J.P. Conrad

Ort des Bösen


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sie eigentlich immer Zuhause; bis auf die zwei Vormittage in der Woche, an denen sie zu einem Doktor ging, mit dem sie über ihre Krankheit sprach.

      »Wir werden schon eine Lösung finden«, versuchte Evies Vater ihre Mutter zu beruhigen. »Ich werde die Stellenanzeigen wälzen, mich umhören und zum Jobcenter gehen.«

      »Das ist doch alles sinnlos«, wimmerte die Mutter. »Wir werden auf der Straße sitzen! Mit einem siebenjährigen Kind!«

      »Hör auf, so was zu sagen!«, entgegnete der Vater energisch. Er klang jetzt böse. »Natürlich werden wir nicht auf der Straße sitzen. Bis ich was gefunden habe, müssen wir uns eben einschränken. Ich werde mich sicherheitshalber auf dem Sozialamt erkundigen.«

      Sozialamt. Evie wusste nicht, was das war, aber als ihr Vater das Wort sagte, begann ihre Mutter noch heftiger zu weinen. Evie war versucht, in die Küche zu gehen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Aber sie blieb in ihrem Zimmer, so, wie ihr Vater es ihr gesagt hatte.

      Ihre Eltern diskutierten noch eine Weile; dann irgendwann hatte sich ihre Mutter wieder gefangen.

      »Abendessen ist fertig!«, rief sie über den Flur und Evie ging, mit leichtem Herzklopfen, in die Küche. Sie sah sofort, dass ihre Mutter rote und verquollene Augen hatte. Aber sie hielt es für klüger, kein Wort über das Gespräch, das sie belauscht hatte, zu verlieren.

      Während des Essens schwiegen sich ihre Eltern an. Ihr Vater versuchte dies zu überspielen und Evie mit allerlei Fragen zur Schule abzulenken. Doch sie wusste, dass Mum und Dad ernste Probleme hatten.

      In der Nacht wurde Evie wach. Ein lautes Geräusch hatte sie geweckt. Mit verschwommenem Blick schaute sie auf die Leuchtziffern ihres Weckers: Es war kurz nach eins. Dann bemerkte sie, dass es eine Sirene gewesen war, die sie geweckt hatte. Sie klang sehr nah und schien auch noch lauter zu werden. Evie sprang aus dem Bett und lief neugierig zum Fenster. Sie zog den schweren Vorhang zurück und schaute, sich die müden Augen reibend, hinaus.

      In diesem Moment hielt unten, direkt vor dem Hauseingang, ein Krankenwagen mit blitzendem Blaulicht auf dem Dach. Zwei Männer stürmten unvermittelt mit großen Metallkoffern und einer Bare heraus und liefen ins Haus.

      Was da wohl passiert war?

      »Sicher ist was mit Mrs Markway«, dachte Evie noch bei sich. Die alte Frau im Stockwerk unter ihnen war schon sehr gebrechlich und vor ein paar Monaten bereits einmal vom Notarzt abgeholt worden.

      Evie zog den Vorhang wieder zu und wollte gerade zurück in ihr warmes Bett schlüpfen, als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie kamen aus dem Flur.

      »Hier lang!«, hörte sie ihren Vater sagen. Er klang angespannt. Schnelle Schritte huschten im nächsten Moment an ihrer Zimmertür vorbei, sie liefen in Richtung des Schlafzimmers ihrer Eltern.

      Jetzt begriff Evie.

       » Mum! Mum muss etwas zugestoßen sein

      Mit reichlich Herzklopfen riss das Mädchen die Tür auf und lief barfuß zum Ende des Flurs. Dort blieb sie abrupt stehen.

      Evies Vater stand auf der anderen Seite des Raums, in der Tür zum elterlichen Badezimmer, und hielt sich eine Hand vor den Mund. Er weinte. Evie hatte Dad noch nie weinen gesehen. Er schüttelte immer wieder den Kopf und die Tränen flossen ihm über die Hand. Seine Finger waren rot.

      Die beiden Männer aus dem Krankenwagen schienen im Bad zu sein; Evie sah ihre Schatten an der angelehnten Tür.

      Als ihr Dad sich umdrehte, entdeckte er Evie. Er stürzte sofort auf sie zu.

      »Schatz, bitte komm! Geh in dein Zimmer, schnell!«

      Er schob sie sanft, aber bestimmt in den Flur. Doch Evie wollte nicht in ihr Zimmer zurück. Sie wollte wissen, was passiert war. Sie hatte große Angst um ihre Mutter.

      »Was ist mit Mum?«, fragte sie panisch. »Was ist mit ihr?«

      Ihr Vater versuchte, ihren Arm zu packen, doch sie schlüpfte unter ihm hindurch.

      »Evie! Nein!«, schrie er völlig aufgelöst.

      Sie lief um das Bett herum zum Badezimmer. In diesem Moment kam einer der beiden Sanitäter heraus und sie stieß mit ihm zusammen. Der Mann im grünen Anzug versuchte, sie an der Schulter festzuhalten, erwischte aber nur den Stoff ihres Winnie Puh Schlafanzugs.

      »Hey, Kleine. Du kannst da nicht rein!«

      Aber Evie musste zu ihrer Mutter; sie musste wissen, ob es ihr gut ging. Inzwischen hatte sie die schlimmsten Befürchtungen.

      »Mum? Mum?«, rief sie.

      Warum hörte ihre sie Mutter nicht? Barsch schlug Evie die Hand des Mannes weg und drängte sich an ihm vorbei ins Bad. Dort war es sehr warm; Wasserdampf lag in der Luft. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen.

      Der andere Mann in seiner grünen Uniform kniete auf dem Boden vor dem geöffneten Medizinkoffer und starrte Evie mit großen Augen an.

      Was das Mädchen dann sah, entsetzte sie so sehr, dass sie laut zu schreien anfing und nicht mehr aufhörte: Ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen nackt in der Badewanne. Diese war zur Hälfte gefüllt mit rotem Wasser, das langsam ablief.

      Montag, 06. Oktober 2014 11:02 Uhr

      Jack brauchte vom Yard mit seinem Wagen knapp fünfundzwanzig Minuten bis nach Islington. Dort wohnte Felix mit seiner Lebensgefährtin Alice in einem schmalen Reihenhaus. Es war schon eine ganze Weile her, dass Jack zum letzten Mal dort gewesen war. Meistens hatte er sich mit seinem Freund direkt in dessen Werkstatt getroffen, die sich praktischerweise in unmittelbarer Nähe, in einem kleinen Industrieareal zwischen einer Tankstelle und einem Gebrauchtwagenhändler, befand. Von dort aus waren sie dann um die Häuser gezogen oder hatten gemeinsame Ausflüge mit den Motorrädern unternommen. Außerdem wäre Jack bei Felix Zuhause immer Gefahr gelaufen, auf Alice zu treffen, was er allen Beteiligten gerne hatte ersparen wollen.

      Heute jedoch würde er sich freiwillig in die Höhle der Löwin begeben, denn er wollte unbedingt so viele Informationen wie möglich über Felix‘ Reise in die Highlands sammeln, bevor er in wenigen Stunden selbst dorthin aufbrach. Er hatte sich ausgerechnet, dass es klüger war, Alice unangekündigt zu überfallen, anstatt von ihr am Telefon eine Korb zu kassieren. Er hoffte nur, sie auch tatsächlich anzutreffen. Durch Felix wusste er zumindest, dass sie als Fitnesstrainerin oft an den Wochenenden arbeitete und montags frei hatte, um dann lange auszuschlafen.

      Als er die fünf Stufen zur Haustür erklomm, fiel Jacks Blick direkt auf ein eingeschweißtes Motorradmagazin, das auf der Fußmatte lag. Er hob die Zeitschrift auf und klingelte.

      Während er wartete, betrachtete er sich das Cover des Magazins, das er selbst auch abonnierte, sich aber immer in die Redaktion beim Loughton Courier schicken ließ. Darauf räkelte sich, wie eigentlich in jeder Ausgabe, eine spärlich bekleidete junge Frau auf einem chromglänzenden Zweirad.

      Nach einigen Sekunden erschien eine Gestalt hinter der Milchglasscheibe der Tür, die daraufhin einen Spalt geöffnet wurde.

      »Oh, Scheiße! Du!«, raunte Alice ihm entgegen.

      »Ich freue mich auch, dich zu sehen«, entgegnete Jack betont freundlich und lächelte sie an. »Darf ich reinkommen?«

      Sie nahm zu seiner Erleichterung direkt die Sicherheitskette ab, trat stumm zur Seite und ließ ihn in die Wohnung.

      Alice war Mitte dreißig, einen halben Kopf kleiner als er und von betont sportlicher Figur. Sie trug einen schwarz getönten Kurzhaarschnitt, den er noch nicht kannte. In ihrem pinkfarbenen Hausanzug und mit den weißen Tennissocken machte sie auf ihn den Eindruck, als hätte er sie gerade vom Sofa aufgescheucht. Er drückte ihr die Zeitschrift in die Hand, die sie, ohne sie anzusehen, auf die Garderobenablage warf.

      »Was willst du denn hier, zum Teufel? Als hätte ich nicht schon genug Probleme«, grummelte sie, während sie