Stefan Kraus

Die Bruderschaft des Baums


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doppelt so schwer oder doppelt so hoch, wie sie eigentlich in Wirklichkeit sind, da jeder, der die Geschichte hört und weitererzählt, ein Stück dazu dichtet. Was man weiß ist, dass sich das Drachenei in einer Steintruhe befindet. Manche sagen, dass es darin aufbewahrt wird, weil es so hell glänzt, dass man davon blind wird, wenn man es ansieht. Andere sagen, dass es dort aufbewahrt wird, damit es seine Farbe behält und um es vor der Alterung zu schützen, wie man es auch bei anderen Kunstschätzen tut. Was der wirkliche Grund ist, weiß ich nicht, und vielleicht hat man es auch einfach vergessen. Jedenfalls ist das goldene Drachenei sehr sehr alt und von unschätzbarem Wert und so mancher Kunstsammler würde eine riesige Menge Goldkronen dafür bezahlen, um es in seine Sammlung aufnehmen zu können. Aber das Drachenei wird nicht verkauft, sondern es gehört zum Kronschatz. Trotzdem wurde schon oft versucht, das Drachenei zu stehlen. Und ihr wisst, dass auf Bestehlen des Königs die Höchststrafe steht.“

      „Aber Hanrek, ich glaube nicht, dass du Angst haben musst, dass aus dem Drachenei tatsächlich einmal ein Drache schlüpft, den du dann töten musst.“, beendete er das Thema mit einem Augenzwinkern in Richtung Hanrek.

      Schuldbewusst erinnerte sich Hanrek nach vier Wochen, dass er Miria versprochen hatte, sie regelmäßig zu besuchen. Die ersten vier Wochen waren so arbeits- und erlebnisreich gewesen, dass er es tagsüber nicht geschafft hatte, sie zu besuchen.

      Bei der nächsten Gelegenheit, die es ihm ermöglichte, ging er in das Händlerviertel und erstand für einige wenige Kupferlinge ein schönes Paar Ohrringe, das er Miria als kleines Geschenk mitbringen wollte. Dann machte er sich auf den Weg zum Haus von Mirias Tante.

      Miria machte ihm sofort Vorhaltungen, dass er sich so lange nicht hatte sehen lassen. Sie freute sich aber sehr über das kleine Geschenk und war sofort besänftigt.

      Sie bekam von ihrer Tante ein paar Stunden frei und die beiden zogen los für einen Spaziergang. Miria plapperte munter drauflos und berichtete über ihr neues Zuhause, ihre Arbeit und was sie hier alles Tolles gelernt hatte. Auch Hanrek berichtete, was er die letzten vier Wochen erlebt hatte.

      Dann fragte Hanrek sie.

      „Miria, hast du manchmal Heimweh nach Hallkel?“

      Miria drehte sich um und sah ihn nachdenklich an.

      Dann sagte sie leise.

      „Ja. Meine Mutter vermisse ich sehr. Ich vermisse auch, die Ruhe, die man in Hallkel manchmal hat. Ich habe einen Lieblingsplatz in unserem Garten hinter dem Haus. Dort konnte ich mich im Sommer abends stundenlang hinsetzen und war ungestört und dort habe ich den Vögeln gelauscht.“

      Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort.

      „Hier haben wir keinen Garten, und wenn ich mich ans Fenster setze, und versuche den Vögeln zu lauschen, dann gibt es einfach keine Ruhe. Ein Karren fährt vorbei, ein Kunde streitet sich mit dem Verkäufer gegenüber, es gibt immer ein Geräusch, das einen ablenkt und stört. Wobei im Moment ist es sowieso zu kalt, um sich ans Fenster zu setzen. Hast du gemerkt, heute Morgen hat es schon geschneit und meine Tante und ich wir haben uns entschlossen noch mehr Holz für den Winter zu kaufen. Wir glauben nämlich, dass es ein sehr kalter Winter wird. Unser Nachbar meint, dass es ein milder Winter wird, weil die Apfelblüte dieses Jahr so spät war. Das halte ich für kompletten Blödsinn.“

      Und damit war Miria erneut ins Plappern gekommen. Hanrek schmunzelte in sich hinein. Es war nicht immer so gewesen, dass sie sich so ungezwungen und einfach hatten unterhalten können.

      Der Winter kam dieses Jahr zwar spät, aber dann umso heftiger. Es fielen Unmengen von Schnee. Hanrek und Binno, die sich um das Schneeschippen kümmern mussten, konnten die weiße Masse schon nicht mehr sehen. Anders als in ihren Dörfern, in denen das Dorfleben im Winter fast vollständig zum Erliegen kam, ging das Leben in der Stadt weiter. Der Markt fand nicht mehr im Freien sondern in den Markthallen statt und das Angebot war natürlich wesentlich begrenzter.

      Das Training in der Bruderschaft fand jetzt doch nicht mehr im Freien statt, da dafür einfach zu viel Schnee lag. Tonnir nahm mittlerweile an den Übungen teil, da seine Rippen geheilt waren, Rannold konnte aber aufgrund seiner Kniebeschwerden weiterhin nicht teilnehmen. Der Heiler äußerte die Vermutung, dass er dauerhaft links ein wenig Humpeln würde.

      Die Stimmung zwischen den Lehrlingen und den Gehilfen war eisig. Binno hatte sich natürlich auf die Seite von Hanrek geschlagen. Lucek war über die Situation nicht glücklich, konnte und wollte aber auch nichts tun, solange sie sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlugen und die Feindschaft sich darauf beschränkte, dass es kleine Wortgefechte und Reibereien gab. Mit ihren Akten kamen sie langsam aber kontinuierlich voran. Mit Miria traf er sich regelmäßig und manchmal nahm er zu den Treffen auch Binno mit. Die abendlichen Touren mit Binno, Jorgen und Mico schliefen in dieser extrem kalten Zeit fast ein. Das Leben hatte sich für Hanrek und Binno eingespielt und wurde fast schon zur Routine.

      Irgendwann begann der Schnee zu schmelzen und der Frühling brach an. Lucek nutzte die Gelegenheit, um zu einer seiner Rundreisen auf die Dörfer aufzubrechen. Dazu nahm er Tonnir und Binno mit. Die beiden anderen sollten sich um die Angelegenheiten im Haus kümmern. Rannold um die Sprechstunden und Hanrek um die Akten.

      Eines Morgens kam Hanrek in die Küche und fand dort Rannold vor, wie er sich gerade wieder an den Tisch setzte, an dem meist schnell und kurz gefrühstückt wurde. Sonst war niemand im Raum. Rannold schaute nur kurz auf und tat dann betont unbeteiligt. Hanrek wurde stutzig. So kannte er Rannold gar nicht. Dass er nicht grüßte, war normal. Aber sonst hatte er für Hanrek immer einen provozierenden Spruch auf Lager. Gut, heute eben nicht. Nun vielleicht gab er es ja langsam auf ihn immer provozieren zu wollen.

      Einen Augenblick später wusste Hanrek, dass er sich getäuscht hatte. Als er die alte eiserne Kanne, die immer mit fertigem Kräutersud auf dem Herd stand, in die Hand nahm, um sich einen Sud einzuschenken, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Mit einem Aufschrei ließ er die Kanne fallen. Der heiße Sud spritzte in alle Richtungen.

      Gar nicht überrascht sah Rannold ihn an und fragte unschuldig.

      „Hast du dich verbrannt? Du musst das nächste Mal besser aufpassen.“

      Als Hanrek laut fluchend die schmerzende Innenfläche seiner Hand betrachtete, sah er, dass die ganze Innenfläche der Hand verbrannt war. Dort wo sich am Griff der alten Sudkanne ein Muster befunden hatte, gruben sich besonders hässliche Brandwunden tief ein. Es roch nach verbranntem Fleisch. Rannolds Werk.

      Eilig ging er zu dem Eimer mit Wasser, der immer zum Schutz gegen Feuer neben dem Herd bereitstand, um seine Hand darin zu kühlen. Der Eimer war leer. Auch das war Rannolds Werk, da war sich Hanrek sicher.

      Hektisch rannte er auf den Hof, um aus dem Brunnen Wasser zu ziehen. Ungewöhnlicherweise war die Kette von der Kurbel abgerollt, der Eimer hing demzufolge unten im Wasser. Mühsam und unbeholfen drehte Hanrek mit der gesunden Hand an der Kurbel. Das Gewicht des Eimers war ungewöhnlich schwer. Es dauerte endlos, bis der Haken endlich oben am Anschlag blockierte. Doch was an dem Haken hing war nicht der Eimer sondern ein großer Ast von einem Baum. Einen Moment lang starrte Hanrek fassungslos auf das Holz bis er begriff, dass auch dies Rannolds Werk war. Er ließ die Kurbel los und der große Ast rauschte wieder nach unten, wo er mit einem großen Platsch auf die Wasseroberfläche aufschlug. In seiner Not sprang Hanrek schließlich über die Mauer in den Garten der Bruderschaft, um dort irgendwo Kühlung für seine Hand zu finden.

      Bei der Bruderschaft störte er die Morgenmeditation der Brüder, was ihm böse Blicke und einige tadelnde Worte einbrachte. Jorgen begriff als erster, was Hanrek mit seinem Gestammel wollte und führte ihn schnell in die Küche. Dort endlich bekam er die benötigte Kühlung.

      Rannold hatte die erste Gelegenheit, die sich ergeben hatte, genutzt, um sich hinterhältig an Hanrek zu rächen. Er hatte den Griff der Sudkanne so lange in der Glut erhitzt, bis dieser kurz vor dem Glühen war. Als er hörte, dass Hanrek gleich in die Küche kommen würde, hatte er die Kanne vorsichtig, damit er sich die Finger nicht verbrannte, wieder auf den Herd gestellt, wo sie üblicherweise den ganzen Morgen für das Frühstück stand. Jeder konnte sich dann, wann immer er wollte, einen Sud eingießen. Genau das hatte Hanrek tun