Kathrin Sereße

Noir & Blanc


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oder Zahlen.

      Aber machten sie es möglich, zu erinnern? Waren sie die Quintessenz des Menschenlebens, ein paar Laute oder Zeichen, ein Sandkorn in dieser Wüste?

      Ich verstand und verstand nicht zur selben Zeit. –

      Wenn ich sie nun gekannt hätte, all diese Menschen, wenn ich an die Gräber treten und die Namen lesen könnte und der Worte und Gesichter mich erinnerte? Weil ich sie geliebt hatte, als sie lebten? –

      Die Figuren auf den Gräbern lächelten uns spöttisch zu, sie waren furchteinflößend groß und in die Totenstadt gesperrt, zu sitzen auf faulen Gebeinen, um im Wandel der Zeit wie sie zu verkommen; Moos und Flechten, Unkraut, Rost, das alles wucherte zuhauf und verschlang Frisches. Friedhöfe, das waren Orte ohne Zeit, doch sah man diese überall an ihrem Körper; und es war die Zeit, die uns einst sterben ließ, die uns zu neuem Leben führte, indem sie uns erst zerstörte. Tod begleitete sie schleichend, er verwischte alle Spuren, selbst die Meisterwerke hielten einen Künstler nicht am Leben, sie bewahrten nur, manifestierten einen Teil des Lebens für die Nachwelt, und auch sie würden zugrunde mit der Zeit… Vergänglich waren wir, der eine wie der andere auf Erden.

      Und ich weinte etwas über diesen Friedhof und die Pferchung in Gestein, warum Gestein, weil es so lange blieb, doch war es kalt, nur Würmer und Insekten lebten hier. Man spekulierte von vornherein aufs Vergessen, denn kein Mensch kam gerne her, zumindest nicht für lange Zeit. Die Grenze war gezogen worden, tief und scharf. Die Toten hatten zu Lebzeiten jene, die nun neben ihnen liegen mochten, nicht gekannt. Vielleicht war man sich einmal flüchtig in der Metro aufgefallen oder hatte sich in einem Traum geliebt. Auch Bradford weinte, sodass wir beide still standen, ganz als seien auch wir Statuen aus Stein, betrachteten die flachen Stufen voller Gräber unter uns, während am Horizont das andre Paris lag.

      „Ist es nicht traurig“, sagte Bradford, „dass ich mich Zuhause fühle? Hier ist Leere, nur Fassade, keine Seele mehr, die einen lieben kann. Es ist egal, ob man ein Grab oder nicht, es wird ja doch alles vergehen ohne Wirkung.“

      „Sie sollten sich nicht so sorgen“, sagte ich und langsam schlenderten wir zu der grünen Holzbank, setzten uns. „Das hier ist sicher nicht das Ende unsres Lebens, sondern lediglich das Ende einer kurzen Leidensphase. Möchten Sie, Bradford, auf dieser Erde bleiben?“

      „Wenn sie eine andre wäre, dann sehr gerne“, seufzte er. „Wenn ich noch mehr entdecken könnte, als ich sehe. Aber sterben möchte ich genauso wenig, denn ich weiß nicht, was danach kommt, ob man mich bestrafen wird und ob nicht all die ungenutzten Möglichkeiten schwer auf meinem Herzen liegen. – Ich bin feige, Mademoiselle.“

      „Nein, Sie sind menschlich.“

      Und wir schwiegen.

      „Wissen Sie, der Tag, an dem ich annähernd begriffen habe, dass ich für eine heilige Ewigkeit geschaffen bin, verwandelte mein ganzes Fühlen und Empfinden. Die Erkenntnis ändert alles und die Angst vor der Vergänglichkeit nimmt ab, was ist sie schon, verglichen mit dem Guten, das noch kommen wird! Was habe ich von Ruhm, Geld, Luxus auf der Erde, was von Macht oder Erfolg? Ich brauche weder eine Leistung zu erbringen noch mich selbst anzupreisen, denn ich bin reich und werde unendlich geliebt. Die Zeit ist kurz, die Ewigkeit dagegen länger. Und doch ist die Zeit ein kostbares Geschenk, ich bin ein Mensch und ich kann wirken. Ich kann werden. – Bradford, auch Sie sind geschaffen mit der Fähigkeit, zu leben und zu lieben. Und beim Anblick dieser Steine sollten wir uns vielmehr freuen, da sie uns so deutlich zeigen, dass wir einst nach Hause kommen.“

      Er erwiderte kein Wort und schaute nur und dachte nach, und es war still. Ich musste schmunzeln angesichts all jener Menschen, die schon dort waren und ob des Paradoxons, dass Verlust gleichsam Gewinn des Himmelreiches prophezeite. Freud und Leid waren folglich kein Gegensatz, sondern viel enger noch verknüpft, als wir es dachten. Denn der Tod mochte Erlösung sein, das Tor zur Brücke, die hin zu Gott führte, und nur Christi Leid konnte uns Leben geben. Ja, ich liebte diese Erde, doch ich liebte sie als Anfang und als Werk, das nicht missraten, sondern neu errettet war.

      Ich glaubte an den Himmel und nicht an die Hölle.

      Bradford nickte und er senkte seinen Kopf, und alle Steine schienen es ihm nachzutun, verneigten sich, als wir mit nachdenklichen Schritten Père Lachaise den Rücken wandten und ihn in der tiefen, transzendenten Stille ruhen ließen.

      Wie einfach es doch war zu fliehen, auszubrechen, es genügte, einen Schritt abseits des Weges zu riskieren und zu schauen, was geschah: Die Welt zerbrach nicht, sie veränderte sich nur. –

      Ein jedem Menschen, den wir trafen, schauten wir grad ins Gesicht, und keiner von ihnen schien glücklich; ihre Mienen waren dunkel und verloren, neben ihnen lagen alte und verrammelte Gebäude, etwas Müll am Straßenrand, wilde Graffitis, nass und unschön war es hier. Ich konnte nicht begreifen, wo ich war oder gar wer die Menschen waren, die wir sahen, und viel weniger begriff ich, warum wir allesamt konsequent entlang der Mauer liefen ohne unsren Blick zu heben, da er auf den eignen Füßen oder auch auf den Auslagen der Geschäfte haftete.

      „Paris ist immer gleich, tagtäglich“, sagte Bradford. „Jeden Tag ist es dasselbe, Mademoiselle.“

      „Wir sind es nicht und sie ist groß, die Stadt, man könnte sie überall neu erleben.“

      „Sie sind immer noch der Meinung, dass Leben schön sein kann“, bemerkte er.

      „Auch Sie sind fähig, dies zu glauben, nur versuchen Sie es nicht, denn es ist einfacher, zu denken, es sei furchtbar und zu leiden und die Hoffnung aufzugeben. Tief im Herzen sind Sie einfach nur enttäuscht von Ihrem eigenen Versagen und es fällt Ihnen nicht leicht, die Rolle aufzugeben, die Sie so gut kennen. Aber wissen Sie, das Leben kommt nicht, wenn Sie es nicht suchen. Was ist das für Sie, das Leben? Was haben Sie schon entdeckt?“

      „Es wartet auf mich, aber es ist nur ein Schatten“, sagte er, „der immer forthuscht, wenn ich komme. Alle anderen sind schneller, besser, hübscher. Reden Sie von schönen Dingen, ja, und sie mögen existieren, jedoch nur in weiter Ferne. Nicht für mich.“

      „Seien Sie leise, es ist Unsinn, was Sie reden!“ Ich blieb stehen. „Lieber Bradford, Ihre Mutlosigkeit wird Sie einst zerstören und so sollten Sie sie schleunigst überwinden.“

      „Lieber mutlos als so fürchterlich naiv wie Sie es sind. Ich glaube an den Realismus…“

      „Ich an Hoffnung! Realismus ist ein Märchen und liegt viel zu sehr im Auge des Betrachters. Doch Ihr Herz gehört nur Ihnen, es kann frei sein von den Ansprüchen der andren.“

      Bradford runzelte die Stirn und überlegte. „Das klingt gut“, sagte er dann. „Sie haben Recht. – Ich kenne einen Ort in dieser bösen Stadt, der anders ist und Hoffnung gibt. Wollen Sie mich dorthin begleiten?“

      „Mit Vergnügen“, sagte ich. –

      Die Hektik in der Metro war inzwischen fort, die Menschen arbeiteten längst. Es war lediglich eine Bahn, die gleichförmig durch einen langen Tunnel sauste, unaufhörlich, jede Stunde. Das Gewissen von Paris kam nie zur Ruhe.

      Man vergaß, dass jemand vorne hinter Schaltern, Knöpfen saß und sie mit Eigengeschick lenkte, der Verantwortung besaß für diese Fahrt und der sie uns ermöglichte. Wir ignorierten diese Fahrer und wir wollten ignorieren, dass sie eines Tages vielleicht nicht mehr nach dem Fahrplan fuhren. Die Untergrundbahn war das Eingeweide, Magen von Paris, das es durchzog, unsichtbar, furchtbar, durchgetaktet, ungeduldig, sie war praktisch und wir konnten selbst entscheiden, wo wir sie verlassen wollten, während unzählige andere aus Schichten und Kulturen sich uns anschlossen, denselben Ausstieg nahmen und ihn längst genommen hatten. Wir wussten auch nicht, dass ständig Bahnen fuhren, selbst wenn wir nicht darin saßen, dass minütlich unser Weg in neue Freiheit und in Abenteuer abfuhr, ohne dass wir ihn benutzten. Die Welt, die wir lebten, drehte sich nach unsren eignen Wünschen und wir waren überrascht, wenn etwas doch ganz anders war, als wir es wollten und wir schlussendlich begriffen, dass nicht alles unsrer Herrschaft unterlag. Kontrolle war erstaunlich endlich, und nichts anderes als Furcht und Vorurteile sorgten dafür, dass wir sie beidhändig packten.

      Sie