Mitja Peter

Die Heimkehr der Jäger


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werde, und verließ überstürzt den Waschsalon. Im flüchtigen Umdrehen nach ihr, sah er noch, wie sie sich achselzuckend ein Melonenstückchen in den Mund schob. Die Schwarze an der Kasse war inzwischen aufgewacht und sandte Piero ein müdes, wissendes Lächeln nach. Kaum auf der Straße nannte er sich einen Idioten, doch er kehrte nicht um, sondern lief hastig weiter, warf dann und wann den Kopf in den Nacken und schaute nach den ersten Sternen. Er lief die Rue de la Santé hinab und hatte für eine Weile die halb eingerüstete, sandhelle Kuppel von Val de Grace vor Augen, die in der violettblauen Abendluft leuchtete. Er überquerte den Boulevard de Port–Royal und bog in die schmale Rue Saint Jacques ein, der er bis zum Platz vor dem Pantheon folgte. Fast atemlos betrat er schließlich ein Kino, und während auf der Leinwand ein junger und ein alter Mann über Jahre hin nach einem von Indianern entführten Mädchen suchten, bereute er seine Flucht und empfand doch in der Selbstverachtung zugleich eine lang entbehrte Gewissheit. Im Waschsalon wunderte sich unterdessen Marie über die Tollkühnheit, mit der sie sich Piero genähert hatte, und sie vermutete, dass es neben der Not des Alleinseins vor allem der Wein gewesen war, der sie zu diesem forschen Auftritt getrieben hatte. Piero war ihr bereits wieder gleichgültig, doch als sie gemeinsam die Melone gegessen hatten, war sie von einer spontanen Zuneigung bewegt worden, wie es ihr lange nicht bei einem Jungen widerfahren war. Es sollte nicht noch einmal geschehen, beschloss sie, und sie umgab sich wieder mit dem Schild aus Indifferenz und Traurigkeit, hinter dem sie schon all die vergangenen Wochen des Reisens Schutz gesucht hatte.

      Marie zog zwei Tage später bei Carla ein; an Gepäck brachte sie nichts weiter mit, als eine etwas größere Ausgabe des Rucksacks, den sie im Waschsalon dabei gehabt hatte.

      Eine Woche verging und Piero hatte über der drängenden Arbeit an zwei Gemälden für eine kleine Galerie im Marais die Begegnung und den in seinen Augen beschämenden Abgang fast vergessen, da rief Marie ihn noch sehr früh am Morgen an und bat ihn in hastigen Worten um ein Treffen innerhalb der nächsten Stunde. Weil er ohnehin dort fotografieren wollte, schlug er ihr die Grande Arche vor, jenen neuen, gewaltigen Triumphbogen im Westen von Paris.

      Etwas später saß er schon auf den sonnenhellen Stufen der Freitreppe und beobachtete den weiten Platz von La Defense, der sich vor ihm öffnete wie eine Hochebene zwischen künstlichen Hügeln und Felstürmen, in deren Mitte sich ein leeres Kinderkarussell drehte. Plötzlich sah er auch Marie, die bereits am Fuß der Treppe stand und mit suchenden Augen die zahlreichen Lagernden streifte, bis sich ihre und Pieros Blicke endlich trafen. Das monumentale Bauwerk glich aus ihrer Perspektive der tiefen Laibung eines Fensters zum Himmel. Es war ein revidierter Turm zu Babel, der der Kommunikation der Nationen und der Humanität geweiht war. In der Antike hätte man diesen offenen Kubus wohl zu den Weltwundern gezählt. Piero erinnerte er wegen seiner zwar vollkommen anderen, aber ebenso klaren und schlichten geometrischen Form an die ägyptischen Pyramiden, so als habe sich hier ein moderner Pharao ein Denkmal setzen wollen. Marie war zu Piero hinauf gestiegen. Sie setzte sich lächelnd, aber grußlos neben ihn und nahm ihren Rucksack ab. "Hallo du Wanderin zwischen den Welten", sagte er, wobei seine Stimme nicht den lockeren Klang annahm, den er ihr geben wollte. Er versuchte ihrem Verhalten abzulesen, was sie denn nach seinem fluchtartigen Aufbruch im Waschsalon nun von ihm denken mochte. Sie schwieg zunächst und ihre Augen strichen unruhig über den Platz. Nach einer Weile lehnte sie sich gegen Pieros Schulter: "Siehst du den Mann dort am Karussell?" - Piero erkannte eine einsame Gestalt, die auf der Plattform des Karussells hockte und offenbar zu ihnen hinauf schaute. Er war einen Augenblick versucht, ihr sofort zuzuwinken. Marie schien seine übermütige Laune zu bemerken, denn sie legte eine Hand auf seinen Unterarm. - "Was ist mit ihm", fragte Piero, "ein schüchterner Verehrer?" - "Schüchtern nicht gerade", sagte Marie, "es ist ein Detektiv und er folgt mir vielleicht schon seit Wochen. Meine Mutter hat ihn engagiert. Vor einigen Tagen hat er sich mir vorgestellt. Meine Leibgarde. Ich habe ihm gesagt, dass er sich zurück nach New York scheren solle. Aber er ist nicht der Typ, der sich leicht abweisen lässt. Ich war heute Morgen in der Nationalbibliothek. Er saß zwei Tische hinter mir, über ein Buch gebeugt, aber ich spürte, dass er nicht las, sondern mich beobachtete. Drehte ich mich um nach ihm, so lächelte er mir freundlich zu. Nach einer Weile verließ er den Lesesaal. Ich atmete schon auf. Doch später, als ich mir in der Nähe der Oper ein Sandwich holte, sah ich ihn an der Ecke gegenüber aus einem Café kommen. Er blieb kurz stehen und wandte mir für einen Augenblick sein Gesicht zu, dann verschwand er rasch in einer Metrostation. Ich lief in ein Kaufhaus, wo ich mit der Rolltreppe ins oberste Stockwerk fuhr und gleich darauf mit dem Aufzug wieder hinab. Dann nahm ich die Metro, schaute mich unruhig im Abteil um, aber er war nicht unter den Fahrgästen. Doch als ich ausstieg, trat auch er zwei Wagen weiter aus der Bahn. Er blieb stehen, zog einen Plan aus einer Tasche seiner Jacke und studierte ihn. In einem Pulk von Menschen ging ich an ihm vorüber. Erst als ich hier unten an der Treppe stand, blickte ich zurück - und dort saß er dann, an dem Karussell." Piero schaute nachdenklich in die Ferne, wo der Tag der Weltstadt unter einem Meer von Dunst Sekunde für Sekunde sein einmaliges Geflecht webte. Er fühlte einen leichten Stoß in der Seite. "Hey! Hörst du mir denn auch zu?" -"Hast du etwas gefunden?" fragte Piero, "ich meine, über deinen Vater." - "Einige frühe Publikationen von ihm waren in der Kartei, aber nichts zu seiner Biographie." Sie kramte ein Notizbuch aus ihrem Rucksack und las in den Aufzeichnungen, die sie sich in der Bibliothek gemacht hatte.

      Piero fasste den Mann am Karussell wieder ins Auge und hörte nur nebenbei Marie zu, die ihm mit leicht belustigtem Tonfall die Titel der von ihr entdeckten Aufsätze vorlas: "Einige beiläufige Aspekte der Steady-State-Theorie, Notwendige Anmerkungen zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, Das Bose-Einstein-Kondensat und seine potentielle Bedeutung, Die Natur der mathematischen Wahrheit, Das Gibbs-Phänomen und die Äquivalenz von Mikro- und Makrokosmos." Er scheint noch jung zu sein, dachte Piero, etwa in meinem Alter, Ende zwanzig vielleicht. Die Menschen, die sich unten auf dem Platz bewegten, glichen beweglichen Figuren in einem Modell einer Stadt der Zukunft, die in den wechselseitig sich spiegelnden Türmen der internationalen Unternehmen im Umkreis schon verwirklicht war. Der Fremde hatte sich unterdessen nicht bewegt; aber auf den hinter ihm kreisenden Karussellfiguren saßen nun einige Kinder. Tatsächlich war er sieben Tage zuvor in das Studentenheim am Boulevard Arago gekommen, wo Marie eines der karg eingerichteten Zimmer bezogen hatte, die vorübergehend auch an Reisende vermietet wurden. Sie kniete soeben an dem hohen, fast bis zum Fußboden reichenden Fenster ihres Zimmers, da fiel das schwere Eingangstor, durch das man von der Allee aus den kiesbestreuten Hof betrat, ins Schloss. Sie hielt den Ankömmling für einen Studenten. Er wirkte etwas erschöpft, denn er lehnte sich zuerst an einen der schweren mit tiefgrünen Sträuchern bepflanzten Terrakotta–Kübel, die seitlich des Einganges standen und zog seine Jacke aus – eine alte hellbraune Lederjacke mit Strickbünden. Er ließ sie an einem Finger über die Schulter hängen und überquerte langsam, sich umschauend, den kleinen, stillen Hof. Gerade rauschten die Kastanien des Boulevards in einer Böe mächtig auf. Marie spähte zwischen den weißen Unterkleidern hindurch, die sie an den Voluten des kunstvoll geschmiedeten Geländers zum Trocknen drapiert hatte. Auch zwischen den breiten Lamellen des alten Fensterladens hatte sie einige Slips und Hemdchen zum Trocknen ausgehängt und auf dem schmalen Fenstersims standen ihre geputzten, schwarzen Wanderstiefel. Der Blick des Besuchers verharrte unweigerlich an dem mit Wäsche sozusagen dekorierten Fenster inmitten der lehmgelben Fassade. Es war ein städtisches Palais von schlichter Schönheit, vermutlich erbaut im 18. Jahrhundert. Sie wusste plötzlich, dass er aus New York kam und nach ihr suchte. Er trug ein kleines Bärtchen auf Oberlippe und Kinn und während er näher kam, fuhr er sich mehrmals durch das dunkle Haar und strich es nach hinten, bis keine Strähne mehr in die Stirn fiel. Marie richtete sich auf und lehnte sich mit den Unterarmen auf das Eisengestänge. Er rief in fragendem Ton ihren Namen und als sie nickte, stellte er sich vor und bat sie um ein Gespräch.

      Sie waren dann in den Garten auf der Rückseite des Hauses gegangen, wo unter Bäumen geschwungene Kieswege um Rasenstücke führten und anschließend hatte er sie noch in ein Café am Place Denfert–Rochereau eingeladen. Sie war kühl und abweisend geblieben. Sie fand das Vorgehen ihrer Mutter empörend und hatte es ihn spüren lassen. Ihn aber hatte ihr Zorn überhaupt nicht beeindruckt; er hatte vielmehr unentwegt so getan, als seien sie bereits ein großartiges Team und in manchen Augenblicken hatte seine jungenhafte Unverfrorenheit ihr wider Willen ein Lächeln abgenötigt. Sie traute ihm manche Tolpatschigkeit zu, doch zugleich spürte sie, dass er seine Arbeit