Mitja Peter

Die Heimkehr der Jäger


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gelegter Faust und ließ ihre geballte Hand dann auf den Stapel knallen. Die anderen Studenten in der Bibliothek drehten sich nach ihr um, glotzten verwirrt und wandten sich dann wieder ihren Büchern oder Manuskripten zu, gleichgültig wie Kühe, die ihre Mäuler wieder ins Gras hinab senken. Irene hätte laut schreien mögen. Stattdessen nahm sie einen Ordner aus ihrer Tasche und blätterte darin, hier und da etwas mit Bleistift anstreichend. Die Wissenschaft will immer Lösungen. Ich kann ihr aber nur mit Zweifeln und Fragen dienen, dachte sie einmal und notierte es am Seitenrand. Der Morgen verging. Am Mittag ließ sie sich von zwei Mitstudenten überreden, in der Mensa zu essen. Sie willigte ein, weil sie heute länger in der Bibliothek arbeiten wollte, als sie ursprünglich geplant hatte - denn Piero holte ja nun Max von der Krippe ab.

      In der Mensa saßen sie zufällig mit einigen Naturwissenschaftlern an einem Tisch, unter denen eine angeregte Diskussion im Gange war. Während des Essens hörte Irene, ohne von ihrem Teller aufzublicken, dem Gespräch zu. Auf ihre beiden Begleiter achtete sie überhaupt nicht mehr, gab nur einmal fast widerstrebend Auskunft, nachdem sie mehrmals angesprochen worden war. Dagegen lag ihr hin und wieder etwas auf der Zunge, was sie zu der Diskussion nebenan gerne beigetragen hätte. Sie wagte es aber nicht. So wie sie verstand, hatte eine von namhaften Wissenschaftlern unterzeichnete Resolution die Debatte ausgelöst. Die Unterzeichner begrüßten die Fortschritte in der Gentechnik und setzten sich für weitere Forschungen auf diesem Gebiet ein. Ein großer, sehr aufrecht sitzender Student, der eine kleine randlose Brille trug, sagte, als sich Irene mit ihrem Tablett gerade gesetzt hatte: "Hat die Vernunft jemals ein moralisches Problem gelöst? Zweite Frage: Hat sie sich nicht höchstens darüber hinweg gesetzt?"

      - "Der Begriff Vernunft müsste zunächst definiert werden", warf ein Mädchen ein, das zugleich Irene grüßend zulächelte.

      - "Befürworter und Gegner der Technik haben unterschiedliche Auffassungen, was vernünftig ist."

      - "Vieles in der Wissenschaft scheint mir ausschließlich irrational fundiert zu sein, "fügte ein dritter Student hinzu, der gerade beim Schälen eines Apfels war.

      - "Wann kommst Du wieder mal zum Tennis?" fragte das Mädchen, mit dem Irene den Gruß getauscht hatte.

      - "Mit dem Kleinen ist das schwierig. Ich hätte dann ein schlechtes Gewissen, da ich sowieso so wenig Zeit für ihn habe", sagte Irene. Sie wunderte sich über das Angebot, denn zum letzten Mal hatten sie vor vielleicht drei Jahren miteinander Tennis gespielt, und nun war es so, als habe dieser lange Zeitraum überhaupt keine Bedeutung.

      "Jedenfalls sind diejenigen, die sich etwas auf ihre Rationalität einbilden, seien es Politiker, Manager oder Wissenschaftler, häufig unberechenbar wie Kinder, und im Gegensatz zu diesen auch dumm, arrogant und gewissenlos", sagte der Student mit der randlosen Brille. Sein Gesicht war von Narben übersät, die Haut hell und fleckig.

      Irene war von seinem selbstbewussten Reden beeindruckt.

      Ein anderer griff nun offenbar einen früheren Punkt der Diskussion wieder auf. Während sich noch Widerspruch gegen die letzte Behauptung regte, sagte er: "Nicht nur die menschliche Natur, alle Natur ist einzigartig und heilig."

      - "Warum ist sie heilig", fragte Irenes Bekannte.

      - "Sie ist heilig, weil sie ein Geheimnis ist."

      - "Womit wir uns abfinden sollten," sagte der Narbengesichtige, der offenbar gar kein Naturwissenschaftler war, "wir wundern uns über das Dasein, wir staunen über seine Schönheiten, wir selbst sind Teil dieses Ungeheuren. Was fassbar ist, ist nicht mehr schön. Und die Natur ist mächtiger. Ich stelle mir manchmal ein Forschungslabor in Kalifornien vor. Dort wird eine große Entdeckung gemacht, eine einmalige Sache. Alle sind euphorisch. Und im gleichen Augenblick, als sie ihr "Heureka" schreien, bebt die Erde, ein großes Beben, in wenigen Sekunden sind von dem Labor nur noch Trümmer übrig."

      - "Mich fragte mein kleiner Neffe neulich, was denn die Schwerkraft sei und während ich es ihm in üblicher Weise zu erklären versuchte, merkte ich, dass nicht nur ich, sondern niemand ihm eine wirklich befriedigende Antwort würde geben können. Und so ergeht es uns mit fast allen diesen Kinderfragen. Sie rühren meist an Dinge, die auch uns Erwachsenen letztlich unerklärlich sind."

      Diese schüchtern vorgebrachte Äußerung eines Studenten, der bisher geschwiegen hatte, wurde von kaum jemand wahrgenommen, denn alle hingen noch dem Bild des zerstörten Labors nach und versuchten daraus einen philosophischen Schluss zu ziehen. Nur Irene hatte zugehört und sah den jetzt wieder schweigenden Studenten aufmerksam an, während bereits der augenscheinlich Älteste am Tisch, ein Dozent, dessen ungewaschenes Haar mit einem nur lose zugeknöpften, zerknitterten weißen Hemd korrespondierte, empört ausrief: - "Aber dann wäre ja alles sinnlos! Wenn nur ein einziger Forscher das Beben überlebt, dann baut er das Labor wieder auf und die Entdeckung wird irgendwann wiederholt und doch bekannt. Wir wissen, dass unsere Gedanken, Gefühle, Sehnsüchte und Erinnerungen auf elektrochemischen Prozessen im Gehirn beruhen. Wir sollten uns von dem seelenvollen Wesen, das wir bisher annahmen, verabschieden."

      - "Selbst wenn dies wahr wäre", erwiderte der Angegriffene, "würde sich damit irgendetwas verändern? Die Entdeckungen der Hirnforscher können den Begriff Seele nicht überflüssig machen."

      - "Ja, das glaube ich auch", pflichtete jemand bei.

      - "Selbst wenn es gelingen würde, diese Gehirnvorgänge chemisch und physikalisch völlig zu erforschen, wenn wir also sagen könnten: das Gefühl der Liebe zu A wird in B so und so bewirkt und noch weiter, B liebt gerade A und nicht C, weil dies und jenes in seinem Hirn Ursache dafür ist, so hätten wir bloß Formeln und nicht mehr."

      - "Formeln vermögen aber sehr konkrete Dinge in komprimierter Form darzustellen", warf der Dozent ein.

      - "Das ist richtig", sagte der Narbengesichtige, "aber es blieben Fragen. Wir wären noch nicht am Grund angekommen. Ein anderes Beispiel: Fänden wir heraus, wann und wodurch das Universum entstanden ist, würde sich etwa auch die Theorie des Urknalls bestätigen: es blieben Fragen. Was war zuvor und warum war es so? Warum gibt es etwas und warum so und nicht anders?"

      - "Naiv!" schrie der Dozent in die Runde.

      - "Wir driften ab von unserem eigentlichen Thema, "sagte der Student mit der randlosen Brille, der so aufrecht da saß und jetzt gerade bedachtsam ein Joghurt auslöffelte.

      - "Ja", sagte auch Irenes Bekannte, "wir sprachen doch über die Gentechnik. Über künstlich geschaffene Menschen und..."

      "Künstliche Menschen", sagte der Student mit der leisen Stimme, dem auch jetzt wieder nur wenige zuzuhören schienen. - "Was für eine Lächerlichkeit! Den Forschern geht es doch nicht um das Wohl der Menschen, es geht ihnen nicht einmal so sehr um Ruhm oder Geld, es geht ihnen vor allem darum, weiterspielen zu dürfen, in möglichst großer Freiheit experimentieren zu können. Das ist ihr Sport. Sie sind Kinder. Der Zellhaufen, das Reagenzglas, die Pipette, das Mikroskop: das sind ihre Spielzeuge." Den beiden Archäologen gelang es doch noch, Irene in ein Gespräch zu verwickeln. Sie schnappte nur noch hier und da einen Satz aus der Debatte auf. Sie wurde immer dann hellhörig, wenn der junge "Häuptling Narbe", wie sie ihn im stillen für sich nannte, sich zu Wort meldete, mit einer kräftigen, lebendigen Stimme, die unwillkürlich aufhorchen ließ: "Aber warum gestehen wir dem Menschen eine Würde zu und warum soll sie unantastbar sein? Warum heißt es: Du sollst nicht töten! Das Selbstverständliche zu begründen - das ist die schwerste Aufgabe."

      Noch als sie schon wieder in der Bibliothek saß, dachte Irene über diese Worte nach. Den langen Sommernachmittag hin brütete sie dann über den Büchern, die ihr Madame Bastide herausgesucht hatte. Doch auch in ihnen fand sie keine Erklärung für das Fehlen der Cella. Was angeboten wurde, waren Scheinlösungen. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich alles als pompöse Kulisse zur Täuschung des Lesers. Durch die weit geöffneten großen Fenster strömten die warme Luft und die Düfte der Sträucher im Innenhof herein in den Saal. Die Stimmen der Studenten, die unten im Schatten saßen, drangen manchmal herauf und das Rauschen der Stadt erfüllte den blassblauen Himmel über den Dächern der Fakultät. "Ich bin gar keine Wissenschaftlerin", sagte sie sich zum wiederholten Mal, als sie später aus dem kühlen Gebäude in die warme Luft des Abends hinaustrat, die sie weich und besänftigend