Mitja Peter

Die Heimkehr der Jäger


Скачать книгу

Seins."

      Sie blieben jetzt an einem hohen Pult stehen, auf dem ein Buch lag, so groß, dass es von einem Menschen allein nicht getragen werden konnte. Piero blätterte in dem riesigen Band, der nur Fotografien mit kurzen Kommentaren enthielt. Die Bilder zeigten Landschaften der Erde. Piero sah einen mit einem Poncho gekleideten Jungen, der Flöte spielend einen Hochweg in Bolivien dahinschritt; das Muster der Felder im Tal begleitete seinen Weg. Dann sah er wilde Pferde, grasend auf einem Gebirgsplateau in Wyoming; im Hintergrund ragte ein zylinderförmiger, an seinem sanft ansteigenden Fuß mit niedrigen Bäumen bewaldeter Felsen gegen den Himmel auf und das Schwarz-Weiß-Grau der Fotografie schien Piero dem wahren Bild dieser Landschaft näher zu sein als alle Farben. In dem Himmel schwebte eine einzelne leichte Wolke, deren Form an einen Fächer erinnerte. Während Piero noch in dem Buch blätterte, war Marie schon einige Stände weitergegangen. Sie setzte sich an einen Bistrotisch und eine Frau asiatischer Herkunft brachte ihr eine Tasse Tee. Piero blätterte eine weitere Seite auf und sah einen Berg, dessen schnee- und eisbedeckte Flanken sich gleichsam unvermittelt aus dichtbewaldeten Hügeln erhoben. Der breite, weiße Kegel ruhte zwar, leuchtend in der Abendsonne, in der Landschaft, schien aber nicht allein ein Teil von ihr, sondern ebenso auch des Himmels zu sein, dessen Farbtöne er gedämpft erwiderte. Es war, als könne man sich diesem Berg niemals nähern. Die Entfernung, aus der diese Aufnahme entstanden war, war die äußerste Nähe, die er zuließ. Jedem Aufbruch in seine Richtung würde er sich verweigern. In ewig unveränderlicher Größe würde er im Wandel der Zeit dort ruhen und bloß den Veränderungen des Lichts folgen, während sich die Expeditionen bereits in den Wäldern zu seinen Füssen zerschlugen. Piero schloss langsam das Buch. Sein Blick blieb an dem kreisrunden Foto auf dem Einband haften; es zeigte ein schwarzes, von Lichtreflexen besticktes Meer, im Vordergrund türmten sich mächtige, glänzende Steinquader auf. Die Wolken waren wie leuchtende Schwämme, die das Licht aus dem Raum aufgesaugt hatten, um für ihren Weg durch die Nacht gerüstet zu sein. Nachdem er es lange betrachtet hatte, löste sich Piero von dem Bild und ging zu Marie. Sie empfahl ihm den Tee, den sie trank. Er bestellte ebenfalls eine Tasse davon. Sie saßen an einer bis zum Boden reichenden Fensterfront und schauten nach Westen, wo das Meer war. Er dachte an das tollkühne Kunstexperiment, dem er sich seit einiger Zeit hingab. Die Frage stellte sich ihm, ob es eine Malerei geben könne, die zugleich vollkommen abstrakt und vollkommen gegenständlich war, die nichts abbildete und dennoch ein Sujet hatte.

      "Das ist eine großartige Idee, ein solches Forum der Erde", sagte er nach einer Weile, "aber ich kann mich nicht ohne eine gewisse Melancholie darin bewegen. Es ist nicht etwa eine Sehnsucht nach all diesen Ländern, sondern nach einer anderen Zeit, als jeder Ort noch ein Geheimnis war. Denke an die großen Kulturen, die nichts voneinander wussten, getrennt durch Meere, Wüsten, Berge. Indianische Zelte stehen inmitten von Wellen hohen Grases, ein italienischer Künstler zeichnet der Stadt Florenz den Entwurf für einen Turm, mühselig treibt ein Bauer sein Lasttier in ein Tal zum Mount Everest hinauf, dem er einen anderen Namen gibt und von dem er nicht weiß, dass er die höchste Erhebung der Erde ist; einige tausend Kilometer südlich versinkt ein Mann in tiefes Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; in einer Savanne Ostafrikas rennt eine Gruppe von Jägern, mit langen Speeren bewaffnet, auf ein Rudel Antilopen zu; irgendwo am Amazonas, umgeben vom undurchdringlichen Pflanzenlabyrinth starrt ein Indio, dahingleitend in seinem Boot, auf den in der Dämmerung brütenden Strom und hat nur einen Gedanken: wohin fließt dieses Wasser?" -

      "Und heute wird alles gleichgeschaltet", fuhr Piero mit brüchiger, immer wieder stockender Stimme fort, "die verbleibende Wildnis wird zum Abenteuerspielplatz erklärt. Rund um die Erde sind Anzug und Krawatte die Uniform der Politiker und Geschäftsleute, eine grauenhafte Eintönigkeit und Geschmacklosigkeit breitet sich aus. Die Vielfalt, die Klarheit und die Poesie verschwinden. Insofern ist das hier" - und er deutete in die riesige Halle, in deren Mitte sich der Globus drehte - "eine nostalgische Veranstaltung, eine Gaukelei, vielleicht aber auch eine Utopie. Könnte es nicht sein, dass es uns in nicht ferner Zeit gelingt, unser Leben neu einzurichten. Vielleicht wollen wir einmal keine Sklaven des Geldkreislaufs mehr sein, die mit allen Mitteln bei Laune gehalten werden. Wir alle sind doch willenlos, betäubt von den Spielzeugen, die wir uns geschaffen haben. So vielen ist der Sinn ihrer Arbeit nicht mehr einsichtig."

      Er atmete tief ein. Marie sah ihn verwundert an. Während seiner seltsamen Rede hatte sie die Kellnerin herbeigerufen und sich noch eine Tasse Tee bestellt.

      - "Entschuldigen Sie! Darf ich mich setzen?" sagte plötzlich eine fröhliche Stimme. Marie und Piero blickten beide zugleich auf.- "Darf ich mich setzen", wiederholte Maries Detektiv und saß im gleichen Augenblick schon, indem er sich einen Stuhl vom Nebentisch heranzog und rittlings darauf niederließ, so als geselle er sich wie ein alter Freund zu ihnen. Piero sah Marie an. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Die Pupillen ihrer blauen Augen hatten sich zu kalten Punkten zusammengezogen. Marie griff nach ihrer Teetasse und führte sie zum Mund. - "Richard Cawthra", stellte sich der Gast zu Piero gewandt vor und schaute sie abwechselnd beide freundlich und offen an. Er drückte den Stummel einer Zigarette in einem Aschenbecher aus. Da Marie schwieg, nannte Piero selbst seinen Namen, was ihm von ihr einen bösen, funkelnden Blick eintrug. - "Diese kleine Beschattung tut mir leid", sagte Cawthra und nickte dankend der Frau im Seidenkleid zu, die ihm unaufgefordert eine Tasse Tee gebracht hatte. - "Ich habe hier noch einen Brief von ihrer Mutter, Mrs. Amber Malone", fuhr Cawthra fort, "ich vergaß es, ihn Ihnen bei unserer ersten Begegnung zu geben." Er fasste in die Innentasche seiner lange getragenen Lederjacke, zog einen hellblauen Briefumschlag hervor und reichte ihn Marie.

      "Darin wird hoffentlich einiges erklärt", sagte er, "möchten Sie ihn nicht lesen?" Da Marie den Brief nicht anrührte und schwieg, legte er ihn vor sie auf den Tisch. "Warum haben Sie mich wieder verfolgt", fragte sie plötzlich. Cawthra spitzte kurz die Lippen, was seine Wangen sehr hohl werden ließ.

      - "Ich war ungeschickt", sagte er. "Sie hätten es gar nicht bemerken dürfen. Und ich war unsicher, ob ich mich Ihnen noch einmal nähern sollte. Ich gebe zu, es wäre nicht nötig gewesen, dieses Versteckspiel. Aber lesen Sie einfach den Brief." Marie riss den Umschlag auf und überflog die beiden Blätter. Dann rückte sie mit dem Stuhl etwas zurück und las langsam folgende Zeilen:

      - "Engelchen,

      der junge Mann, der Dir den Brief überbringt, ist von der New Yorker Detektivagentur Melville, Sands & Harper. Er soll Dir helfen, Deinen Vater zu finden. Ich weiß, dass Du jetzt verärgert bist. Du glaubst, ich ließe Dich überwachen. Aber das ist nicht wahr. Meiner Ansicht nach brauchst Du eine professionelle Hilfe. Ich will Dich nicht bevormunden. Sprich einfach mal mit Mr. Cawthra. Er hat übrigens schon einiges herausgefunden. Du kannst Dir kaum vorstellen, welche Möglichkeiten eine solche große Agentur hat. Mit Carl Harper bin ich, wie Du weißt, seit vielen Jahren befreundet. Als ich ihn vor einigen Wochen auf einer Vernissage drüben in Williamsburg traf - dort hat sich jetzt eine Künstlerkolonie etabliert - und ihm von Deiner "Grand Tour" und ihrem Zweck erzählte, schlug er mir sofort vor, sozusagen Klient bei ihm zu werden, auf Kosten der Firma. Du liegst mir also auch nicht auf der Tasche. Natürlich werde ich Mr. Cawthra für seine Arbeit, ob Ihr Erfolg habt oder nicht, etwas zukommen lassen. Betrachte mein Eingreifen auch als einen Akt der Reue. Es war falsch, Dir das Schicksal Deines Vaters so lange zu verschweigen. Ich hätte damals, als er verschwand, etwas unternehmen müssen. Aber ich hasste ihn so und war zugleich noch immer so närrisch verliebt in ihn; ich verzieh ihm sein Verschwinden erst nach Jahren, in denen ich ihn aus meiner Erinnerung gelöscht hatte. Deine wachsende Ähnlichkeit mit ihm ließ mich aber bald immerzu an ihn denken. Bitte, lass Dir von Mr. Cawthra helfen. Zu Hause ist es wie immer im September ganz, ganz wunderbar. Das Licht in den Straßen ist überwältigend schön, alles funkelt, flirrt, glänzt. Letzten Samstag war ich mit Merle Nicholson im E.A.T.-Cafe´ frühstücken. Anschließend gingen wir ins Metropolitan. Ich war seit Jahren nicht mehr dort. Am besten gefiel mir ein Hockney: eine japanische Vase mit einer weißen Blume steht auf einem Fensterbrett, in der Ferne steigt eine weiße Bergspitze aus dem Blau, dessen Schattierungen den Mittelgrund füllen, empor, offenbar der Fuji. Du kennst das Bild sicher. Louise ist gerade zu Besuch. Sie hat Aussichten auf eine kleine Rolle in einem Film mit Harrison Ford. Lass Dich umarmen kleiner Indiana Jones und verzeih mir. Melde Dich bald, Mummy."

      Während des Lesens zog Marie mehrmals ihre runde Stirn in Falten. Einmal spielte kurz