Ludwig Witzani

Vom Kap zum Kilimandscharo


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hatte, wobei aber darauf geachtet wurde, dass keine Menschen zu Schaden kamen. Ich überlegte, ob ich danach fragen sollte, ließ es aber, denn immerhin befand ich mich an einem Ort, in dem Nelson Mandela der Gewalt abgeschworen und zu dem gewaltlosen „Satyagraha“ Mahatma Gandhis gefunden hatte.

      Mr. John hatte seinen Kurzvortrag über den Werdegang Nelson Mandelas beendet und war bei seiner Verurteilung im Jahre 1964 angekommen. Wegen angeblichen Terrors sei Mandela zu lebenslänglicher Haft auf Robben Island verurteilt worden, was unter den damaligen Umständen eine der härtesten Strafen gewesen sei. Denn die Gefängnisleitung und die Wärter waren knallharte Vertreter der Apartheid gewesen, und sie schikanierten die Gefangenen, wo immer es ihnen möglich war. Besonders schlimm sei das Verbot gewesen, mit Mitgefangenen zu reden, Bücher zu lesen oder etwas zu schreiben. Nur bei bestimmten Zusammenkünften, etwa beim Gottesdienst oder bei der Arbeit konnten sich die Gefangenen austauschen. Und auf den Toiletten, weil ihnen die Wärter dorthin nicht folgten, fügte Mr. John hinzu und schmunzelte. Arbeiten mussten die Häftlinge im Steinbruch, was eine unglaubliche Tortur gewesen sei, nicht nur wegen der Schwere der Arbeit, sondern auch, weil der Staub die Lungen und das grelle Licht die Sehkraft zerstörte.

      Mr. John drehte sich um und führte uns in das Gefängnisgebäude, in dem sich ein langer Gang mit kleinen Gefängniszellen links und rechts befand. „Wer von Ihnen trägt Socken?“ fragte er. Erstaunen auf den Gesichtern der Umstehenden. „Natürlich jeder“, antwortete Mr. John sich selbst und berichtete, dass die Gefangenen selbst mit Socken und Hosen schikaniert worden waren. Denn die Häftlinge von Robben Island waren in vier Klassen eingeteilt – von A bis D – und wer ein „black politican“, ein „schwarzer Politischer“, war, gehörte zur Klasse „D“ und hatte kein Anrecht auf Socken und lange Hosen. Er musste in kurzen Hosen und ohne Strümpfe in alten rissigen Schuhen herumlaufen, während ein indischer Insasse immerhin Anspruch auf lange Hosen und Socken hatte. Ein Gefangener der Kategorie D durfte auch nur einen einzigen Brief pro Halbjahr schreiben, der selbstverständlich zensiert wurde. Manchmal wurden auch Briefe gefälscht, das hieß, ein Häftling bekam Post, in der die Ehefrau dem Gefangenen mitteilte, dass sie sich scheiden lassen wollte, oder man erhielt fingierte Nachrichten über den Tod eines Familienangehörigen. „Bad, bad times“, schloss Mr. John und führte uns den Gang entlang zur Zelle von Nelson Mandela. Sechs Quadratmeter groß, eine Pritsche, eine Decke, ein schmales Fenster, ein Gitter zum Gang, das war’s.

      Ob er, Mr. John, Nelson Mandela persönlich in Robben Island erlebt habe, fragte ein Franzose.

      Nein, gab Mr. John zu. Als er in den Achtziger Jahren nach Robben Island kam, war Mandela bereits in ein Gefängnis auf dem Festland verlegt worden. Mandela war aber auch nach seinem Abschied von Robben lsland noch über sieben Jahre lang gefangen gehalten worden, ehe man ihn 1990 frei ließ.

      Ob er zufrieden sei mit der Entwicklung Südafrikas, fragte eine weibliche Touristin.

      „Um ehrlich zu sein: nein“, gab Mr. John unumwunden zu. Zu viele der Wenigen seien noch immer zu reich und zu viele der Vielen noch immer zu arm.

      Und woran das seiner Ansicht nach liege, wollte ein anderer wissen.

      „Korruption“, antwortete Mr. John sofort. Korruption „All over“.

      „Auch beim ANC?“ fragte ich.

      „Gerade beim ANC“, erwiderte Mr. John. Er sei alt und brauche kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen. Der ANC, die große nationale Partei, die den Befreiungskampf geführt und gewonnen habe, sei korrupt geworden. Unser Präsident, Mr. Zuma, lebt in einem Palast, und die armen Leute in den Cap Flats schnüffeln an Klebstoff und Amphetaminen, um ihre Not zu betäuben. Zumas vier Frauen erhielten Luxuskarossen auf Staatskosten, aber die Busse und Eisenbahnen seien alt und verrottet.

      War denn alles umsonst gewesen? dachte ich, sagte aber nichts. Immerhin wurden die Schwarzafrikaner heute von ihrer eigenen Elite schlecht regiert und nicht mehr von Weißen. Aber war das wirklich ein Fortschritt?

      Als keine Fragen mehr gestellt wurden, verabschiedete sich Mr. John und empfahl uns die Kantine, wo wir einen Kaffee trinken könnten. Alle klatschten. Einige Besucher traten an den alten Mann heran und wollten ihm ein Trinkgeld geben. Er lehnte freundlich ab.

      Beim abschließenden Rundgang betrachtete ich in einem Ausstellungsraum Kopien von Briefen hinter Glas, aus denen ganze Passagen von den Zensoren herausgeschnitten worden waren. Auf großen Fotowänden waren Bilder von Mandela und seinen Gefährten nach dem Ende ihrer Gefangenschaft ausgestellt, dazu eine Abbildung von Mandelas Autobiografie „Long Walk to Freedom“, deren erster Teil in Robben Island entstanden war. Ein halbes Dutzend Fotos zeigte Aufnahmen von einem Besuch des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, wie er mit dem alten Mandela im Hof des Gefängnisses stand und einem Kinderchor lauschte. Ganz am Ende war eine Zeittafel angebracht, der zu entnehmen war, dass die Abteilung für politische Gefangene auf Robben Island im Jahr 1991 aufgelöst worden war. 1996 war auch das normale Gefängnis von Robben Island geschlossen worden. Seit 1997 war Robben Island ein Museum und Naturschutzgebiet. Das größte Bild an der Wand aber war ein Portraitfoto des alten Nelson Mandela, einer gütig dreinblickenden Vatergestalt, die zur Überraschung der Welt nach seiner Freilassung ganz anders aussah als auf seinen 27 Jahre alten Jugendbildern. Sah man ihm seine Güte an? Gab es Erkennungszeichen des Guten im Gesicht eines Menschen? Ich wusste es nicht, auch wenn mich der warme Glanz seiner Augen berührte. Nelson Mandela war als Persönlichkeit ein beispielloser Glücksfall der Geschichte gewesen, der menschliche Gegenentwurf zu Monstern wie Stalin, Hitler oder Mao, eine Lichtgestalt, wie es sie wahrscheinlich nur alle paar hundert Jahre einmal gab. Oder in den Worten Colombe Prongles: „Er ist ein Mensch, der es möglich macht, mit Stolz ein Mensch zu sein.“

Titel

      Vexierbild der Welten

      Am Kap der Guten Hoffnung

      und in der südafrikanischen Weinprovinz

      Das Ende der Welt hat viele Gesichter. In der Realität und noch mehr in der Geschichte. Im Mittelalter verstand man unter dem Ende der Welt einen Rand, über den die allzu Wagemutigen ins Nichts stürzten. Deswegen blieben die meisten lieber auf festem Grund und wagten sich allenfalls vor bis an die Ränder der Kontinente, bis an die letzten Küsten, jenseits derer alles im Nebel verschwand. So jedenfalls sah es am Capo finisterre aus, dem Urbild aller Kaps im Nordwesten Spaniens. Hier lag für den mittelalterlichen Menschen über dem Ende der Welt ein Vorhang des Schreckens. Der Nebel und die Stürme am Capo finisterre waren deswegen kein Ärgernis sondern ein gnädiger Sichtschutz von den Monstrositäten des Unbekannten.

      Das änderte sich mit dem Zeitalter der Entdeckungen. Nun waren die großen Landmarken der Kontinente nur noch Grenzen, die es bei der Erkundung der Welt zu überwinden galt. Fast einhundert Jahre tasteten sich die portugiesischen Seefahrer die Südküste Afrikas entlang - auf das Kap Bojador folgte das Kap Verde, auf das Kap Mount das Kap Cross, bis im Jahre 1488 endlich das letzte Kap erreicht war, eine Region wilder Orkane, jenseits derer der ersehnte Weg nach Indien frei lag. „Kap der Stürme“ nannte der portugiesische Entdecker Bartholomeo Diaz das letzte Kap, das später sein Schicksal werden sollte. Sein König änderte den Namen in „Kap der Guten Hoffnung“. Unter diesem Namen wurde es zu einem Meilenstein der Entdeckungsgeschichte.

      Ich begann meine Reise zum Kap der Guten Hoffnung am frühen Morgen in Kapstadt. Es war ein Bilderbuchtag, auch wenn die Morgensonne lauter eingeschlagene Fensterscheiben in der direkten Nachbarschaft des Hotels beschien. Ich lenkte den Wagen über die Küstenstraße nordwestlich um den Signal Hill und erreichte Camps Bay, einen der Nobelvororte Kapstadts, in dem die Reichen und die Schönen noch immer ihren Urlaub verlebten, als hätte es den Wandel am Kap nie gegeben. Malerisch gezackte Berge, die sogenannten „Zwölf Apostel“ zur Rechten, der glitzernde Atlantische Ozean zur Linken, durchfuhr ich eine Landschaft, so harmonisch schön wie es Europa vor der Industrialisierung gewesen sein mochte. Idyllische Orte am Wegesrand, blitzsaubere Straßen und Fassaden in knallbunten Farben bildeten die Kulisse für eine Bilderbuchwelt weit abseits von Townships und Cape-Flats.