Jonah Zorn

Menschlich


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      „Ich werde das Wichtigste am Ende noch einmal zusammenfassen, damit ich jetzt nicht noch einmal von vorne anfangen muss.“ Leitete die Direktorin, die fürs Reden aufgestanden war, ein. „Wir sollten uns einige Vorschläge anhören, wie wir mit dieser schrecklichen Situation umgehen sollen. Es dauert nicht mehr lange, dann haben die Kinder Ferien, einige von den Betroffenen werden danach sogar noch die Schule wechseln. Davor müssen wir auf jeden Fall, egal was kommt, alles tun, um mit den Kindern zusammen ein Konzept zu entwickeln um ihnen zu helfen. Ich gehe davon aus, dass das jeder von den hier Anwesenden auch so sieht.“ Mit einem Ohr schaltete Ruby ab und sah sich lieber in der Runde um. Nicht eher als jetzt bemerkte sie, wie Wenige sie von ihren ‚Mitschwestern’ und ‚Mitbrüdern’ persönlich kannte. Natürlich vom Sehen und vom Grüßen, aber mit nur einer kleinen Anzahl von ihnen hat sie jemals ein Wort gewechselt. Wie dachten sie über dieses grausame Ereignis? Wie handhabten sie die Probleme ihrer Schützlinge? Wie beurteilen sie dieses Projekt? Waren sie all die, wie sie sich gaben, oder waren sie ganz andere? Konnte man ihnen vertrauen? Fragen über Fragen überkamen sie, doch ein Wortwechsel zwischen der Direktorin und einer der Lehrerin holte sie wieder zurück in ihre Umwelt.

      „In einem solchen Fall muss man der Polizei in jeglicher Hinsicht behilflich sein.“ Sie konnte nicht genau herausfinden, wie lange sie nicht mehr zugehört hatte, aber es musste etwas länger gewesen sein. Sofort spitzte sie die Ohren. „Dennoch können Sie sich nicht einfach über den Kopf aller hinwegsetzen und der Polizei eine Liste mit allen Daten geben.“

      Deswegen war dieser Kommissar so schnell nach dem Fund der Leiche bei ihr gewesen. Oh ja, das war ganz eindeutig interessant.

      „Wir wollen doch alle, dass die Polizei den Mord an unserer geschätzten Kollegin Mia-Sophie so schnell wie möglich aufklärt.“

      „Es geht hier darum, dass persönliche Daten ohne das Zugeständnis dieser Personen weitergegeben wurden. Ihnen ist doch hoffentlich bewusst, dass die Beamten solch vertrauliche Informationen nicht einfach einberufen dürfen.“ Nach diesem Einwurf von der angesehenen Englisch, - und Mathematiklehrerin Frau Weston entstand unmittelbar Gemurmel in den Sitzreihen.

      „Ich bitte Sie Frau Weston, die Kommissare brauchten doch nur die Namen, um mit den Mitgliedern sprechen zu können. Diese Diskussion ist doch völlig unnötig und passt gar nicht in diese Besprechung hinein.“ Zum ersten Mal verlor die Direktorin ihre nette Art und Weise und blickte eher etwas sauer drein. „Sie hätten uns vorher fragen müssen!“ Warf jemand in den Raum, den Ruby nicht ausfindig machen konnte. Andere Kommentare dergleichen folgten darauf und es wurde in der Aula immer unruhiger.

      „Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich. Wir werden dieses Problem ein andern mal besprechen, nicht jetzt! Ich will hier und jetzt das Thema der Trauerbewältigung mit Ihnen besprechen.“

      „Sie wollen doch nur von Ihrem Fehler ablenken. Vielleicht haben Sie uns in Schwierigkeiten gebracht!“ Als alle bemerkten, dass sie diese Angelegenheit so noch gar nicht gesehen hatten, wurden die Stimmen lauter und von nun an unberechenbar. Direktorin Meier war mitten im Sperrfeuer und konnte sich nicht mehr daraus befreien.

      „Und da haben wir es.“ Absolut ratlos wegen dieser plötzlichen Wendung blinzelte sie Lauren ein paar Mal an bis sie verstand. „Niemand kann beim Wesentlichen bleiben.“

      Die Vorurteile von ihrem eigenen Schützling wurden ihr, bei dem Anblick der rasenden Menschen, die sich eigentlich hier zusammengefunden hatten, um einem Kind, das einen wichtigen Menschen grässlich verloren hatte, beziehungsweise Kindern, die ein solches unfassbares Verbrechen nicht begreifen konnten, zu unterstützen und jetzt stattdessen lauthals darüber diskutieren, ob es richtig war den Polizisten Hilfestellung zu geben oder nicht, immer deutlicher. Darum meinte sie auch direkt. „Sollen wir uns heimlich davon schleichen?“

      Das Mädchen blies deutlich Luft aus der Nase, doch dann grinste sie. „So kenne ich doch die gute, alte, Ruby.“

      „Raus hier.“ Auf der Stelle erhoben sich die beiden, was keiner der Anwesenden zu bemerken schien, denn sie alle waren vollkommen damit beschäftigt sich gegenseitig zu beschimpfen und anzuschreien. Zumindest dachten sie, dass alle in diese Debatte involviert waren.

      Kapitel 18

      „Denkst du die da oben kommen noch zu einer recht effektiven Lösung?“

      „Nein.“ Antwortete Lauren ausdruckslos und bog in diesem Augenblick um die Ecke, bei der sie gerade eben noch fast zusammengestoßen waren. „Ich weiß auch nicht, was diese ganze Aktion sollte.“ Erklärte sie weiter auf dem Weg zu Rubys Wagen. Die Treppen hinunter zum Parkplatz haben sie sich dazu entschlossen, dass Lauren den Schultag sausen lassen durfte und sie sich ausnahmsweise einen netten Tag zusammen machen wollten. Da der Aufruf zu dieser sinnlosen Versammlung Rubys Planung sowieso bereits vollkommen durcheinander gebracht hatte, hatte sie spontan jegliche Arbeiten, die sie heute eigentlich noch erledigen wollte, auf Eis gelegt. Sie war der Meinung Lauren und sie selber hatte diese Auszeit mehr als verdient.

      „Ich denke viele von ihnen verstehen selber nicht, was da geschehen ist und versuchen auf diese Weise damit umzugehen.“

      „Vielleicht ist es besser den Kindern den Freiraum zu lassen eine eigene Methode zu finden, wie sie damit umgehen wollen. Hat da schon mal jemand drüber nachgedacht?“

      „Ist Wegrennen denn eine gute Methode?“ Kurz vor Rubys Auto blieb das Mädchen abrupt stehen und verschränkte die Arme. „Halt die Klappe Ruby. Du hast doch keine Ahnung und dein Sarkasmus hilft dir auch nicht dabei.“

      „Es tut mir leid. Möchtest du denn mit mir darüber sprechen?“ Die Fünfzehnjährige schien lange nachzudenken, verdrehte letztendlich jedoch nur die Augen. „Darüber sprechen, immer höre ich nur, dass jemand mit mir darüber sprechen will. Denkt eigentlich jeder, dass darüber sprechen alles aus der Welt schafft?“ Zusätzlich begann sie mit den Zähnen zu knirschen.

      Grübelnd begutachtete Ruby Lauren, die mit Sicherheit stark war, aber war sie wirklich so stark, wie sie sich gab? Sollte sie sie ziehen lassen oder doch lieber weiter darauf herumkauen? Um diese Entscheidung zu treffen, überlegte sie sich wie sie selber handeln würde. Vermutlich würde sie zu ihrer Vertrauensperson gehen und das war ganz eindeutig ihre Schwester. Sofort dachte sie an die Nacht bei Lex zurück in der sie das erste Mal von Mia-Sophies Verschwinden erfahren hatte; sie konnte nicht mit Lexie über ihre Gedanken sprechen, weil sie geschlafen hatte, sie hatte gar nicht lange darüber nachgedacht, sondern hatte die erst beste Zuflucht gesucht, indem sie sich an sie geschmiegt hatte und drauf los geflüstert hatte. Morgens war es ihr peinlich gewesen, aber etwas anderes hätte ihr in dieser Nacht nicht geholfen.

      Okay, hier und jetzt würde sie nicht nachlassen. Deswegen meinte sie, als sie sich zu Lauren ins Auto setzte. „Es schafft nicht alles aus der Welt, aber es befreit den eigenen Geist. Wenn man mit jemanden, dem man vertrauen kann, über Ängste und Wünsche spricht, dann kann man sich sicher sein, dass es auf offene Ohren trifft.“

      „Willst du nicht einfach den Motor starten?“

      „Nö, nicht bevor du mir sagst, was in dir vorgeht.“ Machtdemonstrierend steckte Ruby die Autoschlüssel ins Zündschloss, drehte ihn jedoch nicht, sondern ließ sich in den Sitz zurückfallen.

      „Verarsch mich nicht Ruby.“ Sie reagierte auf Laurens tief gerunzelte Stirn nur mit einem herausfordernden Augenbrauenheben. „Fahr jetzt.“ Forderte sie danach knurrend, doch Ruby regte sich nicht. „Das ist mir zu blöd, du Dickkopf!“

      „Du sagst es, dickköpfig. Ich werde den längeren Atem haben, keine Sorge.“

      „Fick dich doch einfach.“ Freilich hatten die beiden einen fast gleich trotzigen Charakter, was die verstreichenden Minuten mehr als deutlich zeigten. Dennoch irgendwann musste eine aufgeben und das war nicht die, die hier und jetzt am längeren Hebel saß.

      „Okay, in Ordnung, wie du willst.“ Rubys Zähne blitzen deutlich hervor, als sie breit grinste; dieses Mal hatte sie gewonnen. „Wenn du mir versprichst loszufahren, dann werde ich mit dir über meine tiefsten Gefühle sprechen.“