Jonah Zorn

Menschlich


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Leben erst noch richtig sichern sollen, bevor sie sich daran versuchte ein anderes Leben zu beaufsichtigen. Genau diese Zweifel haben sie den ganzen Tag über nicht ruhen lassen und ehe sie nur tatenlos herumlungern würde, würde sie jetzt endlich dieses Gespräch mit Lauren führen.

      Sofern sie sie bald erreichen würde.

      Abermals musste sie an einer Ampel halten, als sie auf einmal aus ihren Gedanken gerissen wurde. Ihr Handy läutete laut, aber wo? Es war dasselbe Schauspiel wie so oft, sie suchte und suchte, bis sie das nervende Ding am Ende in irgendeinem Winkel des Autos fand. Und nachdem sie sich darüber erbost hatte die Grünphase verpasst zu haben, nahm sie den Anruf entgegen. Natürlich hatte sie vorher nicht auf das Display gesehen, wer sie um diese Uhrzeit noch erreichen wollte.

      „Ja?“

      „Ruby, kannst du bitte einen netten Ton anschlagen, wenn du deine Mutter begrüßt?“

      „Mutter? Seit wann rufst du mich auf meinem Handy an?“

      Als Antwort kam – keine Frage – ein Vorwurf. „Zuhause kann ich dich ja nicht erreichen. Was machst du nur wieder?“

      „Ich muss noch was erledigen und das ist sehr dringend. Deswegen habe ich keine Zeit mit dir zu telefonieren.“ Freilich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann dieser Anruf eingehen musste. Zwar hatte sie es wegen den Umständen vergessen oder auch verdrängt, aber dies war der Montagskontrollanruf ihrer Mutter. Meistens ging es darum, ob Ruby auch ihrer Pflicht nachgegangen war und am Sonntag in der Kirche war. In den meisten Fällen log sie einfach; andererseits spielte sie dabei mit dem Feuer, denn ihre Mutter müsste nur den Pastor in der Kirche in der Nähe von Rubys Haus fragen, ob sie tatsächlich da war. Ein Glück, dass sie weggezogen war und nicht in das gleiche Gotteshaus wie ihre Mutter gehen musste.

      Das hatte einiges leichter gemacht. Sie hätte aber besser gleich ans andere Ende des Landes ziehen sollen.

      „Die Zeit wirst du dir nehmen.“ Ruby murmelte einzig und allein etwas Unverständliches, da sie ihr Handy zwischen Ohr und Schulter klemmte, damit sie weiter fahren konnte. Ihr Ziel war, genau wie heute Morgen, die Wohnung von Lauren. Bloß dieses Mal würde sie nicht den Fehler begehen mit der Mutter zu kommunizieren.

      „Warst du gestern Morgen in der Kirche? Im Gegensatz zu dir waren all deine Geschwister mit mir am Sonntagmorgen in unserer Stammkirche.“ Oh, anscheinend hatte sie eine neue Strategie, oder ihre arschkriechenden Geschwister hatte es nun gänzlich darauf abgesehen sie nieder zu machen.

      Gut, dann wollte sie ihnen diesen Gefallen doch tun. „Nein, Mutter, ich hatte gestern Morgen etwas Wichtigeres zu tun.“ Sie hörte wie ihre Mutter scharf die Luft einzog, worauf sie nur grinsen musste. „Ruby das ist schrecklich!“

      „Du kannst mich leider nicht sehen, aber ich verdrehe gerade die Augen.“ Auf das was jetzt kam war Ruby nicht unbedingt vorbereitet, vor allem weil es gegen jegliche Gesetze der Natur ging. Denn das Folgende mochte kaum von ihrer Mutter stammen; es ähnelte einer aufrichtigen, nachdenkenden, mitfühlenden Persönlichkeit.

      „Dann hast du etwa nicht für die getötete junge Frau gebetet?“ Das schlug ihr wie ein Faustschlag in die Magengrube, sodass Ruby vorsichtshalber an den Rand fuhr. Dieses Gespräch sollte sie besser nicht während des Fahrens führen.

      „Nein, Mutter, das habe ich nicht.“

      „Schäm dich Kind!“

      Das tat sie wahrhaftig, nachdem sie länger darüber nachgedacht hatte. Nicht nur weil sie so erzogen wurde, es war ein Zeichen des Respekts einem Menschen die letzte Ehre zu erweisen. Ein Gebet in der Kirche zu sprechen war das Mindeste was sie hätte tun müssen.

      „Ich dachte ich habe dich zu einer respektvollen jungen Dame erzogen. Wie oft willst du mich denn noch enttäuschen, Ruby?“ Die Frage allein war bereits schmerzhaft, aber irgendetwas in dem Hinterton ihrer Mutter, etwas das sie nie zuvor gehört hatte, war noch schmerzhafter. Es glich fürwahr einem gewissen Kummer.

      „Es…so habe ich gar nicht darüber nachgedacht. Es tut mir leid. Ich werde spätestens morgen für Mia-Sophie beten gehen.“

      „Das will ich doch hoffen.“

      „Wirklich, Mutter, ich fühle mich verdammt schuldig.“ Rubys Mutter reagierte nicht direkt auf diesen Einwand, stattdessen entstand eine Pause. Diese Stille nutzte Ruby, um die Augen zu schließen und jegliche Einwirkungen des Tages auf sich einfallen zu lassen. Wie eine Last brach alles auf sie ein und drohte sie für einen Moment unter sich zu begraben, ihre Mutter jedoch setzte noch einen drauf. „Ich mache mir Sorgen um dich, mein Kind.“

       Das ist neu.

      „Wie bitte? Habe ich dich gerade richtig verstanden?“

      „Dios mio! Du hast mich richtig verstanden. Ist das denn so abwegig? Die arme Frau ist in deinem Alter und arbeitet ehrenamtlich bei der gleichen Organisation wie du.“

      Ruby fasste es kaum als sie so etwas wie ein Stechen in ihrem Brustkorb spürte und sich ihr die Kehle zuschnürte. „Du rührst mich gerade zutiefst.“

      „Ruby, mein Schatz, es ist mir sehr ernst. Ich hatte einen Traum in dem dir etwas zugestoßen ist und du weißt meine Träume werden oft wahr. In der Nacht bevor dein Vater an einem Herzinfarkt gestorben ist habe ich auch von seiner Beerdigung geträumt.“

      Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen nieder, die sich bildeten aufgrund dieser herzzerreißenden Wahrheit, aber auch wegen der Erinnerung an ihren verstorbenen Vater. Trotzdem blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Mutter mit Floskeln abzuwehren.

      „Träume sind keine Vorahnungen, Mutter. Aber ich verspreche dir, dass ich auf mich aufpassen werde.“

      „Damals am Todestag deines Vaters habt ihr mir alle genau das gesagt aber ich habe eine Energie in mir gespürt und diese kam von Gott. Und dieses Mal war es genau dieselbe! Ein Versprechen allein…“ Den Rest vernahm Ruby nicht mehr. Sie konnte ihren Augen kaum glauben, wen sie da die Straße überqueren sah. Zwar ziemlich von der Dunkelheit eingenommen, anderseits im Licht der Straßenlaterne deutlich zu erkennen. Im raschen Tempo, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Hosentaschen, beinahe mysteriös.

      Sofort unterbrach sie ihre Mutter in ihrer Belehrung. „Wir sprechen ein anderes Mal darüber, ich muss jetzt Schluss machen.“

      „Nein! Ich bin noch nicht fertig.“

      „Bis dann. Ich liebe dich.“ Ohne auf eine Rückmeldung zu antworten klappte sie das Telefon zu, wobei sie nicht eine Sekunde damit aufhörte der Person mit ihrem Blick zu folgen.

      Lauren diese leichtsinnige Göre; spazierte spät abends in einem Bezirk herum, indem sie selber nur mit abgeschlossen Türen umherfuhr. Was wollte sie hier, kam ihr direkt die Frage in den Sinn, die sie auch zugleich in der Bewegung innehalten ließ auf die Hupe zu drücken.

      Ein seltsames Gefühl beschlich sie, und anstatt auszusteigen und sich zu zeigen schaltete sie das Licht des Pkws aus. Um sich zu vergewissern, sah sie kurz auf die Armaturenuhr; zehn Minuten vor elf. Für ein fünfzehnjähriges Mädchen in der Woche viel zu spät, auch wenn es sich hierbei um Lauren Winkler handelte.

      Zum Schluss machte Ruby noch den Motor des Kleinwagens aus und stieg konsequent aus, nachdem das Mädchen eilig über die Straße gegangen war. Ausschlaggebend dafür war vor allem die Tatsache, dass Ruby sie vor wenigen Sekunden versucht hatte anzurufen und Lauren auch auf ihr Handy gesehen hatte, es aber einfach wieder weggesteckt hatte. Sie führte irgendetwas im Schilde und soeben hatte sie sich dazu entschlossen ihrem Schützling zu folgen. „Verarschen kann ich mich selber, Kleines.“ So war die Suche zu einer Verfolgung geworden.

      Diese Gegend war heruntergekommen, diente als Treffpunkt für Alkoholiker und anderen Abschaum, der Dienste beanspruchte, die Jugendliche nicht erleben sollten. Und um diese Tageszeit wimmelte es nur so von diesen Leuten, denen Ruby so gut wie möglich aus dem Weg ging, während sie ebenso bedacht vorgehen musste bei der Verfolgung von Lauren. Diese nämlich ging schnurstracks, als ob sie nicht zum ersten Mal hier unterwegs war, durch kleinere Seitenstraßen in denen