J.P. Conrad

Ort des Bösen


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Eine Wolldecke lag halb auf dem abgewetzten, braunen Ledersofa und halb auf dem Boden. Auf der niedrigen Holztruhe, die als Couchtisch diente, standen eine Tasse und eine Schachtel mit Taschentüchern. Daneben Telefon und Handy. Der Fernseher lief mit leisem Ton.

      Im Vergleich zum recht milden Wetter war es in der Wohnung ziemlich warm, die Heizkörper unter den beiden schmalen Fenstern glühten. Felix‘ Freundin schien ebenso chronisch unterkühlt zu sein, wie Grace.

      Jack schaute sich um: Der Raum hatte sich, zu dem, wie er ihn noch in Erinnerung hatte, nicht sehr verändert. Es strahlte eine Mischung aus Chaos und Gemütlichkeit aus. mit bunt zusammen gewürfelten Möbeln, die sie, wie er wusste, teilweise auf Trödelmärkten erstanden hatten, einem schweren Perserteppich über dem ausgetretenen und nahezu blinden Parkett und hunderten von Bildern, die fast jeden Quadratzentimeter der Wände bedeckten. Sie zeigten überwiegend Aufnahmen von Natur, Landschaften und Städten aus aller Welt, die Felix im Laufe der Zeit mit dem Motorrad bereist hatte; in seiner ›Selbstfindungsphase‹, wie er es einmal bezeichnet hatte. In dieser Zeit war er, neben seinem eigenen Ich, auch Alice begegnet.

      »Du weißt, warum ich hier bin«, antwortete Jack auf ihre Frage. »Ich hatte dir versprochen, nach Felix zu suchen.«

      Sie ließ sich erschöpft auf das Sofa sinken, zog ihre Beine nahe an den Körper und wickelte sich die Decke um; ebenso, wie es Grace gestern getan hatte.

      »Also hier ist er nicht, so viel kann ich dir sagen!«, ätzte sie. Ein kurzes Schniefen folgte.

      »Nicht, dass ich Dankbarkeit erwarten würde...«, begann Jack leicht gereizt, wurde aber sofort von ihr unterbrochen.

      »Die wirst du auch nicht bekommen! Es sei denn, du bringst ihn mir heil wieder.«

      Jack entfuhr ein erschöpftes Stöhnen. Sie hatte sich kein bisschen verändert; selbst jetzt, wo er nur da war, um zu helfen. Andererseits war sie sicher krank vor Sorge um Felix und Jack würde ihr daher ihr barsches Verhalten nachsehen. Er setzte sich neben sie, woraufhin sie sofort demonstrativ etwas von ihm weg rutschte.

      »Hör zu«, begann er und atmete kräftig durch. »Wir haben nicht den besten Start gehabt. Du hegst einen offenen Hass gegen mich und ich weiß, dass der nicht ganz unberechtigt ist. Die Sache mit Tamara damals war sicher nicht meine beste Leistung, was Beziehungen angeht.«

      Alice verdrehte die Augen und lachte trocken. »Du hast dich wie das größte Arschloch auf Erden aufgeführt!«

      Er nickte, während sein Blick, gespielt reumütig, ins Leere fiel. »Da hast du wohl Recht.«

      Die Beziehung zwischen Tamara und ihm währte gerade einmal sieben Monate. So lange hatte er gebraucht, um zu realisieren, dass ihre makellose Schönheit und ihr durchtrainierter Körper nicht ausreichten, ihn zu befriedigen. Gut, der Sex mit ihr war toll gewesen, aber intellektuell hatte Tamara nie etwas dafür getan, ihren Fitnessclub-Empfangsdamen-Horizont zu erweitern. Eine Konversation, die über die Gestaltung der nächsten Freizeitaktivität oder ihre Lieblingsfernsehserien hinausging, war mit ihr nur schwer möglich gewesen. Schönheit, Sport und Shopping, das waren die Dinge, die für sie wichtig gewesen waren und denen sie mit Jacks Kreditkarte ausgiebig gefrönt hatte. Und fast immer hatte sie ihre Touren mit ihrer Clique, zu der auch ihre beste Freundin Alice gehörte, unternommen. Da war es natürlich kein Wunder, dass Alice giftig reagiert hatte, als er die Beziehung zu Tamara abrupt per SMS gelöst hatte. Noch heute war er froh über sein damaliges Zögern, mit ihr zusammen zu ziehen.

      »Übrigens komme ich gerade von Scotland Yard«, sagte er nach einer kurzen Pause, wie beiläufig, um das Thema zu wechseln. »Ich hatte eine Handyortung veranlasst.«

      Alice wurde sofort hellhörig und setzte sich aufrecht hin. »Und? Wo ist es?«

      Er verzog das Gesicht. »Hat leider nicht funktioniert, sie konnten es nicht finden.«

      »Hm.« Sie ließ ihre Schultern sinken und sah Jack, sichtlich enttäuscht, an. Dabei rang sie sich ein kurzes Lächeln ab. »Aber danke für deine Mühe. Das war wirklich… nett.« Es hatte sie merklich viel Überwindung gekostet, das zu sagen.

      Jack atmete tief aus. »Was hältst du davon, wenn wir unsere Differenzen zumindest so lange beilegen, bis ich Felix gefunden habe?«

      Ein paar Sekunden lang sagte Alice nichts. Er glaubte, dass sie in diesem Moment mit sich selbst haderte und versuchte, über ihren eigenen Schatten zu springen. Sie war eine absolut sture Person, das wusste er. Also musste es ein ziemlich langer Schatten sein.

      »Wieso denkst du, dass du ihn findest? Die Polizei sucht doch bereits nach ihm. Und der traue ich, ehrlich gesagt mehr zu, als einem Schreiber für ein Lokalblättchen.«

      Jack schüttelte gespielt amüsiert den Kopf. »Du schaffst es wirklich, einem Mann Honig ums Maul zu schmieren. Autsch.«

      Sie seufzte, drehte ihren Kopf und sah ihn nun mit einem fast schon entschuldigenden Blick an. Und tatsächlich sagte sie:

      »Tut mir leid, das war hart. Ich weiß, du willst nur helfen. Ich bin im Moment wirklich ziemlich durch den Wind. Nicht nur, wegen der Sache mit Felix.« Sie atmete schwer. »Heute Nachmittag muss ich auch noch auf eine Beerdigung. Eine Arbeitskollegin von mir ist gestorben. Ich glaube du kennst sie sogar. Ricarda Hernandez?«

      Jack überlegte kurz, dann fiel es ihm ein. »Ricky?«

      Alice nickte.

      Er kannte sie tatsächlich, war ihr aber nur ein paar Mal im Rahmen von Partys, auf denen er mit Tamara eingeladen war, begegnet.

      »Oh, das tut mir leid. Was ist passiert?«

      Alice zuckte mit den Schultern. »Häuslicher Unfall. Mehr weiß ich nicht.«

      »Hm.«

      Er schaute ihr direkt in die Augen und konnte jetzt auch sehen, dass sie leicht gerötet waren. »Also, was ist nun?«, fragte er. »Begraben wir das Kriegsbeil? Oder legen es zumindest mal beiseite, bis sich alles geklärt hat?«

      Sie machte eine zustimmende Kopfbewegung und schniefte erneut. »Okay.«

      Jack beugte sich zum Tisch vor, zog ein Papiertaschentuch aus der Box und reichte es ihr. Sie nahm es kommentarlos und putzte sich geräuschvoll die Nase.

      »Und was hast du jetzt vor? Wo willst du nach ihm suchen?«, fragte sie nasal.

      Jack griff in die Innentasche seiner Jacke und zog dann ein längliches Papier heraus. Er reichte es Alice.

      »Ein Flugticket?«, fragte sie ungläubig.

      »In knapp drei Stunden fliege ich über Edinburgh nach Wick in den Highlands«, erklärte er. »Von dort aus fahre ich mit dem Mietwagen bis nach Gleann Brònach.«

      »Du willst ihm nachreisen?«

      »Exakt. Ich hefte mich an seine Fährte.«

      »Und wenn es keine gibt?«

      »Genau deshalb bin ich hier. Ich würde mir gerne mal Felix` Arbeitsplatz anschauen, wenn du nichts dagegen hast.«

      Alice lachte humorlos. »Arbeitsplatz? Du meinst den da?«

      Sie nickte in Richtung der anderen Seite des Raums. Dort stand ein alter Sekretär, schätzungsweise aus den Sechzigern, eingebettet in ein die ganze Wand einnehmendes Bücherregal.

      »Ich hab mir schon alles mehrfach angeschaut«, beteuerte sie. »Die Polizei hatte mich auch darum gebeten, ihr irgendwelche Hinweise zu geben. Aber da ist nichts, was dir weiterhelfen wird.«

      »Hm, darf ich trotzdem…?« Jack deutete auf den Schreibschrank.

      »Tu dir keinen Zwang an! Sieht sowieso aus wie ein Saustall. Felix kann einfach keine Ordnung halten. Naja, du kennst ja seine Werkstatt; sieht auch nicht viel besser aus.«

      Jack stand auf und ging zu dem Arbeitsplatz herüber. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich davor.

      »Vielleicht ist gerade das Chaos seine Ordnung?«, mutmaßte er, angesichts der Berge an losen Papieren und verschiedenfarbiger