Kathrin Sereße

Noir & Blanc


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Was ist wichtiger, der Job oder Ihr Leben? Heute brauchen wir Ihr Leben. Kommen Sie.“

      Er biss sich auf die Unterlippe, trommelte mit seinen Fingern auf der Wand. –

      „Gut“, sagte er und hielt mir seine rechte Hand hin, „einen Ausflug, Sie und ich.“

      Ich war so aufgeregt wie er. –

      Vor der Tür war es kalt und düster, wir hasteten über feuchtes Kopfsteinpflaster, während Böen an uns rissen. In den Läden brannte Licht, man meinte Duft aus einer Bäckerei zu riechen, doch der Wind verschluckte ihn. Es war so furchtbar und großartig gleichermaßen; Flügel bräuchte man, um über diese grauen Dächer von Paris zu gleiten, dachte ich. Ganz ohne Worte von Worten allein getragen, diese kleine Welt umfassend und beschützend, wie ein warmer Sonnenkranz. –

      Er stöhnte klagend, doch dann gab Bradford es auf und musste grinsen, wie absurd dies alles war!

      An der Station reihten wir uns in eine Schlange, sahen in gehetzte Mienen, passierten die Ticketsperre, und schon schluckte die Untergrundwelt uns ganz; ein schrilles Kreischen, Bahnen sausten, Menschen drängten sich in überfüllte Wagen, ausblendend, auf sich alleine fokussiert, doch ich musste es alles sehen, musste hören, viel zu schnell und viel zu viel, all diese Dinge, die ich niemals wissen würde. –

      Bradford fragte: „Wohin geht es?“, doch das war die falsche Frage, denn kein Mensch stieg in die Metro, wenn er sich dieselbe stellte.

      Kurz entschlossen winkte ich, wir stiegen ein und waren plötzlich mittendrin in dem Gedränge, und die Bahn schoss bereits los, tief in die Dunkelheit des runden, breiten Tunnels. Es ging schnell und Stille folgte auf dem Fuß, man redete nicht miteinander, über welches Thema auch, man kannte sich ja nicht einmal, sondern vertiefte sich in Bücher oder Zeitungen und wollte ganz vergessen, dass man sich mit fremden Menschen in intimster Nähe fand, die zufällig alle denselben Zielort hatten wie man selbst, und diesen dennoch Welten entfernt aufsuchten. Man gab sich auf und wurde unsichtbar, entbehrlich, wie ein Schatten. –

      „Ich weiß nicht…“, murmelte Bradford in das Rattern vieler Räder, während farbige Graffitis in der Finsternis aufblitzten, Worte, Bilder, Schreie, Augen. Sein Gesicht lag tief im Schatten und er sah auf mich hinunter, denn wir waren uns so nahe wie noch nie.

      „Vergessen Sie es“, antwortete ich, „vergessen Sie, woran Sie gestern dachten!“

      „Das ist einfach“, meinte er, „es war nur Unerfreuliches.“

      „Schauen Sie jetzt“, fügte ich an.

      Er schüttelte verwirrt den Kopf, er ließ die Blicke schweifen, sah nichts, wollte nichts sehen, auf dass man ihn nicht sah. –

      „Wer kann es sich denn bitte leisten, zu vergessen?“, fragte er. Und leise: „Sie etwa?“

      Fremd und fraglich erschien ihm diese Reise, da er nicht erahnen konnte, was sie war. Er gab, was er Kontrolle nannte, an mich ab, und ich an den, dem ich vertraute.

      Hierin lag der Unterschied. –

      Die Leute kamen und sie gingen, austauschbar, nur graue Schatten. Ich betrachtete sie alle, suchte Farben, fand nur Trübung, fahlen Nebel fernen Lebens. Es war die unterste Ebene der Stadt,, die deren wahren Kern entblößte, die in nackte Seelen schaute, und es gruselte mich so! Ich würde sie nie wiedersehen; oder doch? Konnten sie sprechen, konnte jeder hier ein Wort des Leides sprechen? Und der Hoffnung? –

      Bradford Seamon sah nun aus, als sei ihm übel. Sehr verloren war er, elender als sonst, dabei hatten wir uns nur von den trauten Pfaden unsres Alltags abgewandt.

      Austauschbar waren auch wir hier, wollten es sein, und so sprangen wir aus dem Wagen und erklommen eine Treppe, helles Tageslicht umspielte unsre Augen. Ringsherum brauste Verkehr in stetem Maße, es stank unerträglich nach Autoabgasen, Paris war es.

      „Wie leer es doch vor dem Automobil war, und dennoch stelle ich es mir viel voller vor“, rief ich ihm zu.

      „Nun, sicherlich…“, war seine Antwort.

      „Wie sehr sie doch Menschen voneinander trennen, so ganz anders als dort unten, wo nur Wände aus Gedanken zwischen uns sind. In der Metro ist es schwer, aber hier draußen halten wir die anderen auf weitem Abstand. Haben Sie darüber einmal nachgedacht? Der Fortschritt macht uns furchtbar einsam.“

      „Ich begrüße die Distanz.“

      „Ja, in Paris erscheint sie sinnvoll“, gab ich zu. „Haben auch Sie sich schon gefragt, wer all die unzähligen Bilder an die Wände dieser Tunnel gesprayt hat? Er muss verrückt gewesen sein!“

      „Das war er wohl.“

      Es war ein merkwürdiger Tag und ich sah Dinge, die ich sonst nur selten wahrnahm, ein Stück Wäsche, nass im Wind, am Vorabend an einer Leine vergessen oder absichtlich dort gelassen, eine leere Whiskeyflasche mitten auf dem Trottoir und ein Plakat: So kommen Sie zu unsrer großartigen Show, seien Sie Teil des Spektakels! Längst vorbei und lang verjährt…

      „Und hinter allem, was wir sehen, steht ein Mensch, jedes Detail in dieser Welt hat zwei Seiten, nämlich zum einen die Geschichte, die erzählt, wie man es schuf, und schließlich jene, die erst dann entsteht, wenn ein andrer es sieht. Sofern er sieht“, mutmaßte ich.

      „Ich muss bekennen, dass ich Sie erneut als wunderlich betrachte, Mademoiselle“, bemerkte Bradford.

      „Gar so wunderlich nun auch nicht“, sagte ich. „Sie müssen hinschauen.“

      Und denken, ja, was denken Sie hierzu, was finden Sie? Was ist das, eine Avenue, und wozu dient sie, wohin führt sie? – Denn wir stehen auf der Straße, in Paris, und was bedeutet das für Sie? Ist es Paris? Oder auch nicht? Wer weiß es schon, Monsieur... Und eine Mauer sehen wir, sie steht hier vor uns, hoch ist sie, und was dahinter? Nur nichts Neues auf der Welt? Vielleicht denkt man das auf der andren Seite auch, wozu die Mühe, wozu suchen, was nicht offenkundig ist? Und wären Sie nicht ohne mich strikt an der Wand vorbeigegangen? –

      Wir konnten niemals die ganze Welt regieren, doch regieren war so einfach, und der Alltag war die Manifestation unsrer Regentschaft. Angepasst und dennoch unabhängig – frei? Wer waren wir, wenn wir sie nur für eine kurze Zeit aufgaben und versuchten, weiterhin zu existieren, nicht im Nichtsein zu verschwinden? Wer waren wir, wenn wir die Mauern betrachteten und uns verzweifelt fragten, ob wir selber sie vor langer Zeit erbauten? –

      Wir standen vor einer Friedhofsmauer und es regnete inzwischen nicht mehr, doch es wehte noch konstant und roch nach Herbst, so stark, dass einem schwindlig wurde.

      „Weswegen bauen wir um Friedhöfe Mauern?“, fragte ich.

      „Weil der Tod uns widerstrebt, er macht uns Angst. Wir ziehen Grenzen mit der Absicht, uns zu schützen. Dabei ist es paradox, denn auf dem Friedhof liegen wir und unsre Lieben“, sagte er. „Nach Ihnen….“

      Père Lachaise.

      Die wohl berühmteste Begräbnisstätte von Paris. War sie berühmt oder die Menschen, die hier lagen? Sie waren es über ihren Tod hinaus, das garantierten die verwitterten Steinmale, die erinnerten, an Leben, das längst fort war und doch Spuren hinterließ.

      Wir wanderten durch eine Steinwüste von Toten, die sich ohne Ende an den Horizont erstrecken mochte. Außer uns, Bradford und mir, erschien sie leer und längst verlassen. Unser Atem ging im Gleichklang. Obwohl Père Lachaise so wüst war, war es dennoch eine Stadt, in der ein jeder seine Wohnung, seine Gruft oder sein Grab, erhalten hatte, doch der Unterschied zur Stadt da draußen lag in der Erstarrtheit, es bewegte sich nichts mehr, man war verdammt zu einer unendlichen Rast. Es gab zwar Bäume, Treppen, Wege, trotzdem führten sie von einem Grab zum nächsten, immer wieder, endgültig. Wer kam in diese Totenstadt, wen sehnte es, sie zu besuchen? Warum staunten wir darüber, unbegreifbar fasziniert und abgestoßen? So durfte es doch nicht enden, es war nichts, es existierten weder Leben noch der Tod. –

      Der Mensch war fort und jeder Körper hatte seinen Zweck erfüllt, es war zu Ende, und so war ein Friedhof nichts als eine Aufbewahrungsstätte