J.P. Conrad

Ort des Bösen


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weißen Plastikstühle, die eigentlich mit einer Plane abgedeckt sein sollten, saß jemand und starrte sie direkt an.

      Unwillkürlich überkam Bonnie Verärgerung. Wie konnte es diese Person wagen, einfach so ihren Grund und Boden zu betreten? Bonnie stellte ihr Glas ab, ging zum Fenster und öffnete es.

      »He du!«, rief sie hinüber. »Was suchst du da? Verschwinde gefälligst von unserem Grundstück!«

      Doch der Eindringling blieb unbeeindruckt; im Gegenteil. Er erhob sich von seinem Platz und kam mit stoischer Ruhe auf sie zu. Was die Person dann tat, ließ Bonnie entsetzt zurück taumeln.

      _____

      Das Schicksal hat sehr viele, allesamt unberechenbare Facetten. Es konnte sich langsam ankündigen; so wie bei der Scheidung ihrer Eltern, der fast anderthalb Jahre stetiger Streitereien, Vorwürfe und verbaler Tiefschläge vorausgegangen waren. Aber ebenso konnte es sich innerhalb eines Wimpernschlags erfüllen; so wie jetzt gerade.

      Bonnie hatte keine Ahnung, warum sie plötzlich philosophische Gedanken hatte; das war eigentlich gar nicht ihre Art. Aber bis vor zwei Minuten war ihre Welt auch noch in Ordnung gewesen. Sie hatte Orangensaft getrunken und sich überlegt, ob sie Fernsehen oder eine DVD schauen sollte. Doch jetzt saß sie zusammengesunken und zitternd auf einem der Küchenstühle und hielt einen Schokoriegel in ihrer Hand. Tränen und ihr eigener Handrücken hatten ihr Make-up, auf das sie immer großen Wert legte, verwischt. Und trotz der eigentlich angenehmen Temperatur, die in der Küche herrschte, war ihr eiskalt. Sie hatte Angst; Todesangst. Wie würde das Schicksal entscheiden? Es lag bei ihr, das wusste sie, denn sie hatte die Wahl: Entschied sie sich für die erste Option, die ihr genannt worden war, war die Konsequenz daraus klar und unumkehrbar. Lediglich Option zwei bot ihr eine klitzekleine Chance, aus dem unvermittelt über sie hereingebrochenen Albtraum wieder zu erwachen.

      Fordernde Augen blickten sie an. Sie wurde verbal und mit Gesten bedrängt. Bonnie musste sich jetzt entscheiden, sonst würde ihr Gegenüber es für sie tun. Also traf sie ihre Entscheidung. Sie wählte die zweite Option. Mit zitternden Fingern riss sie die Verpackung des Schokoladenriegels auf und drücke ihn ein Stück heraus. Sie führte ihn langsam an den Mund, roch den süßlichen Duft, der von ihm ausging. Sie schloss die Augen. Sie biss ab.

      Montag, 06. Oktober 2014 16:55 Uhr

      Bericht aus den Caithness News vom 28. Mai 1951

       UNGLÜCKSSERIE IN GLEANN BRÒNACH FORDERT VIERTES TODESOPFER – EINHEIMISCHE SPRECHEN VON DÄMON

       Nachdem in den vergangenen zwei Wochen bereits drei Menschen in der lediglich neunundsiebzig Einwohner z ählenden Siedlung Gleann Brònach auf mysteriöse Weise gestorben waren, gibt es nun ein viertes Opfer zu beklagen: Ein achtundfünfzigjähriger Schafzüchter wurde mit einer t ödlichen Kopfverletzung inmitten seiner Schafherde gefunden. Die Polizei geht davon aus, dass der Mann unglücklich gestolpert und mit dem Kopf auf einem Stein aufgeschlagen war.

       Zur Erinnerung: Vor knapp drei Wochen begann die Unglücksserie in Gleann Brònach, als die Tochter eines Farmers ihren Vater morgens tot im Schweinestall fand. Der Arzt hatte Herzversagen als Todesursache angenommen, konnte dies aber aufgrund des Zustands des Körpers, der von den Schweinen schon sehr entstellt worden war, nur vermuten.

       Eine siebenunddreißigjährige Einwohnerin war in der darauf folgenden Woche aus noch ungeklärten Umständen im nahegelegenen Fluss Dubh Nathair ertrunken. Die Polizei vermutet auch hier ein Unglück. Möglicherweise hatte die Frau versucht, im Fluss zu baden, hatte aber dessen Strömung unterschätzt. Sie war leblos, zwischen den Ästen eines abgestorbenen Baumes eingeklemmt, gefunden worden.

       Das dritte Opfer hatte eine Bauernfamilie zu beklagen, deren Sohn in der eigenen Scheune, von einer Heugabel aufgespießt, gefunden worden war.

       Die Einwohner der Siedlung leben seit diesen schrecklichen Vorfällen in großer Angst. Nicht erst seit dem j üngsten Todesfall machen vermehrt Gerüchte über einen Dämon oder gar den Teufel persönlich die Runde, der das Dorf heimsuchte und sich seiner Opfer bem ächtigt e. Anzeichen oder konkrete Hinweise darauf gibt es laut dem zuständigen Detective Inspector Murtagh Hill, natürlich nicht. Wir halten unsere Leser auf dem Laufenden.

      Jack ließ den Zeitungsausschnitt sinken und warf einen Blick aus dem kleinen, ovalen Fenster. Durch das schlechte Wetter war außer den Regentropfen, die sich unruhig zitternd an der Scheibe entlang schlängelten, und einer einzigen, grauen Wolkenmasse, nichts zu erkennen. Ein paarmal war das Flugzeug aufgrund von Windturbulenzen leicht abgesackt. Jack war kein Angsthase, was das Fliegen anging, aber zusammen mit der düsteren Lektüre verursachte ihm dieser Trip doch ein wenig ein flaues Gefühl in der Magengegend. Waren das etwa dunkle Vorzeichen?

      Jack konnte sich in jedem Fall jetzt, nachdem er sich in die Materie eingelesen hatte, gut vorstellen, was Felix daran gereizt hatte. Die mysteriöse Geschichte über den Dämon von Gleann Brònach passte wunderbar in sein nächstes Buch, denn tatsächlich erweckten die tragischen Todesfälle den Eindruck, als hätte damals eine dem Höllenschlund entstiegene, dunkle Macht ihre Finger im Spiel gehabt. Es hatte seinerzeit weder Zeugen, noch entsprechende Spuren gegeben, die auf Fremdverschulden und damit auf Verbrechen hingedeutet hatten. Heute, mit den modernen Methoden wie der DNA-Analyse, wäre das natürlich leichter zu überprüfen gewesen. Um ungelöste Fälle mit diesen neuen Techniken neu aufzurollen, wurden ganze Sonderkommissionen eingerichtet. Aber die Ereignisse in Gleann Brònach würde wohl ewig auf eine Aufarbeitung warten; eben weil damals keine offensichtlichen Verbrechen stattgefunden hatten.

      »Okay, genug davon«, rief Jack sich selbst zur Ordnung. Er musste sich auf das konzentrieren, was vor ihm lag: Klassische Detektivarbeit. Was war mit Felix passiert? Wo hatte er sich aufgehalten, mit wem hatte er gesprochen und wer hatte ihn zuletzt gesehen? Vor seinem Abflug hatte Jack mit Hilfe des Passworts, das ihm Alice gegeben hatte, noch Felix‘ E-Mail Account überprüft, der auch mit seinem Smartphone synchronisiert wurde. Aber wie seine Lebensgefährtin ihm schon prophezeit hatte, hatte Felix nach der E-Mail an Jack selbst keine weitere mehr versendet. Auch unter den Eingängen waren keine brauchbaren Hinweise zu finden gewesen. Lediglich die Online-Reservierungsbestätigung der Autovermietung ›Highlands Car Rental‹ hatte überhaupt etwas mit seiner Reise zu tun gehabt.

      Von seinem eigenen E-Mail Account aus hatte Jack dann noch einmal eine Nachricht an seinen Freund geschickt:

       Hallo Rumtreiber!

       Alice macht sich große Sorgen. Bin jetzt auf der Suche nach dir. Komme heute um 16:30 Uhr in Wick an. Würde mich über ein Lebenszeichen von dir freuen!

       Jack

      Er wusste, dass Felix seine Mails immer auf seinem Smartphone las. Es war ein mehr als dünner Strohhalm, noch zumal er auf keine seiner bisherigen Nachrichten reagiert hatte, aber Jack wollte nichts unversucht lassen. Die Stimme der Stewardess riss ihn aus seinen Gedanken.

      »Ladies und Gentlemen, wir werden in wenigen Minuten in Wick landen. Bitte schalten sie alle elektronischen Geräte aus, klappen Sie die Tische vor sich hoch und bringen Sie ihre Sitze in eine aufrechte Position.«

      Jack packte seine Unterlagen zusammen und verstaute sie in der Umhängetasche auf dem freien Sitz neben sich. Es folgte noch eine kurze Durchsage des Captains bezüglich des vor Ort zu erwartenden Wetters. In der kleinen Hafenstadt Wick regnete es demnach stark, bei heftigem Wind, was Jack mit einem leisen Seufzen zur Kenntnis nahm.

      Nach einer Landung ohne Zwischenfälle konnte er das nur mit etwas über einem Dutzend Passagieren besetzte Flugzeug schnell verlassen. Er hatte neben der Umhängetasche nur eine weitere Reisetasche mit etwas Wechselkleidung mitgenommen, die er zügig in Empfang nehmen konnte. Nach der obligatorischen Passkontrolle begab er sich