Freiheit des Reisens war ihr genommen und das lähmte sie. Sie war nicht mehr allein. Aber war ich nach all den Wochen des Fahrens, so dachte sie, nicht ohnehin an einem Punkt angekommen, an dem ich das Alleinsein nicht mehr auszuhalten begann? War ich nicht in Aix kurz davor gewesen, heimzukehren? Habe ich denn nicht deshalb auch die Bekanntschaft mit Piero auf diese becircende Weise angeknüpft und bin bereitwillig auf sein Angebot eingegangen, bei Carla zu wohnen? Also meinetwegen auch noch dieser Detektiv! Sie fühlte sich einige Tage lang hilflos; sie vermochte sich nicht zu wehren gegen die Sorge ihrer Mutter. Was hätte ein wütender Anruf genutzt? Doch sie war entschlossen, ihre Mutter zumindest für einige Wochen mit Stillschweigen zu strafen. Diese hatte ja nun jemanden vor Ort, von dem sie alles erfahren konnte über das Wohlergehen ihrer Tochter.
"Lass uns einmal nach oben fahren", rief Marie aufspringend zu Piero und schob das Notizbuch in eine Seitentasche des Rucksacks.
Sie starrte die schwindelnd hohen Wände rauen hellen Marmors hinauf; die schimmerten wie Meeresfelsen. Die abgeschrägten Seiten des Würfels, die auf einen Fluchtpunkt im Unendlichen verwiesen, erinnerten sie an die Portalgewände der gotischen Kirchen, die sie in den Wochen zuvor besichtigt hatte. Sie rannte die Stufen empor. Piero folgte ihr zur Plattform im Hohlraum des Kubus, der so groß war, dass in ihm die Kathedrale von Notre-Dame Platz gefunden hätte. Unter der so genannten Wolke, einem mit Stahlseilen zwischen den Innenfassaden ausgespannten Zeltdach, hatten sich vor den an einem freien Gerüst in die Höhe führenden Aufzügen zwei Warteschlangen gebildet. Während Marie sich schon einreihte, lief Piero zu einem Pavillon unter dem Sonnensegel aus weißem Kunststoffgewebe, das von fern - vor allem sobald es in der Dämmerung von Lampen beleuchtet wurde - auch einer Welle oder einem Gebirge gleichen konnte. Die den Raum umschließende und zugleich öffnende Bogenarchitektur ließ die Weite der Erde erahnen und Piero empfand eine unbestimmte Sehnsucht und Erwartung, die erst die Federwolken aus Eiskristallen in großer Himmelshöhe aufnahmen und weiter trugen. Er betrat den gläsernen Pavillon, in dem die Tickets für den Aufzug verkauft wurden und Schautafeln über die Entstehung des Bauwerks und seine technischen Fakten informierten. Eine Reihe großer, bepflanzter Terrakotta-Kübel trennte den Bereich eines Cafés ab, wo Piero für sich und Marie noch zwei Waffeln mit Eis holte. Als sie dann in dem gläsernen Kasten nach oben schwebten, sahen sie auch die Gebiete jenseits des Bogens im Westen. Ihnen fiel ein Friedhof auf, der sich inmitten eines zersiedelten Niemandslandes erstreckte. Dort waren zwar Häuser, Lagerhallen, Schuppen und Werkstätten, ja auch verwahrloste Gärten und Felder zu erkennen, aber dennoch schien diese flache, ausgedehnte Zone am Rand der Stadt ein unbewohntes Brachland zu sein, ein disharmonischer, befremdlicher Bezirk, wie ihn die großen Städte mit der Zeit an ihren Rändern bilden. Im Osten ragten die Bürotürme auftrumpfend empor, so als riefen sie: Hier ist das wahre Zentrum von Paris - doch frei und grandios war die Sicht auf den alten Triumphbogen in der Ferne. Der Aufzug fuhr in das Dach hinein und kam zum Stillstand. Sie betraten einen überraschend großen, hallenartigen Raum, der in mehrere Ebenen unterteilt war, die durch Rampen und Rolltreppen verbunden waren. Es handelte sich um das sogenannte "Forum der Erde", einen Ort der internationalen Kommunikation. Alle Länder hatten hier die Möglichkeit, sich in ihrer Eigenart zu präsentieren. In der Mitte des Raums drehte sich, als größte Attraktion, ein Globus mit dreidimensionaler Oberfläche, der von der tiefsten Ebene bis fast zur Decke reichte. Auf einer Spiralrampe konnten die Besucher der Ausstellung rund um die Erdkugel vom Süd- bis zum Nordpol spazieren und dabei alle Regionen des Planeten in Augenschein nehmen. Die Struktur der Erdoberfläche war plastisch wiedergegeben: die Gebirge mit ihren Gletschern, die glänzenden Meere, die Wüsten und Tiefebenen, die Wälder und Städte, alles war mit einem jeweils anderen Material gestaltet worden, um eine möglichst naturalistische und dennoch naive Wiedergabe des Originals zu schaffen. Marie und Piero liefen die Spirale hinauf, bis sie etwa in Höhe des vierzigsten Grads nördlicher Breite waren. Das Mittelmeer zog gerade an ihnen vorüber, eine leuchtende, transparente Fläche, über deren mal blauem mal türkisfarbenem Grund elektronisch simulierte Wellen strömten, entlang den Küsten weiß schimmernde Bänder.
- "Irgendwo auf dieser Kugel lebt er", sagte Marie.
- "Wie alt warst Du, als er deine Mutter verließ?" fragte Piero.
- "Oh, sie trennten sich noch vor meiner Geburt wieder. Ich bin wohl das Kind einer sehr kurzen Affäre."
- "Wo bist du geboren?" fragte Piero.
- "In New York."
- "Wo auch dein Vater verschwand?"
- "Ja. Er war von der amerikanischen Regierung in eine Forschungsstation in den Rocky Mountains eingeladen worden. Von dort kam er nicht zurück. Meine Mutter erhielt irgendwann einen Anruf. Zunächst hieß es, er sei verhaftet worden, er werde der Spionage verdächtigt. Später sagte man ihr, er sei bei einer Wanderung in den Bergen verschwunden. Der Ort der Station ist mehr oder weniger geheim."
Sie waren die Rampe wieder ein wenig hinab gegangen. Das Sternenmeer, ein mit Seen gesprenkeltes Hochland im Himalaya, glitt langsam vor ihre Augen.
- "Was war es für eine Forschungsstation", fragte Piero.
"Ich vermute, es war ein Laboratorium zur Entwicklung atomarer Waffen," sagte Marie, "ich war dort vor einigen Monaten in der Gegend, am Rand eines verbotenen Gebiets, und habe einen Indianer kennen gelernt, einen Arzt, dessen Großvater Wächter einer Kultstätte seines Stammes war, die seit alter Zeit an der Stelle gelegen haben soll, wo das Laboratorium errichtet wurde. Sie bauten die Station also auf den Indianern heiliger Erde. Als die ersten Baufahrzeuge angerückt seien, habe sein Großvater noch immer vor seiner winzigen Hütte auf dem geweihten Grund gesessen, erzählte mir der Indianer. Polizisten trugen ihn fort. Dabei starb er. Er wurde plötzlich schwer in ihren Händen. Wie eine Statue hatte er vor der Hütte gesessen, stumm, mit ausdruckslosem Gesicht; und als sie ihn hochhoben, behielt er die Haltung des Schneidersitzes bei. Sein Enkel beobachtete die Szene. Er lief zurück ins Reservat, sprach mit niemandem, holte sich Pfeile und Bogen. Als er zurückkam, stand an der Stelle, wo einige Tage zuvor noch seines Großvaters Hütte gewesen war, eine Gruppe von Männern. Die Männer, Weiße, trugen Anzüge und Krawatte, im Kreis um sie parkten schwarze Limousinen. Der Indianerjunge ging zur Hälfte um den Wagenring herum, hob dann plötzlich den Bogen und schoss einige Pfeile in rascher Folge auf die Gruppe ab, noch bevor einige Polizisten eingreifen und ihn überwältigen konnten. Einer der Männer sank von einem Pfeil verwundet nieder. Wegen seiner damals erst zwölf Jahre musste der Täter nicht ins Gefängnis, verbrachte aber einige Monate in einer Art Heim für jugendliche Straftäter, bevor er ins Reservat zurückgebracht wurde. Wie er mir erzählte, gelang es ihm später sogar höhere Schulen zu besuchen und zu studieren. Und heute arbeitet er also als Arzt in dem noch immer bestehenden Reservat."
Marie und Piero waren nun fast wieder am Fuß der Rampe angelangt und Piero wies Marie auf ein Walfischhaupt in den Weiten des Süd-Pazifik hin. Bald erhoben sich vor ihnen die Hänge der Anden mit ihren Schnee- und Eiskappen.
- "Warum hat deine Mutter nichts weiter unternommen, um ihn wiederzufinden?" fragte Piero. - "Sie hatten sich ja schon getrennt zu diesem Zeitpunkt. Ich weiß nicht, ob sie ihn noch liebte, das heißt...." Sie starrte nachdenklich ins Leere. - "Aber du warst doch noch gar nicht geboren, als er verschwand." - "Nein, das ist eben rätselhaft, sie müssen sich später noch einmal begegnet sein," sagte Marie, "oder er ist überhaupt nicht mein Vater; doch Mutter will darüber nicht sprechen." - "Was stand denn damals über den Fall in den Zeitungen?", fragte Piero. Sie verließen die Spirale und gingen zwischen den Ständen und Schaukästen der einzelnen Nationen umher. - "Ich habe einige Artikel in New Yorker Archiven aufgetrieben", sagte Marie, "darin wird zunächst von einer Festnahme berichtet. Später heißt es, er sei freigelassen worden. Ein Verdacht auf Spionage habe sich nicht bestätigt. Dann aber, etwa drei Monate später, erhebt eine Zeitung die Vermutung, er sei tot, die Festnahme wird in Frage gestellt. Tatsächlich folgt kurz darauf die offizielle Version, verkündet von einem hohen Regierungsbeamten, und sie lautete, John Marr sei bei einer Gebirgswanderung tödlich verunglückt. Davon müsse ausgegangen werden, wenn auch die Leiche nicht gefunden worden sei. Diese Behauptungen wurden natürlich einige Jahre später in Zweifel gezogen, als neue Artikel meines Vaters publiziert wurden. Fortan galt er als verschollen."
- "Ich habe übrigens schon in der Schule von einer Gleichung gehört, die