Mitja Peter

Die Heimkehr der Jäger


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nach dem Himmel. Noch regnete es nicht.

      - "Schau nur", rief Carla und beobachtete mit leuchtenden Augen die Veränderungen am Himmel und auf der Erde. Sie lachte über die Heftigkeit einer Windböe, die allerlei Papier und Abfälle über den Rasen fegte.

      In der Nähe saß eine junge Frau unter einer einsam stehenden Eiche und stillte scheinbar unbesorgt ihr Kind. Als plötzlich im Einklang mit dem Wind, der bald zum Sturm anschwoll, der Regen herabprasste, zog die Mutter ihren weiten Pullover über den Säugling und trug ihn so geschützt durch den Regen zu einem Zirkuswagen. Dort verstauten die Schauspieler eines Laientheaters, das soeben noch auf einer inmitten der Wiese errichteten Bühne geprobt hatte, gerade ihre Requisiten unter einer Zeltplane. Ein junger Mann in Pluderhosen und mittelalterlichem Wams stand gelassen in einiger Entfernung des Wagens und lehnte, versonnen blickend, einen langen Stab gegen seine Schulter. Doch schließlich hüpfte auch er mit leichtfüßigen Sätzen zu den anderen Schauspielern zurück. Alle verschwanden in dem Wagen.

      Der Gewittersturm brach los. Carla ergriff Maries Hand und sie rannten. Es war, als würden über ihnen riesige Metalltüren zugeschlagen und kilometerdicke Stoffe zerrissen. Äste flogen herab; tiefgrün wogte das Laub, geschüttelt vom Wind. Ein durchgegangenes Pferd preschte an ihnen vorbei. Bald danach sahen sie einen Polizisten, der Reitstiefel trug; ein Windstoß fegte ihm die Dienstmütze vom Kopf. Er ließ sie liegen und schrie Carla und Marie im Weiterrennen etwas Unverständliches zu. - "Ich habe keinen Elefanten gesehen", rief Carla ihm nach und hob die Mütze auf. Triefend vor Nässe erreichten sie dann die Treppen zur Metrostation. Die Sirene eines Krankenwagens echote im Regendunst über den Boulevard. In der Höhe schwanden die Konturen der Gebäude. Vereinzelt schritt noch jemand, den Schirm voraus gegen den Sturm an. Auf den Straßen glitten die Autos langsam durch riesige Wasserlachen. Die meisten Wagen hielten aber bereits am Fahrbahnrand, da die Scheibenwischer die Wasserflut nicht mehr bewältigen konnten. Jemand lag im Eingang eines Bekleidungsgeschäfts, seine Füße nackt, und war berauscht von irgendeiner Droge. Daneben hockte ein Clown, dem die Schminke im Gesicht verlaufen war und rüttelte an dem Körper. Das Mädchen, das auf einem Eisblock stehend Violine gespielt hatte, kam hinzu und versuchte gemeinsam mit dem Clown, den Trunkenen in das Geschäft hineinzuziehen. Doch ein uniformierter Portier verwehrte es ihnen.

      Marie beobachtete die Szene und wollte eingreifen, doch Carla zog sie mit sich fort hinab in die Station, blieb aber plötzlich an einem Treppenabsatz stehen. Sie blickten über die wogende Schar der in den Untergrund geflohenen Menschen. Der erweiterte unterirdische Raum war von Fahrkartenschaltern und kleineren Läden gesäumt. Carla und Marie setzten sich in halber Höhe einer stehen gebliebenen Rolltreppe auf die Stufen. Carla hatte sich die Polizeimütze über ihr mit allerlei farbigen Spangen hochgestecktes Haar gestülpt. Sie nahm einen runzligen Apfel aus ihrer flickenbedeckten Jacke, biss fast die Hälfte davon ab und bot Marie den Rest an. Über die Köpfe der Menge hinweg leuchtete am anderen Ende der Halle eine Engelsgestalt aus Milchglas oder Kunststoff, die vor der Filiale eines Reisebüros zu Werbezwecken postiert worden war. Marie stellte erschrocken fest, dass das Tagebuch ihres Vaters, das sie in der Innentasche ihrer Jacke mit sich trug, nass geworden war. Sie ließ die Blätter über den Daumen gleiten; die Schrift hatte glücklicherweise nicht gelitten, nur der Einband. Carla überprüfte, ob in ihren Rucksack Wasser eingedrungen war und zog eine aufgeweichte Schokoladentafel hervor. - "Sieh Dir das an", sagte sie, "der Stein der Weisen - geschmolzen." Sie mussten beide lachen. Als sie schließlich in einer Untergrundbahn saßen, strich Marie noch immer mit den Fingern entlang der Blätter des Tagebuchs. Sie schaute aus dem Fenster und versuchte durch die Spiegelungen des Wageninneren zu dringen, um die vorbeifliegende Tunnelwand mit ihren Kabelsträngen zu erkennen.

      - "Hast Du eine neue Spur", fragte Carla. - "Nein, ich warte. Vielleicht bringt Cawthra ja etwas aus London mit", sagte Marie. - "Lass uns doch einmal Piero besuchen", sagte Carla. - "Dann müssen wir jetzt umsteigen", rief Marie, denn die Bahn kam gerade in einer Station zum Halt.

      Sie mussten noch zweimal die Richtung wechseln, bevor sie in dem Teil der Stadt waren, wo Piero in einer Anfang des Jahrhunderts erbauten Villa lebte. Inzwischen fuhr die Bahn über der Erde, sie befanden sich in der Peripherie. Am Himmel zog die Gewitterfront nach Osten weiter. Die Wolkenmassen ballten sich dort zu einem düsteren Turm zusammen, über den hin und wieder Blitze zuckten. Im Westen klarte es dagegen auf.

      An einem menschenleeren Vorortbahnhof stiegen sie aus. Die nassen Straßen, die in einem kleinen baumbestandenen Platz vor dem Bahnhofsgebäude mündeten, glänzten im Zwielicht. Schwarze Tinte schien in der klaren Luft zu schwimmen. Von einer breiten Allee bog nach einigen hundert Metern eine mit Kopfsteinen gepflasterte Gasse ab, die leicht anstieg. Über die hohen Mauern der Gärten wuchsen Sträucher und buschige Kletterpflanzen hinaus; Baumkronen beschatteten den Weg. Bald kamen sie zu einem arabesk geschmiedeten eisernen Tor, das nur angelehnt war; einige Stufen aus Natursteinen führten sie zum Haus. Niemand öffnete auf ihr Läuten, das innen im Leeren verhallte. - "Lass uns vorne im Bistro warten", schlug Carla vor. Marie trat ein paar Schritte zurück, unter dem trüben Glasdach des Eingangs hervor, und betrachtete sich die Villa. - "Und hier lebt er allein", fragte sie.

      - "Ja, seit sein Großvater vor drei Jahren gestorben ist", sagte Carla. Die Villa war aus roten Backsteinen gebaut, nicht aus dem hellen Sandstein, wie er in dieser Gegend üblich war. Die alten Bäume des Gartens schmiegten sich mit ihren Wipfeln an das Haus. Es regnete wieder ein wenig, aber still und wie in Fäden. Carla klatschte in die Hände und sprang unter dem Vordach hervor auf Marie zu und umfasste sie mit einem Arm. Beide drehten sich in einer Tanzbewegung im Kreis. Carla summte den Beginn eines bekannten Schlagers, und Arm in Arm liefen sie laut singend durch das Tor hinaus und die Gasse hinab zu einem Bistro an der Platanenallee.

      "Nun erzähle mal", sagte Carla, als sie sich schon einige Zeit an dem Tischchen gegenüber saßen, jede an einem Milchkaffee nippend.

      - "Ich flog zunächst nach Dublin", begann Marie, "da er und Goldberg ebenfalls ihre Reise dort begonnen hatten. Mit Zug, Bus und per Anhalter ging es weiter bis zur Westküste, in die Nähe der Klippen von Moher. Dort hatten sie gezeltet. Dafür war ich nicht ausgerüstet, also nahm ich mir ein Zimmer in einer Pension, ich glaube der Ort hieß Lisdoonvarna. Ich wanderte zu den Klippen, kam in einen Regenschauer und erkältete mich. Den Blick aus dem Fenster meines Zimmers in der Pension habe ich nicht vergessen, da ich nun drei Tage lang im Bett blieb und auf das helle Viereck starrte. Ich sah einen zierlichen Baum, dessen Laub im Wind bei Sonnenschein schillerte, und neben diesem Baum weideten ein Pferd und ein Esel, die den Rahmen meines Bildes manchmal verließen und wieder betraten. Die Leute der Pension sorgten sich rührend um mich. Die Frau brachte mir wunderbare Suppen ans Bett und an den Nachmittagen Tee und kleine, süße Brötchen mit Butter und Marmelade, die sogar einer Kranken Appetit machten. Ich fragte sie einmal auch nach meinem Vater; ob ihr jemand in der Umgebung bekannt sei, der meiner Beschreibung von ihm entspreche. Sie verneinte. Als ich ihr aber das einzige Foto zeigte, das ich von Vater besaß, huschte etwas über ihr Gesicht, ein Erkennen wäre zuviel gesagt, eine leise Andeutung, vielleicht auch eine Ähnlichkeit mit jemand, den sie vor sehr vielen Jahren geliebt hatte."

      - "Geliebt?" fragte Carla.

      - "Ja, dieser flüchtige Ausdruck ihres Gesichts, ihrer Augen sagten: Du gefällst mir. Sie sagte: Da war ihr Vater aber noch sehr jung und gab mir das Foto zurück. Das Bild wurde während der Europareise damals aufgenommen. Ich habe es hier." Marie zog die Fotografie zwischen den Blättern des Tagebuchs hervor, das vor ihr auf dem Tisch lag, und reichte es Carla. Carla betrachtete es mit etwas spöttischer Miene. - "Und es ist wirklich das einzige Bild, das Du von ihm kennst?" - "Ja, sagte Marie, "er hasste Fotografien. Mama glaubt, dass er die meisten von sich vernichtet hat. Sie selbst hatte gar kein Bild von ihm, dieses hier schickte mir seine ehemalige New Yorker Universität. Sie hatten es in seinem Arbeitszimmer nach seinem Verschwinden gefunden und aufbewahrt, um es für Publikationen verwenden zu können."

      Carla betrachtete noch einmal die Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie zeigte ihn aus nächster Nähe. Der Kopf füllte die Bildfläche zu fast drei Vierteln. Der junge John Marr trug ein gestreiftes Matrosenshirt und um den Hals ein nach Cowboyart gebundenes Tuch. Offenbar hatte er sich seit mehreren Tagen nicht rasiert. Die Augen kniff er etwas zusammen, so als schaue er in ein helles Licht. Sie hätte sagen können, er sehe verwegen aus, doch Carla,