Mitja Peter

Die Heimkehr der Jäger


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ihre Blicke trafen sich. Es ist meist leicht, die besten Collegefreunde einer Zielperson herauszufinden", schloss Cawthra seinen Bericht und es klang nicht arrogant, sondern besänftigend, als er dann sagte: "Sie haben gar nicht daran gedacht, Goldberg zu besuchen. Sie konnten es nicht einmal, denn im Tagebuch steht wohl nur der Vorname Daniel."

      - "Nein, er nennt ihn Dan oder auch Ben", sagte Marie. Mit einer abrupten Bewegung entfernte sie sich einige Schritte von ihm. Er blieb an die Brüstung gelehnt stehen und sah ihr zu, wie sie umherging. Es war, als wolle sie mit jeder Geste ihre Unabhängigkeit beweisen. Ihre kindliche Schroffheit amüsierte ihn. Sie war von einer Aura des Unbehausten umgeben, die sich tief aus ihrem Inneren nährte, doch zugleich auch nur ein Habitus sein mochte, den sie vielleicht schon vor Jahren am Ausgang der Kindheit angenommen hatte. Er folgte ihr nicht und wartete, zündete sich eine Zigarette an. Es war wie ein Spiel und Cawthra war sicher, dass er es gewinnen würde. Tatsächlich schlenderte sie nach einer Weile zu ihm zurück, und er bemerkte die Verunsicherung im Blick ihrer verschatteten Augen.

      Piero, der von einer anderen Seite aus in die Tiefe geschaut hatte, schloss sich ihnen wieder an. Ein Gespräch über Sehenswürdigkeiten in Paris, über besuchenswerte Lokale und neueste Filme entwickelte sich. Gemeinsam verließen sie die Grande Arche. Unter der Wolke hatten die Vorbereitungen für ein Rockkonzert begonnen, das am Abend des folgenden Tages stattfinden sollte. Sie gingen die Freitreppe hinab und über den Platz von La Defense auf das jetzt still stehende Karussell zu. Von dort blickten sie noch einmal zurück. Der monolithische Bau wäre würdig gewesen ein Tor zu einer anderen Welt zu sein. Trotz seiner vollendeten geometrischen Klarheit verwies er auf ein Geheimnis, kündete von einer unsagbaren Hoffnung. Es war, als wolle diese Architektur mit revolutionärer Unbedingtheit ihre Utopie gegen alle realen Widerstände durchsetzen.

      Sie blieben neben dem Karussell stehen und Cawthra sagte plötzlich leichthin: - "Ich glaube, dass er in Italien lebt."

      Marie schwieg und starrte auf die grauen Steinplatten unter ihren Füßen. - "Bloß eine Intuition", sagte Cawthra, "ich werde morgen noch einmal nach London fahren und mit Goldberg sprechen. -

      Möchten Sie mitkommen?" fügte er in möglichst beiläufigem Ton hinzu. - Marie zögerte: "Warum... " - sie blickte noch immer zu Boden - "Ich dachte dies sei nicht ihr Auftrag."

      "Sie wollen also ihren Vater weiterhin allein suchen? Sie glauben ihn zu finden, indem sie Europa kreuz und quer bereisen und dabei in einem alten Tagebuch lesen?"

      Piero nickte Marie aufmunternd zu, doch sie sah ihn überhaupt nicht an und ging rasch davon in Richtung einer Metrostation. Als die beiden sie wieder eingeholt hatten, hob sie mit einem Ruck wie in plötzlicher Entschlossenheit den Kopf und sagte: "Nein! Sprechen Sie allein mit ihm. Ich kann Sie ja doch nicht davon abhalten. Hauptsache, Sie verfolgen mich nicht mehr."

      - "Wir könnten uns dann spätestens Samstag wieder treffen", sagte Cawthra.

      "Ja, kommen Sie zu Carla", doch als er sofort zustimmend nickte, rief sie: "Ach, Sie kennen ja gar nicht die Adresse!" Cawthra verzog Augenbrauen, Wangen und Mund zu einer Grimasse. Aus Marie brach prustend ein schallendes Lachen hervor, was ihr seit langem nicht mehr widerfahren war.

      "Nehmen Sie es mir nicht übel, wir sind nun mal eine der besten Agenturen Amerikas und außerdem - nennen Sie mich doch Richard, Sie auch Piero. Bis zum Samstag. Ich rufe an", - und er war die Treppe zur Untergrundbahn schon halb hinab gesprungen, da drehte er sich nochmals um, winkte und lief dann erst tiefer hinab.

      II.

      An jedem Morgen war Irene als erste in der Küche, um die Milchflasche für ihren zweijährigen Sohn zuzubereiten. Carla und Marie schliefen noch. Während Irene auf das Aufschäumen der Milch wartete, trat sie kurz ans Fenster und lauschte auf das gleichmäßige Brausen des Verkehrs, der über den nahen Platz strömte. Ab und an polterte ein Lastwagen beim Überqueren einer Bodenwelle. Dann wieder war ein Hupen zu hören. Gegenüber im Nachbarhaus schlug die Haustür ins Schloss. Jemand hustete und dann hörte sie, wie schwere Müllsäcke zur Straße hinaus geschleift wurden. Gleich mit dem Aufwachen kreisten Irenes noch dumpfe Gedanken wieder um ihre Arbeit. Die immergleichen Wortfolgen schwirrten ihr in den Sinn wie lästige Fliegen. Auch im Schlaf schien ihr niemand diese Last abzunehmen, die sie sich selbst auferlegt hatte. Eine Last, die erst mit den Jahren zur Qual geworden war, seit ihr bewusst war, dass sie ihrem Anspruch nicht würde gerecht werden können. Wie jeden Morgen und Abend füllte sie die Milch aus dem Topf in die Flasche um, schraubte den Deckel zu und stellte die Flasche in einen Behälter mit kühlem Wasser. Seit sie das Kind hatte und sich so viele Handgriffe täglich wiederholten, kam ihr das Leben in vielen Stunden eintöniger vor, doch empfand sie zugleich in Momenten der Besinnung, etwa am Abend sobald sie den Kleinen schlafen gelegt hatte und noch eine Weile im dunklen Zimmer neben seinem Bett lag, jeden Tag als ein Abenteuer, eine mühselige, alle Kräfte beanspruchende Wanderung durch ein unbekanntes Land. Aber diese Entdeckungsreise im Alltag der Erde führte zu keinem Ziel. Sie stieß auf kein weites, grünes Tal mit schimmerndem Bach und zierlichen Uferbäumen, kein Ort des Bleibens tat sich hinter einer Biegung auf, sie fand kein Gold, keinen fremden Eingeborenenstamm, keine pflanzenüberwucherte Stadt. Die Mühe begann jeden Morgen neu. Ich bewege mich im Kreis, dachte sie und setzte Wasser für Tee auf. Seit sieben Jahren arbeitete sie an einer Dissertation über die Anlagen von Segesta. Dabei war ihr aufgegangen, was für eine illusionäre Gaukelei die Wissenschaften sein konnten. Zu Ruhm gelangte man offenbar nur, indem man sein Gewissen ablegte. Um Entdeckungen, Ergebnisse seiner Forschungen bieten zu können, schritt so mancher über Ungereimtheiten hinweg. Sie fügten die Gegenstände in ihren Händen ihren Vorstellungen, nicht umgekehrt. Wie selten war es, dass beide zu Deckung kamen. Irene aber war gewissenhaft. Sie wollte nichts bloß behaupten, sondern alles einwandfrei beweisen. Obwohl sie sah, dass fast alle in ihrem Fach Behauptungen erhoben, blendeten, das Kümmerliche ihrer Beweisketten vertuschten, und dennoch Erfolg hatten, rang sie selbst um Wahrhaftigkeit. Und scheiterte damit immer wieder, da die Wahrheit von Ereignissen, die mehr als zweitausend Jahre zurücklagen, sich jedem Zugriff nun einmal entzog. Sie goss siedendes Wasser über die Teeblätter. Den Wissenschaftlern ist vielleicht zugute zu halten, dass es oftmals ihre Begeisterung für das Fach ist, die sie Schwächen, die übertünchten Brüche ihrer Arbeiten, übersehen lässt. Sie selbst lassen sich dann täuschen von einer nach zermürbenden Gedankenstrecken gewonnenen Erleuchtung, die aber gerade tückischer ist als die seltene, unvermittelte Inspiration, deren Empfänger von ihr überrascht wird, tückischer daher, weil doch niemand von dem offensichtlichen Lohn seiner Bemühungen lassen will, während im anderen Fall das nie Gesuchte leichter auch wieder aufgegeben werden kann. Irene hatte die Begeisterung nur einmal erfahren. Damals war sie - knapp drei Jahre war es her - in Sizilien gewesen. Sie hatte an einer Ausgrabung in Segesta teilgenommen und hatte in den vier Monaten ihres Aufenthalts den Tempel und das Theater untersucht. Immer wieder war sie wie selig und benommen auf den Steinen des etwas unterhalb einer Bergspitze in den Hang gebauten Theaters gesessen und hatte die Freiheit des Schauens genossen. Vor ihr breitete sich die Landschaft wie ein Gleichnis der Erde aus. Das fruchtbare Tal spannte einen weiten Bogen zum Meer hin, umgrenzt von den Küstenbergen, deren sanftes Steigen in schroffe Gipfelfelsen mündete.

      Die Berge verschlossen den Raum nicht, sondern öffneten ihn, mehr noch als die nur erahnbare blau-diesige Ferne der Bucht von Castellamare, ins Weltweite. Stundenlang fotografierte und zeichnete sie, machte Notizen, unterbrochen nur von der Siesta, die sie im Schatten eines Baums oder im luftigen Zelt des Ausgrabungscamps hielt. Am Abend dann in dem kargen Zimmer des alten Bauerngehöfts, wo ihre Unterkunft war, bewertete sie ihr Tagwerk, verglich es mit Unterlagen und Büchern, die sie in ihrem Reisegepäck hatte, und breitete ihre Zeichnungen auf den Terrakotta-Fliesen des Bodens aus. Den kleinen Holztisch, der zur Zimmereinrichtung gehörte wie noch eine Truhe, ein Bett und ein Stuhl, hatte sie ans geöffnete Fenster gerückt. Dort las und schrieb sie, während draußen die Zikaden schrillten, begleitet vom leiseren Zirpen der Grashüpfer, und der Himmel über den Wipfeln der Pinien und Kiefern langsam in tiefstes Blau dunkelte. Irene nahm gerade das Teesieb aus der Kanne, als sie ein Trappeln kleiner Füße und dann ein kurzes, empörtes Stöhnen hörte. Da wurde auch schon die Küchentür aufgestoßen und Max stolperte verschlafen herein, ließ sich neben ihr fallen und begann zu weinen. "Ja doch, mein Schatz", sagte sie, "Guten Morgen" und hob ihn auf.