Als J.J. sich eins greift, ist sie erstaunt, da sie noch warm sind. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung langt sie kräftig zu, auch wenn es ihr irgendwie unheimlich ist, dass selbst das Hühnchen wie frisch aus dem Backofen schmeckt. Ihre Unsicherheit und die Zweifel schwinden jedoch mit jeder Minute, die sie mit den beiden verbringt.
»Wie lange fahren wir eigentlich noch?«, fragt sie nebenbei, während sie noch eins der knusprigen Brötchen aufschneidet.
Ihre Großmutter setzt die Tasse ab und grinst.
»Wir fahren überhaupt nicht mehr! Ich habe keine Lust, meine alten Knochen noch länger in das alte Schätzchen da zu quetschen. Ich denke, wir nehmen ein bequemeres Transportmittel!«
J.J. stopft sich ein großes Stück Kuchen in den Mund und spült es mit einem Schluck der herrlich kühlen Limonade herunter.
»Und was ist das für ein Transportmittel? Ein Bus, ein Flugzeug? Wir müssen doch zur Fähre kommen«, fragt sie fröhlich schmatzend.
Oma Vettel sieht ihren Diener verdutzt an und überlegt.
»Manche Dinge muss sie erst wieder lernen, denke ich.«
Die alte Dame setzt sich kerzengerade hin und nimmt Daumen und Zeigefinger in den Mund, um einen glockenklaren, schrillen Pfeifton zu erzeugen. J.J. erschreckt sich derart, dass ihr das Brötchen aus der Hand fällt.
»Rosinante! Ardogo!«, brüllt ihre Großmutter unvermittelt hinterher.
J.J. sieht sich verstohlen um, da ihr das nun doch irgendwie peinlich ist. Immerhin sitzen sie mit einem ausladenden Picknick in einer Parkbucht, die sich an einem gut befahrenen Highway befindet. Nun dreht sie sich verwirrt um, da sie ein merkwürdiges Zischen hört. So als würde jemand Luft aus einem riesigen Ballon entweichen lassen. Das Geräusch wird lauter und geht schließlich in einen schrillen Pfeifton über. Da kommt plötzlich ein Besen angeflogen, der sich zwischen ihr und Oma Vettel niederlässt. Vor Schreck geht J.J. in Deckung und staunt. Rosinante, so der Name von Oma Vettels Hexenbesen, der seit vielen Generationen der Familie von Winterhardt gehört, lehnt sich lässig an den Tisch.
»Wir reisen so, wie es sich für anständige Hexen gehört. Mit unserem Besen natürlich! Damit sind wir viel schneller, und die Aussicht ist auch viel besser! Zudem ist es gutes Training für die mittleren Muskelpartien«, erklärt Vettel kichernd und klopft zur Bestätigung kräftig auf die Oberschenkel. J.J. lacht und betrachtet skeptisch das sonderbare Fluggerät.
»Wir reiten also zu dritt mitten am Tag auf diesem Besen nach Havelock?«, fragt sie zynisch.
Oma Vettel, die sich gerade ein großes Stück Sahnecremetörtchen in den Mund schiebt, hält inne und stutzt.
»Wo denkst du hin? Nicht wir drei. Broaf muss doch unseren Wagen nach Hause fahren. Wir zwei fliegen mit Rosinante oder hast du etwa Höhenangst?«
J.J. schüttelt den Kopf und nimmt Rosinante in die Hand.
Auf den ersten Blick ist es ein normaler Reisigbesen mit einem circa 1,60 Meter langen Stiel, an dessen Ende ein fünfzig Zentimeter langes Reisigbündel verknotet ist. Im hinteren Drittel ist der Stiel leicht durchgebogen, damit man bequemer sitzen kann. Vielleicht ist er aber auch einfach nur sehr durchgesessen. Er ist dunkelbraun und blank poliert, sodass er wunderbar in der Hand liegt.
J.J. steigt auf, so wie sie es in Büchern oder Filmen gesehen hat.
»Und, mache ich das richtig, Großmutter?«, fragt sie keck.
Oma Vettel klatscht vergnügt und steht auf.
»Sieht gar nicht mal so schlecht aus. Aber das Reisig gehört nach hinten, mein Schatz!«
J.J. sieht verlegen nach hinten und muss dann wegen der komischen Situation lachen.
»Komm her. Ich zeige es dir!«
Ihre Großmutter reißt den Besen an sich und schwingt sich gelenkig darüber. Jetzt, wo sie das sieht, kommt es J.J. gar nicht mehr so abwegig vor, dass diese alte Dame eine Hexe ist. Vettel streicht sanft über den Stiel und schwärmt:
»Früher sind wir viele Touren mit Rosinante geflogen. Du hast dich immer hinter mich gesetzt und mir mit deinen Armen fast die Luft abgedrückt. So fest hast du dich gehalten. Dabei hast du jedes Mal geschrien wie der Teufel. Beim nächsten Ausflug warst du jedoch immer die Erste, die auf dem Besen gesessen hat! Rosinante ist ein gutes Mädchen. Sie gehört mittlerweile seit sechshundert Jahren zu unserer Familie und musste erst zwei Mal repariert werden, weil sie sich so eine bösartige Flechte eingefangen hatte. Ja, das waren wirklich furchtbare Zeiten! Es ist nämlich sehr aufwendig, diese Besen zu reparieren. Es gibt nur einen einzigen Gärtner, der das kann und der lebt im weisen Phad. Da ich dort nicht hinreisen darf, musste ich Rosinante zu Vinillius bringen. Das ist der Wächter der beiden Zauberreichtore und damit neutrale Zone. Er nimmt die guten Stücke und lässt sie per Kurier in den weisen Phad bringen. Wenn die Besen endlich repariert sind, bekommen wir Bescheid und müssen sie bei Vinillius abholen. Das letzte Mal musste ich fünf Wochen warten! Schlimme Zeit war das! Na ja, jetzt ist ja alles wieder gut. Also, mein Kind. Wenn du mit dem Essen fertig bist, können wir starten!«
J.J. trinkt schnell ihre Limonade aus und schnappt ihre Jacke. Als sie ihren Teller abräumen will, fährt Broaf ihr dazwischen.
»Junge Dame, ich wäre ohne Arbeit, wenn du das tun müsstest. Bitte lass mich das erledigen. Ich wünsche dir einen angenehmen Flug!«
Sie lächelt den Diener verschmitzt an und geht schnurstracks zum Besen, auf dem bereits ihre Großmutter sitzt und auf sie wartet. J.J. stockt, da die alte Dame inzwischen eine riesige, braune Fliegerbrille aufgesetzt und ihren Hut gegen eine altmodische Fliegerhaube getauscht hat.
»Die habe ich mir vor ein paar Jahren zugelegt, da ich nicht mehr die besten Augen habe und der Wind mich manchmal schmerzt. Da oben herrscht mitunter ein sehr raues Klima! Wenn ich nicht richtig sehen kann, ist so ein Flug ziemlich gefährlich! Also, komm schon! Setz dich hinter mich. Wir wollen endlich los. Zu Hause werden wir bereits sehnsüchtig erwartet!«
J.J. nimmt Schwung und setzt sich erwartungsvoll auf das magische Transportmittel.
»Forto!«, schreit die alte Hexe laut, als der Besen sich auch schon sacht in die Luft erhebt.
Nicht so steil wie Flugzeuge auf der Startbahn, sondern waagerecht und sanft wie ein Fahrstuhl. Trotzdem schlingt J.J. aus Reflex ihre Arme fest um ihre Großmutter.
Als sie sich ungefähr fünf Meter über den Boden befinden, traut sich J.J. zum ersten Mal nach unten zu sehen. Vorsichtshalber lugt sie nur mit einem Auge, das sie schnell wieder verschließt. Doch dann wird sie mutig und sieht erstaunt hinab. Ein kurzer Schrei entfährt ihr zwar, aber Angst hat sie keine. Fasziniert winkt sie Broaf, der die Picknicksachen längst im Wagen verstaut hat und nun selbst die Heimreise antreten will.
Jetzt beginnt der abenteuerliche Teil ihrer Reise.
J.J. sitzt auf einem Besen und fliegt in schwindelerregender Höhe über den Highway, der sich weit unter ihnen durch die riesigen Wälder schlängelt. Sie sieht Autos, die wie Ameisen auf dem grauen Asphalt herumeilen und anscheinend überhaupt nicht bemerken, dass über ihnen eine Hexe auf einem alten Besen sitzt und wild jauchzend in Richtung Südinsel fliegt.
»Ich werde wahnsinnig! Das ist das Coolste, was ich jemals gemacht habe«, brüllt sie aufgeregt.
Sie lehnt ihren Kopf an den Rücken ihrer Großmutter und betrachtet ehrfürchtig die Landschaft, die sich über und unter ihnen erstreckt. Sie sieht die riesigen Wälder, die wie grüne Teppiche unter ihnen liegen und das endlose Meer, das, je höher sie fliegen, immer blauer zu werden scheint. Sie preschen durch gigantische Wolkengebirge, die unentwegt ihre Formen ändern, als würden sie Scharade spielen. Ab und an sinkt Oma Vettel ein Stück tiefer, damit J.J. Delfine, Wale und sogar ein paar Robben sehen kann.
»Ich bin im Himmel«, jubelt J.J. überschwänglich und genießt den Wind, der ihr sanft durchs Haar streicht.
Als sie nach circa einer Stunde in Havelock landen, ist sie völlig erschöpft,