Jonah Zorn

Menschlich


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Betrunkenen ausweichen musste; sie wirkte so konzentriert, dass sie nicht ein einziges Mal zur Seite oder nach hinten blickte, immer stur geradeaus. Ruby dagegen sicherte sich in alle Himmelsrichtungen ab; im Ganzen imponierte sie mit einer Zielstrebigkeit, die Ruby nur noch mehr zum Nachdenken brachte.

      „Hey, Sccchhnecke. Hassch du nen paa Eu…Euro für nen alten Vete…Veteranen wie misch?“ Ruby fuhr in sich zusammen, als plötzlich ein stark angetrunkener Mann vor ihr aufgetaucht war und sie mit leeren Augen anstarrte. Er roch bestialisch, die Kleidung war verschmutzt, sein Bart schon seit Wochen nicht mehr rasiert und bei seinem dreckigen Grinsen kamen seine ekelerregenden Zähne zum Vorschein. Doch das Schlimmste war, dass er sich ihr so in den Weg gestellt hatte, dass sie weder an ihm vorbei kam, noch sehen konnte wohin Lauren ging.

      Sie fackelte nicht lange und überwand ihre Abscheu gegenüber dem Obdachlosen, um ihm die lausigen fünf Euro aus ihrer Hosentasche zu geben. Scheiß auf das Geld, Hauptsache diese Aktion hatte nicht zu viel Aufmerksamkeit erregt. Er würde sie jetzt in Ruhe lassen und Lauren war noch nicht verschwunden, dachte sie, und huschte an dem immer noch grinsenden Mann vorbei. „Isch danke!“

      Keine Ursache, sagte ihre innere Stimme sarkastisch, während sie gegen den Brechreiz ankämpfte, den diese enge, dreckige, stinkende, gruselige Nebenstraße in ihr auslöste. Gottverdammt, was wollte Lauren hier?

      Ihre eigene Idee fing an ihr selber Angst zu machen, aber die Neugier trieb sie weiter. Weiter hinter dem Mädchen her, die zum Glück trotz des Vorfalls nicht verschwunden war, durch die tiefer werdende Nacht, immer weiter weg von dem nachtlebigen Viertel, irgendwohin, wo Ruby gefühlt noch nie war. Ob es an der Dunkelheit lag, oder ob ihr Verstand ihr Streiche spielte, diese stille Jagd fühlte sich an wie eine Ewigkeit, die ins Nichts führte.

      Fast gab sie sogar dem Drang nach den wahrenden Sicherheitsabstand aufzugeben und Lauren anzusprechen, aufzugeben, doch abrupt hatte der nächtliche Spaziergang ein Ende.

      Völlig ohne Orientierung oder einer Ahnung wie weit sie dem Mädchen hinterher geschlichen war, stand Ruby nun atemlos an die Wand gedrückt, hinter ein paar Mülltonnen in einem heruntergekommen Hinterhof. Achtsam wiegte sie sich in den Schatten, während sie auf die spärlich beleuchtete Szene spähte.

      Der, von alten Hochbauten umzingelte, Hof wurde nur von einer flackernden, verrosteten Laterne beleuchtet. Überall war Müll, besonders Flaschen, Pappe und Sperrmüll, verteilt; die dafür vorgesehenen Mülltonnen quollen schon lange über. Es roch auf eine Weise abgestanden und Ruby hatte das Gefühl, dass ihre Sicht leicht verschleiert war. Wenn die bröckelnden Fenster der Häuser nicht vernagelt waren, dann waren die Vorhänge zugezogen, allesamt grau von Staub und Dreck. Von jeder vorhandenen Hintertür splitterte die Farbe ab, einige waren spartanisch geflickt worden, andere schienen sogar aufgebrochen worden zu sein und waren nun nur noch mit Vorhängeschlössern gesichert, wenn überhaupt. Die einzige Verzierung waren vermutlich allein die miserablen Graffitis. Zu hören vereinzelt ein Hupen oder andere diverse Geräusche vom fahrenden Verkehr. Aber diese Geräusche waren so unscheinbar neben ihrem laut pochendem Herzen, das ihr in der Brust schlug und sie stark daran hinderte zu lauschen.

      Sie war nämlich vollkommen verborgen – zumindest hoffte sie dies – um das Grüppchen, welches sich in der Mitte des Hofes eingefunden hatte, zu beobachten. Lauren war zu zwei anderen Personen dazu gestoßen, die Ruby nicht einordnen konnte. Wer waren sie? Warum traf ihr Schützling sich mit ihnen?

      Fragen fielen auf sie ein, doch noch mehr störte es sie, dass sie bloß so wenig erkennen konnte und auch zu weit entfernt war, um das Gespräch mit anhören zu können. Fast zu schön, denn eigentlich scheute sie sich vor dem was sich hinter diesem rätselhaften Treffen verbarg.

      Ein wenig weiter beugte sie sich vor, um durch die Lücke zwischen den beiden Gestalten, die mit dem Rücken zu ihr standen, blicken zu können. Jetzt sah sie direkt auf Laurens in Düsternis gehülltes Gesicht; wie ihre hellblauen Augen hinunter auf die regen Hände starrten, die etwas untereinander austauschten. Gespannt dämmerte es Ruby, das es stinknormale, zusammengefaltete Papiere waren, weiter nichts. Weiter nichts?

      Eiskalt lief es ihr den Rücken herunter, als sie beobachtete wie Laurens Lippen sich zu einem fiesen Grinsen formten, ihre Augen, ja, bösartig aufblitzten. Das war nicht das liebenswürdige Kind, das sie vermochte kennengelernt zu haben. Kaufte sie Drogen, andere Betäubungsmittel; hatte sie Dreck am Stecken?

      Sie schluckte und begann fieberhaft darüber nachzudenken, was sie jetzt tun sollte: Weglaufen? Warten? Sich zeigen? Oder weiterhin nur dämlich Löcher in die Luft starren und darauf hoffen irgendeine noch dämlichere Eingebung zu bekommen? Wie banal war das ganze hier überhaupt? Was sollte das?

      Schwachsinn!

      Wie ein Schlag erfasste sie die Begierde nach Antworten, nach der Auflösung dieser bedeutsamen Abnorm, so stark war der Mut, vielleicht sogar der Dummheit, dass sie sich kurzerhand dazu entschloss in das Treffen hineinzuplatzen. Sie war ein Kind, nicht mehr. In welche Machenschaften sollte sie schon verwickelt sein; dies waren allemal Teenagersünden, die sie später einmal vor Familie und Freunden mit ihrer traurigen Kindheit entschuldigen würde. Weiter nichts!

      Für diese Aktion würde Lauren hier und jetzt die Abreibung kassieren, die sie sich auf jeden Fall eingehandelt hatte, genau vor ihren Bekanntschaften, die sie nach Rubys Meinung erst zu solchen kühnen Unternehmen gebracht hatten.

      Voller Eifer und daraus resultierender, naiver Sorgenlosigkeit stürmte sie aus ihrem Versteck heraus, hinein in den Lichtkegel der Laterne, unter der gerade noch die Drei gestanden hatten.

      Richtig, Vergangenheit, ‚gestanden hatten’; Lauren war mitsamt den anderen Beiden nicht mehr da. Wie vom Erdboden verschwunden, weg, nicht einmal ein weghuschender Schatten war mehr zu sehen, gerade eben waren sie noch da, haben gelacht, inzwischen nicht mehr.

      Bei dieser Erkenntnis fiel Ruby aus allen Wolken, sichtlich an ihrem offen stehenden Mund und den baff wirkenden Blick. Nahezu Laute der Verzweiflung drangen leise aus ihrer Kehle, als sie dastand und nicht fassen konnte, wie dumm sie war, wie gottverdammt dumm sie war.

      „So eine Scheiße!“ Fluchte sie, nicht bedacht darauf, dass sie möglicherweise doch noch jemand beobachtete.

      Umgehend, leicht zittrig, ging Ruby sich durch die Haare und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie wusste nicht wieso, aber ihre Beine fühlten sich mit einem Mal so weich wie Butter an und emotional fühlte sie sich schwach und niedergeschlagen, erschöpft und durcheinander. Am liebsten wäre sie augenblicklich voller Zorn in Rage entbrannt, oder in Tränen ausgebrochen.

      Aber anstatt nochmals einem dieser Dränge nachzugeben, verdrängte sie sie tief und wollte nur noch nach Hause. Nach Hause schlafen und sich einreden, dass dieser absurde Mist nur ein Traum gewesen war. Du wirst noch verrückt.

      Kapitel 22

      Joana hatte einen leichten Schlaf.

      Einen sehr Leichten. Deswegen schreckte sie auch sofort aus ihren Träumen auf und saß stockgerade in ihrem Bett.

      Etwas hatte geknackt!

      Mit weit aufgerissenen Augen suchte sie ihr dunkles Zimmer ab, konnte aber nichts entdeckten. Leicht hysterisch kicherte sie über sich selber. „Hier ist niemand, Joana. Reg dich ab.“

      Sie schwitzte, allein schon, weil diese Nacht extrem schwül war. Ihre dünne Decke hatte sie bei ihren nächtlichen Kämpfen, aufgrund der starken Alpträume, die sie die letzten Wochen über plagten, schon längst weggeschlagen. Der Druck machte sie fertig.

      Schnell knipste sie ihre Nachttischlampe an, sodass ihr Schlafzimmer endlich mit heilendem Licht erfüllt wurde. Auf der Stelle fühlte sie sich sicherer, weswegen sie aus dem Bett stieg, um das Fenster zu schließen.

      An Schlaf war nicht mehr zu denken. Da wollte sie die restliche Nacht lieber mit Arbeit verbringen.

      Arbeit, ging es ihr durch den Kopf. Sie fragte sich schon seit Wochen, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Polizistin zu werden und ihr Leben dem Schichtdienst, den Hundertschaften und dem Stress zu widmen.