ Sie schimpfte noch weiter, aber nach einiger Zeit verlor sich ihre Aufmüpfigkeit gegenüber dieser Begegnung etwas und sie verfiel in Gedanken.

      Er hatte nicht eine Frage über Charlotte gestellt, aber wieso? War ihr auch etwas geschehen?

      Kapitel 9

      Gott, er konnte es kaum fassen. So unprofessionell war er ja noch nie in seiner ganzen Laufbahn gewesen. Noch nie. Und weswegen? Wegen ihr? Wegen einer Frau, die er zuvor nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, die er nicht kannte, die nicht mehr als eine Zeugin wie tausend andere war?

      Verdammt.

      Er wischte sich übers Gesicht, als er an der roten Ampel warten musste, an der Kreuzung kurz vor dem Kommissariat. Ruby Cavillo war seine letzte Zeugin für den heutigen Tag. Er war chronologisch seinen Teil der Liste durchgegangen. Jetzt war er auf dem Weg, um die neu erworbenen Informationen mit seiner Partnerin Brigitte zu besprechen.

      Er durfte gar nicht darüber nachdenken was sie ihm erzählt hätte, wenn sie seine gerade vergangene Aktion mitbekommen hätte. Entweder wäre er als schwanzgesteuertes Arschloch bezeichnet worden oder als völliger Dummkopf. Wahrscheinlich war er beides. Dieses ganze Hin und Her war nur aufgrund seiner Nervosität gewachsen, die er normalerweise immer unter Kontrolle hatte. Aber Ruby Cavillo, die letzte auf der Liste, die letzte der Mitglieder, hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Einfach so. Das konnte doch nicht sein, dachte er, aber es war so. Da konnte er froh sein, dass er zumindest noch einige sinnvolle Fragen gestellt hatte.

      Oder er übertrieb gerade in diesem Augenblick schon wieder.

      Hoffentlich, das schwor er in dem Moment, als er auf den Parkplatz fuhr, hoffentlich würde er Ruby Cavillo in diesem Fall nicht noch einmal brauchen. Wenn doch würde er Brigitte besser mitnehmen, keine Frage.

      Das Ende des Gesprächs war auch überraschend gewesen, generell die Reaktion von der Spanierin, dachte er schon wieder über sie nach, als er sich einen Weg durch das Kommissariat zu den Fahrstühlen bahnte. Nicht nur, dass sie beinahe gefasster als all ihre Kameraden war, sie war auch angriffslustiger, so wie er sie von Anfang an gesehen hatte. Interessierter. Gerissener. Sie war nicht eine seiner Optionen, die nur er steuern konnte, sondern sie spielte selbst mit. Das bewiesen die Fragen