war es anders.
Er küsste sie auf den Mund.
Er war ihr Dad, natürlich. Aber es war Evie unangenehm, von ihm so geküsst zu werden. Sie mochte das nicht. Und sie wusste, dass es nicht richtig war.
»Ich liebe dich«, hauchte er und sah sie mit dem mitfühlenden Blick eines fürsorglichen Vaters an. Dabei streichelte er ihr mit dem Handrücken sanft über das Gesicht.
»Ich liebe dich auch, Daddy«, antwortete Evie etwas unsicher.
»Wirklich? Wie sehr liebst du mich?«
Sie verstand die Frage nicht.
»Sehr«, antwortete sie nur knapp.
»Gibst du Dad noch einen Kuss?«
Evie wurde die Situation unangenehm. »Können wir jetzt schlafen? Ich bin müde.«
»Gleich, Evie«, entgegnete ihr Vater und begann erneut, ihr Gesicht zu liebkosen. Er beugte sich über sie und küsste sie. Auf die Stirn, auf den Hals.
Auf den Mund.
»Lass das, bitte!«
Sie versuchte, sanft, aber bestimmt, ihn von sich weg zu drücken. Doch er war stärker und ließ es nicht zu.
»Ich liebe dich so sehr. Du bist mein ein und alles«, hauchte er, wie in einem Rausch.
Evie nahm jetzt diesen unangenehmen Geruch wahr, der aus seinem Mund kam. Er hatte getrunken. Seine Augen glänzten fiebrig und sein Blick war ihr plötzlich so fremd. Er fuhr ihr mit den Fingern durch die Haare. Dann wanderte seine Hand weiter. Über ihr Schlafanzugoberteil. Er knetete ihre Brust.
»Daddy! Nein!«, rief Evie aufgebracht und rutsche unter ihm aus dem Bett. Sie stand jetzt aufrecht vor ihm und sah ihn vorwurfsvoll an. Eine Träne rann ihr über das Gesicht.
»Ich will das nicht, Daddy«, sagte sie mit weinerlichem Tonfall und schlang ihre Arme schützend um sich selbst. Ihr Körper zitterte; so etwas war ihr in seiner Gegenwart noch nie passiert.
Ihr Vater sah sie einem Moment ausdruckslos an. Dann stand er auf, ging zur Tür und drehte den Schlüssel um. Er steckte ihn in die Tasche seiner Pyjamahose.
»Ich liebe dich, Evie«, wiederholte er. »Und ich will, dass du mich auch liebst. So wie Mum früher.«
Sie begriff nicht, was er damit meinte. Evie wusste nur, dass sie jetzt, zum allerersten Mal in ihrem Leben, Angst vor ihrem eigenen Vater hatte. Dieser kam nun langsam auf sie zu.
»Daddy, ich will das nicht!«, wiederholte sie kopfschüttelnd. Doch er hörte nicht auf ihre Worte. Er packte sie unsanft und warf sie aufs Bett. Er legte sich über sie und drückte sie in die Laken. Sie wand sich wie ein Aal unter ihm, doch sie war nur ein achtjähriges, schmächtiges Mädchen und er ein starker, vierunddreißigjähriger Mann. Sie konnte nichts gegen das ausrichten, was nun folgen sollte.
Mittwoch, 24. September 2014 13:12 Uhr
Bonnie war müde. Sie hatte zwar nur am Vormittag arbeiten müssen, aber die drei Kundinnen, die sie zu bedienen hatte, waren sehr anstrengend gewesen. Eine hatte fast eine halbe Stunde mitten im Laden gestanden und auf den Musterfächer gestarrt, bis sie sich schließlich nach viel Fragerei und zwei Gratis-Tassen Kaffee für eine Nagelfarbe entschieden hatte. Eine andere hatte während der Maniküre ohne Punkt und Komma über alles geredet, was ihr in den Sinn gekommen war: Ihre Enkel, den Hund der Nachbarn, die Katze ihres Vermieters, das Wetter, den Volksentscheid zu Abspaltung Schottlands und sogar über ihren Goldfisch, der bereits vor über zwanzig Jahren gestorben war. Bonnie hatte geglaubt, dass jeden Augenblick ihre Ohren zu bluten anfangen würden, während sie der Frau French Nails verpasste.
Die letzte Kundin, die sie an diesem Vormittag bedient hatte, hatte wenig gesprochen, dafür war Bonnie beinahe an dem schweren Parfum erstickt, das die Dame alles andere als dezent aufgelegt hatte.
Als es endlich 13 Uhr war, atmete Bonnie erleichtert auf. Sie hatte den Nachmittag frei und freute sich darauf, nach Hause zu kommen, um zu relaxen. Für den Abend hatte sie sich mit Freunden aus Wick in der dortigen Disco verabredet.
Sie packte ihre Sachen, verabschiedete sich bei ihrer Chefin und verließ das Studio. Dann ging sie zum Schnellimbiss und holte sich eine große Portion Fish und Chips mit viel Essig, die sie auf dem großen Parkplatz am Hafen, an ihren Nissan Micra gelehnt, verdrückte. Anschließend machte sie sich auf den Heimweg.
Nach ereignislosen fünfundvierzig Minuten Fahrt, während der sie den MP3s ihrer Lieblingsband One Direction gelauscht hatte, kam sie Zuhause an. Die Stellfläche neben dem Haus, das zwei Autos Platz bot, war leer. Ihre Mutter war bereits seit über einer Stunde weg, wie Bonnie die Uhr am Armaturenbrett verriet. Sie arbeitete als Stationsschwester im Krankenhaus von Wick, gerade einmal ein paar Minuten zu Fuß von ihrem Nagelstudio. Ironischerweise sahen sie sich aber, seit Bonnie einer regelmäßigen Arbeit im Studio nachging, wesentlich seltener als früher. Meist lagen die Schichten ihrer Mutter und ihre eigene Arbeitszeit so, dass sie sich unter der Woche knapp verpassten. Doch das störte Bonnie nicht; denn es kaschierte für sie die Tatsache, dass sie mit neunzehn Jahren immer noch in ihrem Elternhaus wohnte. Obwohl ›Elternhaus‹ ja schon lange nicht mehr richtig war. Seit der Scheidung ihrer Eltern vor drei Jahren, war es eigentlich nur noch ein Mutter-mit-Tochter-Haus. Aber gab es so was überhaupt? Bonnie jedenfalls war ganz froh darüber, dass sie ein wenig Freiheit genießen konnte und Halbsätze wie ›So lange du deine Füße unter meinen Tisch steckst‹ eher Seltenheitswert hatten.
Sie schloss ihren babyblauen Nissan, ein großzügiges Geschenk ihres Vaters zum achtzehnten, ab und ging zur Haustür. Sie warf einen kurzen Blick in den Briefkasten, aber er war leer. Dann schloss sie auf und ging hinein.
Ihre Mutter und sie wohnten in einem unauffälligen, nicht sonderlich attraktiven Haus mit weiß verputzten Wänden und einen grauen Dach. Es war im Ort das einzige, das in den letzten sechzig Jahren neu gebaut worden war; ihre Eltern hatten es 1997 an der Stelle errichtet, wo früher das Elternhaus von Bonnies Vater gestanden hatte. Dieses war, als es darum ging, zusammenzuziehen, viel zu klein und auch so baufällig gewesen, dass ein Abriss und Neubau die beiden günstiger gekommen war, als eine Sanierung. Natürlich hatten die Nachbarn, allesamt alteingesessen, ihre Nasen über den schmucklosen und viel zu modernen Neubau gerümpft, ebenso wie über ›die Neue‹ im Ort, Bonnies Mutter Lily. Aber das war ihren Eltern egal gewesen und irgendwann, sie hatten nur genug Geduld aufbringen müssen, war dann doch eine Art stille Akzeptanz eingekehrt.
Als sich ihre Eltern dann hatten scheiden lassen, war für Bonnie die Frage im Raum gestanden, bei welchem Elternteil sie leben wollte. Sie war immerhin schon fast sechzehn und ihre Eltern hatten ihr zugetraut, diese, zumindest für die nächsten paar Jahre einschneidende Frage, selbst zu beantworten. Ihr Vater Stuard hatte ihrer Mutter großzügiger Weise das Haus überlassen und war in ein Apartment nach Wick gezogen. Und auch wenn Bonnie es reizvoll gefunden hätte, mit ihrem Vater zu wohnen, noch dazu in einer im Vergleich zu Gleann Brònach richtigen Stadt, hatte sie sich dagegen entschieden. Der einzige Grund dafür war allerdings, dass sie ihrer Mutter nicht das Herz brechen wollte, denn Gleann Brònach selbst übte auf sie keinerlei positiven Reiz aus. Es war nicht mehr als eine kleine, weit ab von jedem Spaß gelegene Siedlung, bewohnt von verschrobenen Menschen, die zum Lachen in den Keller gingen.
Zum Glück hatte sie ja ihr kleines Auto und war unabhängig. Sie konnte jederzeit nach Wick fahren, ob nun zum Arbeiten, um ihrem Vater zu besuchen oder mit ihrer Clique in den einzigen Club der Stadt, das ›Ghost‹ zu gehen.
Wenn Bonnie Zuhause war, verbrachte sie ihre Zeit meist mit Fernsehen oder schlafen. Und beides würde sie jetzt, ungeachtet der Tatsache, dass es erst Nachmittag war, ausgiebig tun. Sie warf ihre Tasche vor die Garderobe, schlüpfte aus ihren Sneakers und ließ ihre Steppjacke auf den Boden fallen. Sie ging in die Küche und dort direkt zum Kühlschrank. Sie holte die angefangene Flasche Orangensaft heraus und trank sie beinahe in einem Zug leer. Während sie den letzten Schluck ihre Kehle herunterlaufen ließ, fiel ihr Blick auf die Fensterfront, die in den rückwärtigen, seit dem Auszug ihres Vaters