J.P. Conrad

Ort des Bösen


Скачать книгу

des Loughton Courier nicht viel besser aussahen.

      Sie winkte ab. »Quatsch. Er ist ständig was am Suchen. Und die Buchhaltung für die Werkstatt fliegt auch noch zwischen dem ganzen anderen Kram rum. Das hat wohl mit effizientem Arbeiten nicht viel zu tun, oder?«

      Jack erinnerte sich in diesem Moment an die allseits bekannte Statistik, die aussagte, wie viel Zeit ihres Lebens Frauen damit verbrachten, etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Das weibliche Geschlecht war also ebenso nicht gänzlich fehlerfrei, wenn es um Ordnung ging, auch wenn Alice das gerade versuchte, zu propagieren.

      Sie erhob sich vom Sofa und stellte sich mit verschränkten Armen hinter Jack. Mit ihrem neugierigen Blick im Nacken nahm er einen Stapel Papiere und blätterte sie durch. Sie betrafen jedoch tatsächlich seine hauptberufliche Arbeit: Es waren Lieferscheine für Motorradersatzteile, mehrere Kopien von Kundenrechnungen und sogar eine Auswertung für das Finanzamt darunter. Er seufzte.

      »Verstehst du jetzt, was ich meine?«, wetterte sie und deutete auf eine durchsichtige Mappe. »Die Zettel da in der Hülle gehören zu seinen Nachforschungen für das neue Buch. Ältere Sachen sind alle in den Ordnern im Regal.«

      Jack nahm die prall gefüllte Dokumentenmappe in Augenschein. Darin steckten zahlreiche Ausdrucke aus dem Internet sowie ein paar Zeitungsausschnitte und handschriftliche Notizen. Er nahm sie nacheinander heraus und sah sie sich an. Fast alle hatten eine Gemeinsamkeit: Sie betrafen die Ortschaft Gleann Brònach.

      »Hat er mit dir über seine aktuellen Recherchen gesprochen?«, wollte er von Alice wissen.

      Ein Schulterzucken. »Schon, aber nur oberflächlich. Er weiß, dass ich mich nicht so sehr für diesen Kram interessiere.«

      Und Jack wusste es auch; Felix hatte oft genug darüber geklagt, wie wenig Alice von seinem Hobby und Nebenerwerb als Sachbuchautor hielt.

      Nachdem er alles grob überflogen hatte, steckte Jack die Papiere wieder zurück in die Mappe und hielt sie in die Höhe.

      »Darf ich mir die mal ausleihen?«

      »Tu dir keinen Zwang an«, kam die phlegmatische Antwort. Dann schien Alice ein Gedanke zu kommen. »Meinst du, das hat vielleicht was mit seinem Verschwinden zu tun? Seine Nachforschungen, meine ich?«

      Jacks Mundwinkel zuckten.

      »Möglich ist alles. Zumindest kann ich mich während des Fluges jetzt ein bisschen in die Materie einlesen.« Er sah sich suchend um. »Hat Felix ein Notebook?«

      »Hat er mitgenommen.«

      »Klar, natürlich. Kennst du zufällig das Passwort für sein E-Mail Konto?«

      Alice rollte mit den Augen. »Ja. Er nimmt für alles immer das gleiche. Hab ich ihm schon so oft gesagt, dass das Mist ist.«

      »Verrätst du mir, wie es lautet?«

      Sie stöhnte. »›aliceinwonderland‹, in einem geschrieben und alles klein. Aber da hab ich auch schon nachgesehen und nichts brauchbares gefunden.«

      »Hm.« Jack holte sein Smartphone raus und notierte sich das Passwort in der Notizbuch-App. Dann stand er auf und legte Alice nach kurzem Zögern die Hand auf die Schulter.

      »Ich finde Felix, das verspreche ich dir!«, beteuerte er nochmals. Dass er sich damit weit aus dem Fenster lehnte, wusste er. Aber er würde alles dafür tun; schon alleine, um seinen guten Freund und mit ihm den besten Motorradmechaniker wiederzubekommen, den er kannte.

      Die Melodie von ›Rule Britannia‹ ertönte und er sah auf das Handydisplay: Es war das Büro von Steven Highsmith. Er machte Alice gegenüber eine entschuldigende Geste und drückte den Annahmeknopf.

      »Hi. Was gibt’s neues?«

      »Hi. Ich habe inzwischen mit dem zuständigen Beamten von der Police Scotland sprechen können«, erklärte Steve.

      »Und?« Jack konnte aus der Stimme des Yard-Beamten diesmal nichts heraushören.

      »Tja, also… die gehen davon aus, dass er sich nicht mehr in Gleann Brònach oder der Umgebung aufhält.«

      Jacks Stirn legte sich in Falten. »Und wie kommen die zu dem Schluss?«

      »Ganz einfach: Er hat seinen Mietwagen pünktlich am Tag seiner geplanten Abreise zur Filiale am Flughafen in Wick zurück gebracht.«

      Donnerstag, 15. November 2000 22:47 Uhr

      Evie saß mit angewinkelten Beinen in ihrer Bettnische, die Bettdecke bis unter das Kinn gezogen. Sie zitterte am ganzen Körper.

      Über ein Jahr war ihre Mum nun tot und noch immer wachte sie nachts schreiend auf. Das Bild ihrer Mutter, die leblos in ihrem eigenen Blut in der Badewanne lag, hatte sich fest in ihr Gedächtnis gebrannt und es brach immer wieder hervor.

      Die Zimmertür wurde leise geöffnet.

      »Evie? Alles in Ordnung?«, fragte ihr Vater mit sanfter Stimme. Übermäßige Besorgnis konnte sie nicht in ihr wahrnehmen, eher ein wenig Resignation, denn die Situation war für ihn schon zur Routine geworden.

      Das Licht im Kinderzimmer ging an und reflektierte auf dem glänzenden Winnie Pooh Luftballon, den sie vergangene Woche von Lynn zum Geburtstag bekommen hatte und der seit Tagen unter der Decke schwebte. Evies Vater kam herein und setzte sich auf die Bettkannte. Er streichelte ihr sanft über Stirn und Wange; sie waren schweißnass.

      »Hey, alles gut«, flüsterte er. »Du hast nur wieder schlecht geträumt.«

      Evie nahm seine Hand und presste sie gegen ihr Gesicht. Es war ihr wichtig, seine Nähe zu spüren; sie gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit.

      »Ich habe Mum gesehen«, sagte sie leise.

      Ihr Vater nickte und lächelte mitfühlend. »Ich weiß. Aber es ist alles gut. Es war nur ein Albtraum, nichts weiter. Ich bin da. Versuch jetzt, zu schlafen.«

      »Ich hab Angst«, gestand sie und das entsprach der Wahrheit. Auch wenn sie sonst immer das erwachsen wirkende Mädchen war, das nach dem Tod seiner Mutter schnell Selbständigkeit und Verantwortung erlernt hatte, wollte sie jetzt in diesem Augenblick von ihrem liebenden Vater in den Arm genommen werden. Er war schließlich alles, was sie noch an Familie hatte; und auch er wäre ihr beinahe einmal genommen worden.

      Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als diese Frau vom Jugendamt bei ihnen gewesen war. Sie hatte zunächst ein langes Gespräch mit ihrem Vater geführt. Dann hatte sie sich Evies Zimmer angeschaut und mit dem Mädchen gesprochen. Sie hatte sie allerlei Dinge gefragt: Ob sie sich wohlfühle bei ihrem Vater; ob er sich gut um sie kümmere. Evie hatte keine Ahnung gehabt, was das zu bedeuten hatte, aber sie hatte alle Fragen ehrlich beantwortet. Etwas später hatte ihr Vater ihr freudig erzählt, dass sie für immer bei ihm bleiben dürfe. Das hatte sie zunächst verwirrt, denn nichts anderes hatte sie angenommen; sie wollte natürlich bei ihrem Vater bleiben. Wie hätte irgendeine fremde Person auch etwas anderes bestimmen können?

      »Möchtest du bei mir schlafen?«, fragte er.

      Evie nickte stumm. Ihr Dad stand auf und sie kletterte aus ihrem Bett. Es war bereits das dritte Mal in dieser Woche, dass sie die halbe Nacht an der Seite ihres Vaters schlafen würde; dort, wo früher ihre Mutter gelegen hatte. Aber es war jetzt alles anders. Es war ein anderes Bett und auch eine andere Wohnung. Wenige Wochen nach dem Selbstmord ihrer Mutter waren sie, auf Anraten von Doktor Vincent, einem mit der Familie gut befreundeten Psychologen, umgezogen. Die neue Wohnung war viel kleiner und befand sich in einem nicht ganz so schönen Haus, wie es das alte gewesen war. Ihr Vater hatte Evie gesagt, dass sie sparen mussten und sie hatte Verständnis dafür gehabt.

      Sie gingen ins Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch ihres Vaters lag eine Zeitschrift, die er nun hektisch in die Schublade räumte. Dann schlug er Evie das Bett neben sich auf. Sie legte sich hinein und war schon bald darauf eingeschlafen.

      _____

      In der darauffolgenden Nacht war es das gleiche Szenario: