M.E. Lee Jonas

Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel


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erwachen und kehren behutsam zurück, so wie aus einem langen, tiefen Schlaf. Trotzdem hat J.J. Mühe, die Gefühle, die diese Erinnerungen mit sich bringen, zu kontrollieren.

      »Da sind Papa und Großmutter Vettel! Und da ist Flick«, ruft sie aufgewühlt und setzt sich noch ein Stück weiter nach vorn, um die Gäste besser erkennen zu können. Alles in ihrem Körper vibriert.

      Vor Aufregung bläht sich ihr Magen weit auf, während ihr Puls wie wild rast. Nun beginnen Erinnerungsfetzen, wie Fotografien, vor ihrem geistigen Auge aufzublitzen. Zusammenhanglose Stimmfetzen, Gerüche, Bilder und ein Wirrwarr tiefer, unbekannter Gefühle durchdringen sie und verursachen ein innerliches Chaos. Das ist zu viel für J.J. und um sie herum beginnt sich plötzlich alles zu drehen.

      Sie hält sich die Augen zu, da ihr furchtbar zumute ist.

      »Aufhören!«

      Sie versucht den Brechreiz zu unterdrücken.

      In diesem Moment ist der Film vorbei.

      J.J. sitzt vornübergebeugt auf der Schaukel und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.

      »Mir ist furchtbar schlecht«, flüstert sie.

      Das Sonnentrichterorakel räuspert sich verlegen.

      »Ich sagte ja, dass es besser ist, langsam anzufangen. Brauchst du ein Glas Wasser?«

      Sie schüttelt den Kopf und steht vorsichtig auf, da sie Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten.

      »Florence, ich kann mich wirklich an manche Dinge erinnern!«

      Sie hält inne und beginnt zu schluchzen. Der Baum, hinter der Schaukel, neigt schützend einen Zweig über sie und streicht ihr sanft über den Rücken.

      »Ich kann mich wieder erinnern! Meine Mama und mein Papa. Da war dieser Unfall kurz nach diesem Geburtstag. Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich mich unter dem Sitz verstecken solle. Sie sagten, es sei ein Spiel. Es gab einen lauten Knall und meine Mama hat furchtbar geschrien. Ich habe mir die Ohren zugehalten und dann wurde es dunkel. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich bei Großmutter. Sie sind dabei gestorben, stimmts? Es war kein Spiel. Sie sind geflohen! Sie wollten mich wegbringen. Ich kann mich vage erinnern, dass Papa und Großmutter gestritten haben. Aber es sind nur Fetzen. Ich war noch so klein. Doch ich erinnere mich, dass er gesagt hat, er werde nicht zulassen, dass die mich bekommen. Ich weiß nicht, wer »Die« sind, aber es hat etwas mit dem dunklen Ding zu tun, das ich in meinen Träumen gesehen habe. Es ging um Hexen, nicht wahr?«, schreit sie dem Sonnentrichterorakel entgegen.

      Sie muss innehalten, da ihr wieder schwarz vor Augen wird. Vorsichtig setzt sie sich zurück auf die Schaukel.

      »Ich muss das alles jetzt erst einmal irgendwie einordnen. Das ist alles ein bisschen viel. Florence, vielleicht klingt es verrückt, aber ich glaube, meine Großmutter ist eine …«

      J.J. schüttelt den Kopf und beendet schließlich flüsternd den Satz.

      »Ich glaube, sie ist eine Hexe! Wenn mich meine Erinnerungen nicht täuschen, ist sie sogar eine von den Bösen.«

      Sie springt auf und lacht hysterisch.

      »Aber das gibt es doch alles gar nicht! Hexen und Zauberwesen. Bin ich etwa verrückt? Was ist das für ein Spiel?«

      Entrüstet dreht sie sich zu Florence und sieht ihm zornig in die Augen. Das Blumenorakel räuspert sich verlegen. Es wusste, dass es ein schwieriger Moment werden würde, wenn ihre Erinnerungen zurückkommen, aber nun fühlt es sich mehr als unwohl.

      »Wieso sollte ich denken, dass du verrückt bist? Weil du dich daran erinnerst, dass deine Großmutter eine Hexe ist? Sieh dich um, Jezabel. Du stehst in einem Zaubergarten und siehst dir einen Kinofilm an. Du redest mit einer Blume! Also, wieso sollte ich denken, dass du verrückt bist? Es ist kein Ratespiel, J.J. Es ist deine Vergangenheit!«

      Sie legt den Kopf in den Nacken und prustet los.

      »Ich dachte, so etwas gibt es nur in Filmen. Das ist ein Hammer! Meine Biografie ist wirklich einzigartig! Britany Hoilding hat wahrscheinlich recht und ich gehöre in ein Irrenhaus! Zum Glück weiß niemand etwas davon. Noch nicht!«

      Sie setzt sich im Schneidersitz auf die Schaukel und schaut dem Sonnentrichterorakel eindringlich in die Augen.

      »Meine Großmutter ist also eine böse Hexe und ich gehe davon aus, dass ich auch eine werden soll. Ich erinnere mich an einen anderen Geburtstag. Verbessere mich, falls ich mich irre. Es war in Großmutters Haus und ich war so glücklich. Alle meine Freunde waren da und Broaf, mein geliebter Broaf. Der Geruch seines Aftershaves war der betörende Duft, den ich in meinen Träumen wahrgenommen habe. Auf jeden Fall hat Großmutter mir dieses Päckchen überreicht und da war dieser Stein drin. Ich war stinksauer und dann weiß ich nicht mehr weiter. Aus irgendeinem Grund war ich sehr böse auf sie. Ich bin in den Garten gerannt und … Oh Florence, wie konnte ich das die ganzen Jahre nur vergessen? Ich meine, wie kann man vergessen, dass man eine böse Hexe als Großmutter hat?«

      J.J. ist völlig durcheinander. Sie streicht über den Blütensitz und betrachtet den Garten nun mit anderen Augen.

      »Was ist damals passiert, Florence? Warum hat Großmutter mich weggeschickt?«, fragt sie leise.

      Das Sonnentrichterorakel versucht eine Träne zu unterdrücken, die ihm trotzig über das Gesicht rinnt, und räuspert sich erneut.

      »Sie tat es, weil sie dich über alles liebt! Deine Familie ist seit Jahrhunderten dem dunklen Phad verpflichtet. Aber vergiss bitte die Märchen, die sich die Menschen über mächtige Hexen erzählen. Vettel ist keineswegs bösartig! Aber daran wirst du dich hoffentlich bald wieder erinnern. Der Hexenrat hat deine Großmutter einen Tag vor deinem sechsten Geburtstag darüber informiert, dass dein Gedankenstein in Xestha gehoben wurde. Das heißt, du hattest offiziell deine magische Reife erlangt und eigentlich in den dunklen Phad gehen müssen. Aber du warst als Kind schon äußerst konsequent und hast dich vehement dagegen gesträubt. Du wolltest einfach nicht als Hexe leben.

      Da deine Großmutter dich über alle Maße liebt, hat sie daraufhin eine Entscheidung getroffen, um dich zu schützen. Deine Urgroßmutter hat einen großen Zauber entwickelt, den wir schlicht den »Vergessenszauber« nennen. Und der macht genau das, was er aussagt. Er raubt dir deine Erinnerungen, und unterdrückt gleichzeitig die Magie, die jedem Zauberwesen innewohnt. Dieser Zauber ist ein mächtiger, dunkler und böser Zauber, da er in den freien Willen eines Lebewesens eingreift.

      Darania, die Oberhexe, ist seitdem besessen davon, ihn zu besitzen, da er nur deiner Familie gehört. Deine Großmutter ist nicht so, wie sie nach außen erscheint, meine Liebe. Sie hat mit diesem Zauber schon einigen Wesen das Leben gerettet. Ja, das hat sie! Daranias Späher, die Skulks, können dich aufgrund der Magie, die in dir liegt, überall im Universum orten. Wenn du allerdings alles vergisst und damit auch deine Magie, ist das nicht mehr möglich. Sie wollte dich damit schützen. Sie hatte bei Mrs. Rogan noch etwas gut, also hat sie dich am Abend deines sechsten Geburtstages in das Internat gebracht. Anschließend hat sie zwei Monate nur geweint.«

      Das Sonnentrichterorakel seufzt ausgiebig und schüttelt eine weitere Träne aus seinem Gesicht.

      J.J. sieht Florence nachdenklich an, während sich ihre Erinnerungen wie ein Puzzle zusammenfügen. Die intensiven, unerträglichen Gefühle und der Druck im Bauch lassen jedoch nach.

      »Was ich nicht verstehe. Warum wollten meine Eltern schon fünf Jahre vorher mit mir fliehen, wenn ich erst mit sechs Jahren in den dunklen Phad sollte?«, fragt sie versonnen.

      Das Sonnentrichterorakel weiß, dass sie schon viel zu lange in seinem Hort ist und versucht nun, es auf behutsame Weise, darauf aufmerksam zu machen.

      »Das ist alles sehr kompliziert, Jezabel. Das muss dir deine Großmutter selbst erklären. Es ist wichtig, dass du ihr vertraust. Sie erwartet dich übrigens schon sehnsüchtig. So wie die restlichen Bewohner auch. Wir haben dich alle sehr vermisst! Am schlimmsten war es allerdings für Lincoln!«

      Als J.J. diesen Namen hört, lächelt sie, da sie sich auch an Lincoln erinnern