Lynn!«, sagte sie freundlich und winkte dem Mädchen zu.
»Auf Wiedersehen, Mrs Marshall. Und danke für die Cookies, die waren echt lecker.«
»Mums Cookies sind die Besten!«, sagte Evie mit erhobenem Zeigefinger, woraufhin Lynn den Kopf schüttelte.
»Meine Mum macht mindestens genauso gute!«
Ihre beste Freundin zuckte mit den Schultern und öffnete Lynn die Wohnungstür.
»Bis morgen dann. Denk dran, wir haben die ersten zwei Stunden Sport!«
»Ja, ich weiß. Bis morgen!«
Evie schloss die Tür und hüpfte zur Küche. »Wann gibt’s Essen?«, fragte sie ihre Mutter, die inzwischen wieder am Herd stand und in einer dampfenden Pfanne rührte.
»Wenn dein Vater kommt. Also um sieben«. Sie sah über ihre Schulter. »Habt ihr Spaß gehabt heute?«
Evie nickte eifrig. »Ja, wir haben ein paar Sachen aus der Spielesammlung gespielt. Ich hab fast bei allem gewonnen. Nur im Pferderennen war Lynn besser.«
»Ich freue mich, dass ihr zwei euch so gut versteht. Und dass Lynn direkt im Nebenhaus wohnt, ist doch praktisch, oder?«
Evie nickte und rollte die Spitze der blauen Decke, die auf dem Esstisch lag, mit dem Finger auf.
»Das ist toll. Und in der Schule sitzen wir nebeneinander.«
»Ich hatte schon Angst, dass dir der Sprung vom Kindergarten in die Grundschule Probleme machen würde. Aber du gehst doch gerne hin, wie’s aussieht«, stellte ihre Mutter fest und probierte etwas Soße vom Kochlöffel.
»Naja, Schule geht so. Sport ist cool und Mathe. Aber sonst…«
»Naja, es kann ja nicht alles immer gleich super sein«, relativierte ihre Mutter.
»Ich geh dann noch lesen, bis es Essen gibt, okay?«
»Okay.«
Evie ging zurück in ihr Kinderzimmer und schloss die Tür. Sie schnappte sich das Buch über den kleinen Vampir, das sie gerade erst zu lesen begonnen hatte und warf sich auf ihr Bett. Nachdem sie in der Schule lesen gelernt hatte, war es eines der ersten Bücher überhaupt, das sie las, das fast ausschließlich aus Text und nur wenigen Bildern bestand. Es war spannend; das Lesen können an sich und natürlich die Geschichte über den kleinen Vampir, der sich mit einem Menschenjungen anfreundet.
Evie lag auf dem Rücken, den Kopf auf ihr Kissen gestützt, und las ein paar Seiten. Dann lies sie das Buch sinken und schaute aus dem Fenster. Es war bereits dunkel. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn tatsächlich plötzlich ein Vampir draußen auf dem Fenstersims säße. Ob sie Angst hätte? Nein, sicher nicht, wenn es so ein netter und witziger Vampir wäre, wie in dem Buch.
Ein Klopfen holte sie aus ihrem Tagtraum.
»Ja?« Sie schaute zur Tür. Diese ging einen Spalt auf. Ihr Vater lugte hindurch und grinste.
»Na, meine Hübsche?«
Evie lachte freudig, klappte das Buch zu, sprang vom Bett und fiel ihrem Dad in die Arme.
Sie liebte ihren Vater Andrew über alles. Er war gütig, führsorglich und immer gut aufgelegt. Sie spielten zusammen, gingen in die Stadt oder ins Schwimmbad oder schauten zusammen Evies Videos mit den Zeichentrickfilmen und machten lustige Kommentare dazu. In letzter Zeit allerdings, seit sie in die Schule ging und dort Lynn kennen gelernt hatte, verbrachte sie nicht mehr so viel Zeit mit ihm, wie früher. Evie empfand den Umgang mit einem Mädchen, das in ihrem Alter war, inzwischen als normaler. Und da ihr Dad keine Anzeichen von Enttäuschung oder Vernachlässigung zeigte, glaubte sie, dass ihm das auch nichts ausmachte.
Evies Verhältnis zu ihrer Mutter war da etwas schwieriger. Nicht, dass sie sie nicht ebenso sehr liebte. Aber ihre Mutter hatte Probleme, wie ihr Vater ihr einmal erklärt hatte; Probleme im Kopf. Er hatte auch ein Fremdwort gebraucht, das Evie nicht gekannt hatte: Depressionen. Was immer das war, es tat ihrer Mutter nicht gut, das wusste Evie und das merkte sie ihr auch an. Es hatte vor knapp zwei Jahren begonnen, eigentlich aus heiterem Himmel. Seit dieser Zeit wurde sie immer schnell müde, verlor leicht die Geduld und zog sich dann ins elterliche Schlafzimmer zurück. Manchmal, wenn ihr Vater nicht da war, hatte Evie an der Tür gelauscht und ihre Mutter weinen gehört. Bis ihr Dad sie über die Probleme ihrer Mutter aufgeklärt hatte, war sie noch in dem Glauben gewesen, dass sie selbst vielleicht etwas falsch gemacht hatte. Aber dem war nicht so gewesen. Mum war krank. Wie, wenn man Masern bekam; nur eben komplizierter. Und man brauchte, um gesund zu werden, viel mehr Medizin. In dem kleinen Arzneischrank im Badezimmer standen viele Döschen mit kleinen, bunten Pillen. Mum nahm mehrere davon; morgens, mittags und abends.
»Wie war dein Tag?«, fragte Evies Vater, als er auf das Mädchen herab schaute, das ihre Arme um seine Hüfte geschlungen hatte. Er wuschelte ihr durch die langen dunkelbraunen Haare.
»Lustig. In der Schule haben wir ein Buchstabenquiz gemacht. Und Lynn und ich haben jeder drei Wörter erraten.«
»Toll. Du bist eine richtig große Abc-Schützin!«, lobte ihr Vater. »Du verstehst dich gut mit Lynn, oder?«
»Ja, sie ist total lustig und macht immerzu Quatsch.«
»Lass dich aber nicht zu sehr davon anstecken, okay? Habt ihr zusammen Hausaufgaben gemacht?«
Sie nickte. »Ja. Und Mum hat kontrolliert.«
Evies Vater machte ein zufriedenes Gesicht.
»Morgen gehe ich zu Lynn nach Hause und wir machen da die Hausaufgaben. Mrs Glendale hat versprochen, dass sie sich auch alles anschaut.«
»Klingt doch super.« Die Zufriedenheit im Gesicht ihres Vaters wich plötzlich einer ernsten Miene. Er machte noch einen Schritt ins Kinderzimmer und schloss die Tür. Dann hob er Evie auf seine Arme.
»Hör zu, bleibst du bitte noch einen Moment hier? Ich muss mit deiner Mum etwas Wichtiges besprechen.«
Evie sah ihn fragend an, sagte dann aber »Okay.«
Er setzte sie ab, tätschelte ihr den Kopf und verließ das Zimmer.
Sofort presste Evie ihr Ohr gegen die Tür. Diese Geheimniskrämerei, das konnte doch sicher nur mit ihrem Geburtstag im nächsten Monat zusammen hängen. Gebannt lauschte sie den Stimmen ihrer Eltern.
»Lois, wir müssen was besprechen«, sagte ihr Vater.
»Können wir das nach dem Essen machen, hm?«, fragte ihre Mutter, wenig begeistert.
»Nein, das kann nicht warten. Ich muss das jetzt loswerden.«
Evie gelangte zu der Erkenntnis, dass es wohl doch nicht um ihr Geburtstagsgeschenk ging.
»Ist was passiert?«, fragte ihre Mutter.
»Setz dich!«
»Aber ich muss den Tisch…«
»Setzt dich, bitte!«
Ein Stuhl wurde gerückt.
»Also, was ist es? Warum schaust du so ernst?«, fragte Evies Mutter.
»Mir ist heute gekündigt worden«, sagte ihr Vater gerade heraus.
Evie hielt sich die Hand vor den Mund.
» Oh, nein. Dad hat keine Arbeit mehr ?«
Ihr Dad arbeitete in einem Verlag; er machte dort irgendwas mit Geld. Buchhalter hieß wohl der Job. Weiterhin lauschte sie dem Gespräch ihrer Eltern. Ihr Vater sagte etwas von Stellenabbau. Und dann hörte sie ein Schluchzen; es kam von ihrer Mutter.
»Bitte, reg dich nicht auf, Lois«, bat Evies Dad ruhig.
»Reg dich nicht auf? Natürlich rege ich mich auf! Wie sollen wir denn jetzt überleben? Wie sollen wir die Miete bezahlen? Du weißt, dass ich nicht arbeiten gehen kann!«
Evies Mutter hatte bis vor zwei Jahren, bis sie