Mitja Peter

Die Heimkehr der Jäger


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ureigene Schüchternheit und Einsamkeit dieses jedenfalls außergewöhnlichen Menschen verbargen.

      - "Er sieht aus wie einer, dem die Mädchen in Scharen nachlaufen," sagte Carla, "doch ich wette, er war zu diesem Zeitpunkt, was das betrifft, noch eine ziemliche Unschuld."

      - "Mag sein", sagte Marie überrascht, "ist das aber so wichtig?"

      - "Nein", sagte Carla, "Entschuldige."

      - "Sprich nur weiter", sagte Marie, "was fällt Dir noch an dem Foto auf?"

      - "Ich glaube, es ist im Süden Europas aufgenommen worden. Das Licht auf der Mauer im Hintergrund ist Mittelmeerlicht."

      - "Ja", sagte Marie, "und weiter?"

      - "Nichts weiter", sagte Carla und gab Marie das Foto zurück, "du liegst also in einer Pension in Irland im Bett und bist krank..."

      "Ich lese Dir jetzt eine Passage aus seinem Tagebuch vor", - Marie schlug das kleinformatige, aber dicke, zwischen stabilen Deckeln gebundene Heft auf und las: "Früh am Morgen - ein herrlicher Sonnentag kündigte sich an - bauten wir das Zelt auf der Wiese hinter der Dorfkneipe ab und verließen Doolin. Ich bestand darauf, dass wir uns bereits am Ortsausgang trennten, da für einen allein die Chancen größer seien, von einem Auto mitgenommen zu werden. Ben war davon nicht begeistert. Er wollte, dass wir zusammenblieben, doch ich ließ mich nicht umstimmen. Unser Ziel war zunächst Limerick. Dort wollten wir uns wieder treffen, um dann mit dem Zug weiter nach Killarney zu fahren. Ben wanderte also los, die Strecke bis Lisdoonvarna würden wir wahrscheinlich zu Fuß zurücklegen müssen. Ich blieb noch zurück und brach eine halbe Stunde später auf. Unterwegs auf der Landstraße begleitete mich eine Wegstrecke lang ein Farmer, mit dem ich ein schönes Gespräch über das Wetter hatte. Der Morgenwind strich über die Hecken und Wiesen, von denen einige am Vortag gemäht worden waren; die weiß getünchten Wände der kleinen Cottage-Häuser entlang der Straße leuchteten in der Sonne und bunte Blumen verzierten die Fenster. In Lisdoonvarna setzte ich mich an einer Kreuzung außerhalb des Dorfes ins Gras und wartete.

      Lange Zeit kamen weder ein Auto noch ein Pferdefuhrwerk vorbei. Ich legte meinen Kopf gegen den Rucksack und schaute zum Himmel, wo der Wind die Federwolken zerpflückte. Endlich hörte ich ein Motorentuckern. Ein Lieferwagen näherte sich. Ich stand sofort und winkte. Zwei Männer saßen darin, offenbar Vater und Sohn. Sie nahmen mich mit bis Ennis. Während der Fahrt hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen Ben. Womöglich steckte er noch in Lisdoonvarna, dachte ich. Er hatte keine Erfahrung im Trampen und war wahrscheinlich in das Ort hineingelaufen, statt am Ortsrand auf einen Wagen zu warten. Der unsinnige Gedanke kam mir, wir könnten uns völlig aus den Augen verlieren. Zum wiederholten Mal während dieser gemeinsamen Reise nahm ich mir vor, ihm alles zu gestehen - doch auch heute Abend, als wir wieder zusammen waren und erst spät eine Unterkunft fanden, gelang es mir nicht. Es kam mir einfach nicht über die Lippen." -

      Marie blickte von den Zeilen auf und sah Carla in die Augen.

      - "Es gibt noch einige Stellen dieser Art", sagte sie, "aber offenbar hat er es während der gesamten Reise nicht über sich gebracht, sein Geständnis oder was immer abzulegen. Immer wieder klagt er sich deshalb der Feigheit an."

      - "Und Du hast keine Vorstellung, was er unbedingt loswerden wollte", fragte Carla. - "Nein," sagte Marie, "wüsste ich es, so wäre vielleicht alles klarer, alles, wo er ist, warum er verschwand."

      - "Und wie ging es weiter?" - "In Vaters Geschichte oder in meiner eigenen?" - "In Deiner Geschichte," sagte Carla.

      "Nun. Auch ich trampte nach Killarney. Sie hatten sich dort wohl entschlossen, ihre Reisepläne zu ändern, um schneller, als sie bisher geplant hatten, nach Südeuropa zu kommen. Zuvor wollten sie aber noch einen Freund in Edinburgh besuchen. Als sie mit der Fähre in Schottland ankamen, war es bereits spät am Nachmittag und sie wussten nicht, wo sie die Nacht verbringen sollten. Ein Nachtzug nach London lockte sie, aber sie entschieden sich doch, den Zug nach Glasgow zu nehmen, auf halber Strecke auszusteigen und irgendwo das Zelt aufzuschlagen." - Marie blätterte und las vor: "Langsam kroch die Bahn hinauf ins schottische Hochland. In der Dämmerung tauchte neben den Gleisen ein langmähnig-düsteres Rind auf, starr, erhobenes Haupt, einem Urtier ähnlich, eine dunkle Masse, bleiche, große Hörner, stand es unvermittelt da, glotzte aus unsichtbaren Augen. Wie einladend schimmerten in den Senken die warmen gelben Lichter aus den Fenstern der Farmhäuser. Es war fast dunkel, als wir in Ayr an der Westküste ausstiegen und uns gleich in die Felder schlugen. Es stürmte und wir hatten große Mühe, bis das Zelt stand. Zu Essen hatten wir nichts mehr. Da wir befürchteten, vom Besitzer des Ackers ertappt zu werden, wagten wir es nicht, das Zelt und unsere Sachen allein zu lassen, um noch einmal in die Stadt hinab zu gehen. Die Mulde am Feldrand bot ebenso wenig Schutz vor dem Sturm wie die Hecke, neben der wir lagerten. Wir krochen in unsere Schlafsäcke. Doch ich fror und konnte nicht einschlafen. Bis zum Morgengrauen flatterte das Zelt unter den nicht nachlassenden Windstößen. Ich nickte kurz ein, träumte wirr, erwachte fröstelnd, so ging es über Stunden. Ben schlief fest, fühlte sich offenbar behaglich wie in einem Vier-Sterne-Hotel. Er hat einen viel besseren Schlafsack als ich. Ich hasste ihn dafür, am unbehaglichsten aller Orte ruhig schlafen zu können. Meine Gedanken kreisten um alles, was geschehen war. Bisher hatte er mir nichts erzählt. Begreiflich, dass ich nicht in ihn drang. Auch er trug Unaussprechliches in sich. Das Schweigen würde unsere Freundschaft aber auf Dauer mehr belasten als die gegenseitig eingestandene Wahrheit. Meine Gedanken rutschten hinab wie auf einer schiefen Ebene. Mir war plötzlich klar, warum es ihm so leicht fiel unter diesen widrigen Umständen einzuschlafen. Einmal in der Nacht zwang mich meine Blase aufzustehen; nachdem ich mich draußen erleichtert hatte, sank ich neben dem Zelt auf die Knie nieder und starrte in die Dunkelheit. Zwischen den windgejagten Wolken blitzten einzelne Sterne. Dort, wo ich das Meer vermutete, war in der Ferne eine dunkle Masse auszumachen, die ich mir nicht erklären konnte. Das Rattern eines langsam durch die Nacht fahrenden Zuges war zu hören. Wieder im Zelt genoss ich für Minuten die trügerische Wärme meines Schlafsacks, die aber bald wieder verflog. Endlich wurde es hell. Ben erwachte und wir bauten das Zelt ab. Wir wanderten wieder hinab in die kleine Stadt. Fast alle Geschäfte und Lokale hatten noch geschlossen. Wir suchten lange, bis wir etwas fanden, wo wir wenigstens einen Tee trinken konnten. Danach kauften wir Toast, Butter und Marmelade, setzten uns an der Strandpromenade auf eine Bank und frühstückten. Der Sturm hatte eine grau-diesige Luft zurückgelassen; der Dunst dämpfte alle Konturen der Strandhäuser, der Klettergerüste auf einem Spielplatz. Der Nebel lag als milchiger Schleier über dem Meer. Nicht weit von der Küste entfernt, zeichnete sich aber darin ein mächtiger schwarzer Felsen ab, wie eine Vision, ein unzugänglicher Nistplatz für Seevögel. Wie der Felsen dort schemenhaft aufragte, schien er ein Überrest aus einer früheren, vormenschlichen Epoche der Erdgeschichte zu sein."

      Marie schlug das Tagebuch zu, nippte an ihrem Milchkaffee und schaute in Carlas klares Gesicht mit den immer etwas geröteten Wangen und den olivgrünen Augen. - Carla sah es Marie an der Stirn an, dass sie über einige der soeben vorgelesenen Passagen seit langem nachdachte.

      - "Hast Du Angst vor der Wahrheit", fragte sie.

      - "Ich würde ihn gerne achten können", sagte Marie.

      "Er scheint in seinem Leben das Gute und das Böse bis zum Grund ausgelotet zu haben", sagte Carla. - "Und Deine Mutter," fuhr sie fort, "weiß sie von diesen Andeutungen, diesem Geheimnis, weiß sie vielleicht sogar, welches Vergehen oder was immer er Goldberg gestehen möchte?"

      - "Nein", sagte Marie, "er hat ihr meines Wissens nach nichts über die Freundschaft mit Goldberg erzählt; und das Tagebuch fiel ihr erst nach seinem Verschwinden in die Hände."

      - "Wie verlief die Reise der beiden weiter?" fragte Carla.

      "Zunächst einmal nach Edinburgh, wo sie in einem Villenvorort einen Freund besuchten, der dort seine Ferien verbrachte. Es folgten erholsame Tage, endlich schlugen sie sich wieder einmal den Bauch voll, schliefen in einem festen Bett, konnten duschen. Obwohl sie unangemeldet erschienen waren, wurden sie von der schottischen Gastfamilie ihres Freundes aufgenommen wie alte Bekannte und für alle vergangenen Strapazen entschädigt. Sie fühlten sich sofort wie zu Hause. Noch am Abend ihrer Ankunft nahmen die Töchter ihrer Gastgeber sie mit zu einer Strandparty. Vater hielt im Tagebuch fest, dass