M.E. Lee Jonas

Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel


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sinkt langsam hinab und bleibt etwa einen halben Meter über dem Boden in der Luft stehen. Oma Vettel streicht ihr sanft über den Stiel.

      »Gut gemacht, Rosinante. Es war uns ein Vergnügen, mit dir zu reisen!«

      Erst als die beiden abgestiegen sind, legt sich Rosinante ebenfalls erschöpft hin. Oma Vettel hebt sie auf und sieht sich zufrieden um.

      »Wie ich sehe, sind die Bewohner während meiner Abwesenheit sehr fleißig gewesen! Das Haus hat sich heute aber besonders prächtig herausgeputzt! Ich hoffe, ich finde noch irgendetwas wieder«, schimpft die alte Dame los und begutachtet argwöhnisch das Gebäude.

      Sie nimmt ihre Enkelin, die sich fasziniert umsieht, vorsichtig an die Hand.

      »Und, kannst du dich wieder erinnern, mein Liebes?«, fragt sie besorgt.

      J.J. läuft ein Stück über das Grundstück und sieht sich um.

      Sie erkennt die endlose Einfahrt wieder, mit der sie sich als kleines Kind so manchen Spaß mit neugierigen Kindern aus dem Dorf gemacht hatte. Seltsame Blumen mit exotischen Blüten, die einen wunderschönen Vanilleeisduft ausströmen, winken ihr fröhlich zu. Die sind J.J. auch nicht sonderlich fremd, da sie etliche davon in ihren Träumen sah. Die Kauribäume, die sich schützend um das Haus reihen, stehen immer noch saftig grün an derselben Stelle wie damals. Die Rosenbäume mit den seltsamen Früchten, die man das ganze Jahr ernten kann, sind jedoch prachtvoller als in ihrer Erinnerung.

      Als sie einen Schatten neben sich wahrnimmt, staunt sie nicht schlecht. Der Schmetterling, der Oma Vettels Hut krönte, erhebt sich nun sacht in die Luft und fliegt nah an ihr Gesicht. Er schwirrt einige Sekunden vor ihren Augen, als wolle er sie begrüßen, und fliegt dann zu einem Baum mit wundersamen Pastellblüten, die sich plötzlich in die Höhe erheben. Nun erkennt J.J., dass es keine Blüten, sondern unzählige Schmetterlinge sind, die nach vorn schwirren und sich zu einem großen, blinkenden Herz formieren. Sie halten kurz inne und verschwinden schließlich wieder im Baum.

      »Ja, das ist Igor! Er hat es sich nicht nehmen lassen, mich zu begleiten«, sagt Vettel stolz.

      J.J. ist verzückt, möchte nun aber endlich in das seltsame Haus hinein. Mit pochendem Herz und ihrer Großmutter an der Hand geht sie auf das prächtige Gebäude zu.

      »Das ist also meine Vergangenheit.«

      Auf der schneeweißen Veranda begrüßen sie blinkende Luftballongirlanden, die zusammen den Satz »Herzlich Willkommen, liebe Jezabel« bilden.

      Sie ist gerührt und gleichzeitig wehmütig. Die Erinnerungen an den letzten Tag in diesem Haus, ihrem sechsten Geburtstag, kommen allmählich zurück und damit die Frage, warum sie es Hals über Kopf verlassen musste.

      »Warum musste ich weg von diesem wunderschönen Ort? Und warum durfte ich mich in den vergangenen Jahren an nichts erinnern?«

      Sie wendet sich zu ihrer Großmutter, die erahnt, was in J.J. vorgeht.

      »Ich sah damals keinen anderen Ausweg. Auf jeden Fall keinen, der verhindert hätte, dass du nach Xestha gehen musst. Ich hätte dich also so oder so gehen lassen müssen. Damals hoffte ich, es sei in deinem Sinne, wenn ich dir ein normales Leben schenke. Ich war verzweifelt, da ich fürchtete, dich niemals wiederzusehen. Das war mein größter Schmerz in den letzten Jahren. Aber die Umstände haben sich geändert und nun muss ich erneut handeln. Das möchte ich dir jedoch später alles in Ruhe erklären. Ich denke, wir sollten jetzt hineingehen. Dort warten ein paar alte Freunde schon ungeduldig auf dich!«

      Mit feierlicher Miene schreiten sie gemeinsam die Stufen der Veranda hinauf, während J.J. immer noch von dem Anwesen überwältigt ist.

      Vettels Haus hat eine schneeweiße Holzfassade und erinnert an eines der wunderschönen Siedlungshäuser, mit deren prachtvoll verzierten Veranden. Nur, dass dieses hier unglaublich hoch zu sein scheint. J.J. starrt hinauf und versucht die Etagen zu zählen, kommt jedoch nur bis zum vierten Stock, da der Rest im blendenden Sonneschein verschwindet.

      »Ja, heute gibt es ein bisschen an. Aber wir mussten in den letzten Jahren auch anbauen, da es inzwischen ein paar Bewohner mehr geworden sind. Komm, wir sehen uns mal an, was sich im Inneren getan hat«, rät Oma Vettel und winkt sie ungeduldig zu sich.

      J.J. geht die letzten Stufen langsam hinauf.

      »Die fünfte Stufe knarrt immer noch, wenn man auf sie tritt. Es gibt also Dinge, die selbst ein Zauberhaus nicht in den Griff bekommt.«

      Neben ihr zerplatzt ein Luftballon und lässt Bonbons auf sie regnen. Oma Vettel hebt eine Handvoll auf und reicht sie ihr.

      »Sahnetoffee. Die mochtest du als Kind immer am allerliebsten.«

      J.J. nimmt sie und steckt sie in ihre Hosentasche. So wie früher. Dann dreht sie sich zur Haustür und holt tief Luft. Ihre Großmutter eilt voraus und hält sie ihr lächelnd auf.

      Nervös tritt J.J. in den Flur.

      Das Erste, was sie wahrnimmt, ist ein vertrauter Geruch. Eine Mischung aus Vanille, Lavendel, Rosenblüten und Salbei. Er ist nicht aufdringlich intensiv, sondern sehr angenehm. J.J. geht vorsichtig durch die große, helle Diele und sieht sich zaghaft um. Vor ihr liegt eine breite Treppe mit großen Stufen, die in die oberen Etagen führt. Das prachtvolle Holzgeländer erinnert sie an die alten Gutshäuser in den Immobilienkatalogen von Selenas Vater. An der Wand hängen alte Porträts und viele Fotos. Links und rechts von ihr befinden sich kleinere Flure, die in die unteren Räume führen.

      J.J. geht nach links und lauscht. Nach einer Weile geht sie schnurstracks auf eine große Tür zu, hinter der, sofern ihre Erinnerung sie nicht täuscht, sich der große Esssalon befindet, in dem früher die großen Feierlichkeiten stattfanden. J.J. stockt und dreht sich zu ihrer Großmutter, die hinter ihr steht und inzwischen ihren Hut abgenommen hat. Sie erkennt das vertraute, weiße Haar und die Strähne hinter dem linken Ohr, die abwechselnd rosa und grün blinkt. Das hat sie schon auf dem Flug amüsiert, doch da hat sie noch signalrot geblinkt. J.J. bemerkt, dass ihre Großmutter weint. Die legt ihren Hut auf die Ablage und kommt feierlich auf sie zu.

      »Willkommen zu Hause, meine kleine Jezabel!«

      J.J. entgeht nicht die zittrige Stimme, in der sie Verzweiflung, Hoffnung und Freude zugleich hören kann. Sie nimmt ihre Großmutter fest in den Arm und dann schreiten sie gemeinsam in den Esssalon, in dem J.J. vor acht Jahren ihren letzten Geburtstag in diesem Haus feierte.

      Kapitel 5

      Havelock. Zurück nach Hause

      Ohrenbetäubendes Gejohle, gellende Pfiffe, zuckende, helle Blitze und ein Meer von rasselnden Luftschlangen, Glitzerkonfetti und bunten Rauchwölkchen lassen J.J. den Atem stocken. Ihr Puls rast und ihr Herzschlag setzt fast aus. Die Luft ist schwer und riecht nach frischgebackenen Pfannkuchen mit Karamellsoße. Ihre Augen versuchen einen Punkt zu finden, den sie fixieren können, aber die Fülle dieser Eindrücke lässt sie unaufhörlich durch den riesigen Esssalon wandern.

      »Willkommen zu Hause, liebe Jezabel! Willkommen zurück! Wir vermissten dich ohne Pause, denn du bist unser Glück«, singt ein gut gelaunter Chor von Wesen und Geschöpfen, die Jezabel unbemerkt die letzten Jahre so schmerzlich vermisst hat.

      Dirigiert wird das Spektakel von Henry McMuffel, einem Geisterfrosch, der nach jedem dritten Ton missbilligend den Kopf schüttelt und dabei seine Backen aufbläht, dass man Angst hat, sie würden jeden Moment platzen. Je nach Laune ist er mehr oder weniger durchsichtig. Heute ist er sehr aufgeregt und deshalb muss man in dem ganzen Gewusel auch genau hinsehen, um seine Umrisse erkennen zu können. Lediglich sein überdimensionaler Taktstock, der mit seinen vierzig Zentimetern doppelt so lang, wie der Frosch selbst ist, lässt J.J. erahnen, wo er sich gerade aufhält.

      Die Bewohner und Gäste haben sich im Raum verteilt und schauen sie mit großen Augen an. Der Erste, der auf J.J. zugerannt kommt, ist Lincoln der Halbtagshund. Er flitzt so schnell ihn seine Pfoten tragen und springt kräftig nach oben, als er sie endlich erreicht. Leider landet er nur platt auf ihrem Oberschenkel,