Irene, worauf Max erneut jammerte. Sie beruhigte ihn, indem sie sich gemeinsam an den Küchentisch setzten und einen Spielzeugkatalog betrachteten. Nach einer Weile gab sie ihm die Milch und trug ihn in sein Zimmer, wo sie ihn, während er trank, auszog und wusch. In einer Stunde schon würde sie wieder über einem Buch brüten, in das sie Hoffnungen gesetzt hatte, das ihr aber in der Frage der im Tempelinneren fehlenden Cella bisher auch nicht weiter half. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass sie in einigen Tagen gerade zu diesem Thema innerhalb eines Kolloquiums vortragen sollte. "Errichtet über einer prähistorischen Kultstätte", dachte sie, "der Tempel steht an einer den frühen sizilianischen Einwohnern heiligen Stelle. Das ist nichts Neues. Kein brauchbares Ergebnis. Das haut mir Madame um die Ohren." - Überhaupt Madame Bastide! Von Beginn an hatte sie Irene mit ihren Skrupeln und Zweifeln behindert und gepeinigt. Diese kleinen Briefe, die sie ihr auf ihren Platz in der Bibliothek legte! Meist begannen sie so, ohne Anrede: "Frage: Kann es sein, dass der Tempel zum Schein gebaut wurde, um nämlich die griechischen Nachbarn zu besänftigen? Vorgetäuschte Assimilation wäre das wohl zu nennen. Lesen sie dazu mal Richardson. Gruß Bastide." In dieser Art. Und dann die Sitzungen in Madames kleiner Wohnung in der Rue Vaneau, wo die Wände sozusagen mit Büchern tapeziert waren, sogar über den Türen hingen Regale. Nachmittage in ihrem Arbeitszimmer, die nicht zu enden schienen. Verkrampft saß Irene dort auf der Chaiselongue, im Rücken ein riesiges, besticktes Seidenkissen, das Madame Bastide einmal aus China mitgebracht hatte, Madame Bastide ihr gegenüber auf einem schlichten, ungepolsterten Lehnstuhl, zwischen ihnen ein mit Papieren und Büchern überhäufter niedriger Tisch; in einen ernsthaften Arbeitsdialog, wie es ihre Gastgeberin nannte, verstrickt, saßen sie da mehrere Stunden und ihr wurde es immer unbehaglicher zumute. Madame bot ihr niemals etwas an, weder Kaffee noch Tee, höchstens mal ein Glas Leitungswasser, geschweige denn Gebäck oder Kuchen, nicht aus Unhöflichkeit, es kam ihr einfach überhaupt nicht in den Sinn. Einmal, Irene war schon im Aufbruch, stand im Mantel, Rucksack geschultert, an der Tür, da fragte Madame sie plötzlich: "Sie dürften wohl Hunger haben?" - es klang wie eine Feststellung. "Oh, wir essen ja gleich zu Hause", wich Irene aus, Madame aber hörte ihr gar nicht zu und war schon in die Küche gelaufen. Sie kam mit einem vollkommen runzligen Apfel und einem Stück Baguette zurück, das trocken war, um ehrlich zu sein. "Danke, aber ich mag nur die fast noch grünen Äpfel", sagte Irene, nahm aber das Brot. Madame rümpfte tatsächlich, leicht pikiert durch die Replik, die Nase und sagte: "So, na wie Sie meinen. Auf Wiederschauen dann." Max war nun angezogen. Irene hob ihn hoch in die Luft, schüttelte ihn ein wenig, bis er lachte und stellte ihn auf die Füße zurück. Er blickte zu ihr auf und sagte: "Mama. Nicht arbeiten." - "Doch Max, ich muss arbeiten, und Du musst in die Krippe." - Der Junge nickte kurz und machte sich über eine Säulenhalle aus Bausteinen her, die Irene am Abend zuvor mit ihm gebaut hatte. Max rammte mit einem Bagger einige der Säulen und betrachtete sich dann die Trümmer. Irene war inzwischen in die Küche gegangen, trank dort Tee und aß zwei Scheiben Toastbrot dazu. Obwohl sie frühzeitig aufgestanden war, war sie nun doch in Eile. Sie musste Max noch die Tasche packen und ihm Mantel und Schuhe anziehen. Irgendwie schafften sie es aber, obwohl Max sich sträubte und, immerzu in Bewegung, nach irgendwelchen Dingen in seiner Reichweite griff, rechtzeitig das Haus zu verlassen. Fünfzehn Minuten später saßen sie in der Metro und stiegen an der dritten Station schon wieder aus. Sie kamen nach oben in den Lärm einer in der Morgensonne glänzenden Ausfallstraße. Stadtauswärts schlug sie eine schnurgerade Schneise durch einen Eichenwald. "Hier beginnt Paris", dachte Irene an jedem Morgen und sah sich um; Vorstadtvillen säumten einen seitlich der Straße gelegenen kleinen Park. In den Villen, die früher von Gärten umgeben gewesen waren, hatten sich der Nähe eines Friedhofs gemäß, Blumenhändler und Steinmetze angesiedelt. Pavillons und Verkaufsbuden waren an der Straßenfront der Villen angebaut worden, in den ehemaligen Vorgärten lagerten Grabsteine oder Blumenkästen. Irene ging mit Max auf dem Arm durch den kleinen Park, vorüber an einem von Sträuchern umschlossenen Rondell, zwei Kastanienbäumen und einem Rasenstück. Sie überquerten eine Zufahrt zu einem Friedhof und betraten durch ein altes, schmiedeeisernes Tor den Garten der Krippe. Die scharfen und klaren Klänge des Sommermorgens flossen hinter ihnen zu einem einheitlichen Rauschen zusammen. Feucht und kühl war es unter den Platanen, die den kiesbestreuten Weg zum Haus beschatteten. Die scheckige Baumrinde duftete. Seitlich des Eingangsportals, zu dem drei Stufen hinaufführten, stand eine schlichte unlackierte Holzbank vor der Mauer aus hellem Sandstein. Dort saß Piero, der sich, als die beiden näher kamen, erhob, aber dann unschlüssig stehen blieb. Irene ging ohne ihn eines Blicks zu würdigen zum Eingang hinauf und verschwand mit Max in der Villa.
Piero setzte sich wieder und wartete. Das Sonnenlicht, gebrochen vom Laub der Platanen, erwärmte einzelne Flecken eines verlassenen Sandkastens, in dem die am Vortag gebrauchten Spielsachen bis zur Rückkehr der kleinen Göttergesellschaft in magischer Starre gleichmütig ihr Los trugen. Nach und nach vertrieben die Sonnenstrahlen den grauen Schleier der Frühe aus dem Garten. Das bisher ferne Brausen des Verkehrs rückte mit zunehmendem Licht näher, wurde aufdringlich und lärmend. Die schwere Haustür fiel wieder ins Schloss. Piero wagte nicht, den Kopf zu drehen. Er lauschte. Gleich würde er das Rasseln hören, das ihre Schritte in dem feinen Kies erzeugten. Aber da fegte schon ihre Stimme wie eine helle Fanfare die Leere seines Kopfes, in der er panisch das rechte Wort suchte, beiseite. Ihrem Gruß folgte ein ungeduldiges "Was willst Du?".
Sie saß neben ihm auf der vorderen Kante der Bank, bereit zum Aufspringen, ihm zugewandt und ihn fest ansehend. Er schwieg, er wusste es nicht.
-"Soll ich Max heute Nachmittag abholen", fragte er zögernd, auch um überhaupt etwas zu sagen und dachte dabei: "Ich weiß es doch, ich weiß es doch, was ich will. Nur aufwachen und Eure schlafenden Gesichter betrachten."
- "Das würde ihn sehr freuen", sagte Irene, "hör mal, lassen wir uns nicht täuschen von unserer Zeit in Sizilien. Du hast eigentlich Recht - wir beide, das ginge nicht gut."
- "Weißt du, mir scheint es, als würde etwas, was sein soll, nicht geschehen", sagte Piero. Er sah nun etwas Zärtlichkeit in ihrem vorher so kalten Blick glänzen.
- "Wie geht die Arbeit voran? Du hast mir doch von dieser Galerie erzählt, die an Deinen Sachen interessiert sei."
- "Sie haben fünf Bilder von mir angenommen. Sie hängen seit einigen Tagen. Es ist im Marais. Die Galerie Zéphyr."
- "Oh! Das passt gut zu Deinem Stil, finde ich. - Hat Dir das Alleinsein geholfen. Bist Du dem näher gekommen, was Du Dir vorstellst?"
- "Ich weiß es nicht." - "Und Marie", fragte sie.
- "Marie kann morgen schon auf und davon sein. Ich mag sie und will ihr ein wenig bei der Suche nach ihrem Vater helfen, das ist alles."
Plötzlich war sie verlegen. Piero saß vorgeneigt, seine Arme ruhten auf den Beinen, in einer Hand spielte er mit Kieseln, die er vom Boden aufgelesen hatte. Sie sah ihn jetzt nicht mehr an. Ihre Finger trommelten auf der Rückenlehne der Bank. Sie wunderte sich selbst über ihre Neugierde und ihre Unruhe. Sie ärgerte sich, dass er sie verunsichert hatte. Eifersucht ist es nicht, dachte sie. Wie soll ich dieses Gefühl aber nennen.
- "Ja, vielleicht habe ich mich in sie verliebt", sagte Piero, "aber was bedeutet das schon. Ich verliebe mich leicht und mehrmals täglich."
Sie lachte und strich ihm mit den Fingern über Stirn und Nase.
- "Von wie vielen Sizilianerinnen träumst Du denn noch?"
- "Du verstehst mich nicht", sagte Piero.
- "Doch, ich verstehe Dich sehr gut", erwiderte Irene und stand auf, "ich habe leider kaum Zeit. Die Universität wartet. Holst Du dann Max, ja? Bring' ihn zu Carla. Und rufe mal an kommende Woche. Wir könnten abends ausgehen, vielleicht ins Kino – oder was gibt es an Konzerten?"
Piero nickte und winkte ihr zu, da sie sich im Reden schon einige Schritte entfernt hatte. Als sie die Allee entlang zum Tor lief, bereute sie es, ihm eine Verabredung vorgeschlagen zu haben.
"Es wäre wirklich besser, wir würden uns nicht mehr sehen", sagte sie laut, schloss das Tor und warf einen Blick zurück auf die schmale Gestalt vor der nun völlig vom Sonnenlicht angestrahlten Fassade.
In der Universität fand sie einen Stapel Bücher auf ihrem Tisch vor. Ein kleiner Zettel lag obenauf. "Könnte einen