Kathrin Sereße

Noir & Blanc


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nur das? Ich bin so glücklich, wenn sie sprechen, so vollkommen… als gäben sie mir die Kraft zu neuem Leben, neuer Freiheit.“

      Schmunzelnd nickte sie. „Bleuenn, Sie haben Recht.“

      „Was soll ich tun, wenn man mich fragt? Wie helfe ich denjenigen, die noch nichts hören?“

      „Haben Sie zunächst Vertrauen und Geduld, da ist kein Grund, der aufrichtig suchenden Seele diese Worte zu versagen. Im Vertrauen werden wir sie alle finden.“

      Und es schien mir, dass die Welt in Worten fortbestehen musste, um zu sein.

      Ich bemühte mich, an jedem Tag zu leben und zu kämpfen gegen Zweifel jeder Art, und später sah ich voller Klarheit auf die Zeit zurück, die still vergangen war. In der Erinnerung sah ich alles erneut und dachte nach über die Dinge, die geschahen.

      Eines Abends hatte Juliette gekocht, das tat sie gerne, denn es war auch eine Kunst, und ich verstand, dass der Herr Recht gehabt hatte, dass wir uns näher kamen, als einem Menschen lieb sein, als er jemals kontrollieren konnte, und doch waren ihre Herzen mir so fern.

      Lance Leprince saß mir gegenüber. –

      „Hat nicht jeder Mensch auf Erden das Recht auf ein gutes Leben?“, fragte Bradford.

      „Rechte sind nur Illusionen“, sagte Lance, „hohe Maßstäbe, die wir miteinander setzen.“

      Es sei einfach niemand da, der uns verurteile dafür, dass wir gnadenlos scheiterten. –

      „Das tun wir wohl“, äußerte Bradford. Er prostete Juliette mit dem Weinglas zu. „Es deprimiert mich, all die grauenhaften Nachrichten zu hören.“

      „Sie sind gut“, erklärte Lance, „zeigen sie doch die wahre Welt, die wir nur so begreifen können. Wenn wir Angst haben, machen wir keine Fehler. Wenn wir wissen, dass das Glück vergänglich ist, genießen wir es umso mehr. Zwischen den beiden, Glück und Unglück, steht nur Zufall und ihm sind wir ausgeliefert.“

      „Das klingt furchtbar…“

      „Das hängt von der Reaktion ab. Deprimiert man? Oder schreit und tobt man wild? Das tun wir nicht! Wir schauen, schreiten seufzend fort. Kommt Ihnen jemals in den Sinn, dass man Sie braucht?“

      „Wäre ich fort, es würde niemandem auffallen“, meinte Bradford.

      Juliette fuhr hoch. „Was redest du nur da!“

      „Was tun denn Sie?“, fragte ich Lance. „Was sehen Sie, wenn Sie Zeitungsartikel lesen?“

      „Ich kann lediglich erkennen, was ein anderer mir zeigt, und mein Vertrauen in die Medien ist schwach. Jeder Bericht ist subjektiv und das Geschehnis längst vergangen, und was ändert es, dass wir Tote und Verletzte in Beträgen wiedergeben? Würden wir wirklich begreifen, herrschte bald eine globale Depression. Wir halten Wissen für Kontrolle, doch das stimmt nicht! Keine sorgsam strukturierten Meldungen, sondern die Wahrheit brauchen wir, um dann gemeinsam das Problem lösen zu können.“

      „Welches Problem? Ist es das unsre?“, fragte Bradford.

      „Wessen dann?“

      „Man lernt doch viel“, meinte Juliette, „über die eigene Nation, indem man sich mit den Problemen anderer und eigenen Krisen beschäftigt. Das möchte ich gar nicht missen.“

      „Sind wir also auf das Leid vor unsren Augen angewiesen?“, sagte Lance.

      „Lesen Sie Bücher“, sagte ich, „sie sind vertrauenswürdiger als jede Zeitung.“

      Er warf mir einen Blick zu. „Glauben Sie das? Wird über wahre Dinge überhaupt geschrieben oder sind wir nur dabei, von den Fiktionen irrer Schreibender zu zehren, deren Welten fern der Realität taumeln?“

      „Sie sind besser, diese Welten“, meinte Bradford, „das gereicht mir.“ Er nahm einen tiefen Schluck. –

      „Es kommt mir vor, als sei unsere Nation tot, der ganze Staat“, murmelte Lance. „Was wir noch leben, ist vollends ohne Belang, nicht existent.“

      „Womit begründen Sie die These?“, wollte Juliette skeptisch wissen.

      „Ist sie haltbar? Oder sind letztlich Sie es, der schon tot ist?“, warf ich ein und sah Lance an.

      „Wie könnt’ ich tot sein, wenn ich das Leid doch noch sehe? Heißt es nicht, dass es im Himmel schöner sei.“ Er war ironisch und verbittert, Himmel sagte sich sehr leicht.

      Lance sprach nicht viel, er war nicht Bradford, dessen Seele wie ein simples und recht groß gedrucktes Buch war, Lance war anders, dick, mit zahlreichen Kapiteln, deren Inhalt sich mir selten ganz erschloss. Er war nicht schüchtern, nicht begrenzt, doch dachte er, so schien es mir, und in mir wuchs der tiefe Wunsch, in dieses Werk ganz einzutauchen. Täglich sah ich ihn, beim Essen, auf dem Flur, er grüßte freundlich, distanziert, wir setzten alle unsre Grenzen, doch der seinen waren mehr und es gab zudem keine Tür. Vermutlich hatte er sie selbst noch nicht entdeckt, vielleicht suchte er sie verzweifelter, als ich es eben tat. Zuweilen kam mir der Gedanke, dass ich eine Brücke bräuchte. –

      „Es gibt Gutes in der Welt“, sagte ich dann. „Wir haben einen starken Rechtsstaat, Menschenrechte und Gesetze, genug Nahrung und Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn weltweit jeder versuchte, nur zehn Regeln einzuhalten, wäre vielen sehr geholfen. Zehn Gebote, sagt man auch.“

      Ich erntete erstaunte Blicke.

      „Mir bedeuten sie gar nichts, ich halte Regeln bloß, wenn sie mich überzeugen aus“, sagte Lance Leprince. „Kein unsichtbarer Gott kann mir vorschreiben, was zu tun und was zu lassen ist, er weiß es weniger als ich tue.“

      „Doch der Sinn dieser Gebote ist gut sichtbar.“

      „Nein, Bleuenn, es geht vielmehr um die Erziehung. Jedes Kind braucht die Gesetze, die ihm sagen, was erlaubt ist und was schlechte Folgen hat, denn es begreift nicht und besitzt keine Erfahrung. Aber später ist der Mensch mit dem Verstand wohl in der Lage, zu erkennen, was uns Segen und was Leid bringt. Das Gesetz ist keine Vorschrift, sondern lediglich die Stütze, die uns allezeit als Konsens und als Absicherung dient. Es macht uns greifbar, wer wir sind. Wir brauchen dafür keinen Gott! Wir sind intelligente Menschen! Was wir brauchen, das sind selbst erdachte Regeln und die stete Überzeugung, dass sie gut und aktuell sind, was umfassendere Leidenschaft und mehr Einsatz erfordert, als sie jetzt vorhanden sind. Wir müssen diesen Staat ununterbrochen wollen, um ihn auch zu unterstützen, und darin liegt unser Scheitern wohl begründet, daran gehen wir zugrunde, denn die Krankheit ist schon da, Gleichgültigkeit zerfrisst uns und unsere Zukunft. Was da ist, es scheint gegeben, doch das ist es keinesfalls. Wir müssen denken und nicht stöhnen.“

      Ich konnte nicht recht erklären, ob mir er sympathisch war oder ich seine Art als abstoßend empfand; es war mir ein Mysterium, denn Lance Leprince war mir ein Rätsel, und er schien auch nicht gewillt, es mir zum Lösen hinzureichen. –

      Juliette und Bradford schienen unzufrieden.

      „Was können wir denn verstehen?“, fragte ich. „Doch nichts, solange wir es nicht mit ganzem Herzen nachempfinden. Uns ist ungewiss, was gut ist und was schlecht, und deswegen ist jedes Urteil, das wir fällen, bald ein falsches. Und nur Gottes Meinung zählt, doch müssen wir Ihm erst vertrauen.“

      „Aber Sie trauen nur denen, die behaupten, dass ein Gott ihnen Gesetze offenbart hat!“ Spöttisch neigte er den Kopf.

      „Es sind durchaus keine Gesetze in dem Sinn, dass Er befiehlt, was der Mensch tun soll. Trotz und Auflehnung sind letztlich albern, weil absurd, denn Gott möchte uns damit dienen, wenn Er uns so offensichtlich offenbart, was Ihm gefällt und was Ihn uns verdammen lässt…“

      Lance schüttelte brüsk seinen Kopf, und sogleich klingelte es an der Wohnungstür. „Das ist für mich“, sagte er da, „euch allen eine gute Nacht.“

      Und fort war er. –

      Konnte der Staat schließlich mit all seinen Facetten jene Werte widerspiegeln,