der Unfall von Hinkofen. Okay, das waren unschuldige Kinder angesehener Bürger. Alles passte zusammen. Der Arzt stellte den Tod fest und kurz darauf wurden die Leichen auf Wunsch der Eltern verbrannt. Nicht einmal eine Obduktion ist durchgeführt worden. Aus heutiger Sicht ist das alles verdammt schnell über die Bühne gegangen. Aber genau deshalb bin ich jetzt lieber übergründlich, als mir hinterher vorwerfen zu lassen, ich hätte geschlampt.“
Inzwischen waren die Brote aufgegessen und die Biere ausgetrunken. „Kann ich eine Kopie des Phantombildes für die Zeitung und die Online-Ausgabe bekommen?“, fragte Fritsch.
„Ich bitte darum“, entgegnete Lange. „Drucken Sie es ab und fragen Sie Ihre Leser, wer diesen Mann in der Nacht von Samstag auf Sonntag gesehen hat.“
„Dann mach ich mich mal auf den Weg“, sagte Fritsch. „Soll ich morgen vorbei kommen?“
„Wenn es sich bei der Leiche wirklich um Schneider handelt, dann müssen Sie mir morgen alles über die Vorkommnisse vor 20 Jahren erzählen“, sagte Lange. „Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.
Ach, noch eine Kleinigkeit. Um nachprüfen zu können, ob Schneider Sie wirklich angerufen hat und – zugegen, ob es mehrere Kontakte zwischen ihnen beiden in den letzten Tagen und Wochen gab – würden wir gern ihre Telefon- und Handykontakte prüfen. Nachdem Sie bislang kein Verdächtiger sind, brauchen wir dazu Ihr Einverständnis.“
„Eine Kleinigkeit, sagen Sie“, antwortete Fritsch eine Spur zu laut. „Wie Sie wissen, bin ich Journalist. Zu meinen wichtigsten Pflichten gehört es, meine Informanten zu schützen. Wenn ich zustimme, dass Sie meine Telefondaten überprüfen, dann werden Sie auf diesen Listen Leute finden, die in keinem Fall wollen, dass jemand weiß, dass sie mit mir gesprochen haben. Das wäre höchst peinlich für diese Informanten. Nein, es tut mir leid, diese Zustimmung kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Sprechen Sie mich nochmals darauf an, falls ich Ihr Hauptverdächtiger werde.“
Das sollte wohl witzig gemeint sein, gefiel Lange aber gar nicht. Doch er hatte sich im Griff. „Ich kann Ihre Argumente nachvollziehen, aber ich hätte gedacht, dass Sie bei Mordermittlungen anders reagieren. Sagen Sie mir wenigstens, ob Schneider Sie am Handy oder über das Festnetz angerufen hat.“
„Per Festnetz, da bin ich mir sicher.“
„Und haben Sie ein Telefon, das die eingehenden Nummern speichert?“
„Ja, sagte Fritsch. „Ich verstehe. Ich werde nachschauen, ob die Nummer gespeichert ist und gebe Ihnen morgen Bescheid.“
ACHT
Nachdem Fritsch sich verabschiedet hatte, ließ Lange das Gespräch Revue passieren. Das leicht patzige Ende einer ansonsten sehr harmonischen Unterredung irritierte ihn. Hatte Frisch doch etwas zu verbergen? Noch ärgerlicher war, dass Lange das Gefühl hatte, an einer wichtigen Stelle nicht nachgehakt zu haben. Die Auseinandersetzung um die Telefondaten hatte den flüchtigen Gedanken aber vertrieben. Der Kommissar bedauerte jetzt doch, dass es keinen Mitschnitt des Gespräches gab. Egal, vielleicht war es ja gar nicht wichtig gewesen und wenn doch, so würde es ihm hoffentlich wieder einfallen.
„Ich darf jetzt nicht anfangen, überall Gespenster zu sehen“, ermahnte sich der Kripochef. Deshalb ging er die wichtigsten Punkte, die er herausgefunden hatte, nochmals durch. Da war als erstes die Person Fritsch. Ist er ein Zeuge oder ein Verdächtiger? Lange hielt sich viel auf seine Menschenkenntnis zugute und musste zugeben, dass ihm der ca. fünf Jahre jüngere, stämmige Mann, der seinen Bauchansatz durch weite Kleidung zu kaschieren suchte, durchaus sympathisch war. Ihr erstes kurzes Gespräch noch am Tatort hatte wie ein Schlagabtausch gewirkt, beim Besuch auf dem Revier hatte sich Frisch sehr offen und ehrlich gezeigt.
Um ein Bild von der Stadt zu bekommen, in der er der neue Kripochef war, las Lange die örtliche Zeitung sehr genau durch. Ihm war durchaus aufgefallen, dass der Lokalteil des Gondorfer Tagblatts den Vergleich zu den großen Münchner Tageszeitungen nicht scheuen musste. Das Tagblatt spiegelte das Leben im Ort anschaulich und bunt wider. Bürgermeister und Landrat wurden auch nicht mit Samthandschuhen angefasst, sondern mussten sich häufig Kritik gefallen lassen.
Fritsch verstand sein Handwerk und hatte selbst in Kreisen der Polizei ein hohes Ansehen. Für Lange war das neu. In München empfand die Polizei die Presse eher als Gegner, der meist unfair berichtete und mit fehlerhaften Berichten nicht selten den Fahndungserfolg gefährdete. Speziell seine Kollegen Adam und Grundner hatten Lange geraten, Fritsch als Partner, nicht als Feind zu betrachten.
Was störte dieses Bild? „Fritsch ist halt ein unverbesserlicher Romantiker“, hatte Adam schulterzuckend gemeint. Auffallend war, dass ein Mann in der Position von Fritsch, der auf Augenhöhe mit allen Honoratioren des Ortes verkehrte, keine Familie hatte, keine Ehefrau und keine Kinder und als fast Vierzigjähriger allein mit seinem Hund in einem kleinen Haus lebte. Lange hatte nicht einfach nur aus Neugier beim Klassentreffen recht direkt nach Clarissa und Bibi gefragt. Da war schon deutlich geworden, dass Fritsch Privatleben längst nicht so erfolgreich und glücklich verlaufen war wie sein Arbeitsleben. Aber rechtfertigte das polizeiliches Misstrauen?
Auch bei drei Punkten, nach denen Lange gar nicht gefragt hatte, sah er etwas klarer. Wenn zwei Männer sich am Sonntagmorgen um 8 Uhr an einem einsamen Ort trafen bzw. treffen wollten, gab das Anlass zu Spekulationen. Die beiden konnten eine geheime homosexuelle Partnerschaft führen. Diese These konnte in diesem Fall ausgeschlossen werden. Nächste These: Der eine erpresste den anderen! Dass eine Erpressung mit 20-jähriger Verzögerung begann, klang verrückt. Und da Fritsch Schneider gefunden hatte, konnte nur Fritsch der Erpresser sein. Warum sollte gerade er dann sein potentielles Opfer töten? Aber all das war so unwahrscheinlich, dass Lange das Thema auf der 1. SOKO-Sitzung nicht mal angesprochen hatte.
Blieb eine dritte Möglichkeit: Zwei Männer wollten bei einem geheimen Treffen etwas aushecken – also sich beispielsweise bei dem anstehenden Klassentreffen an einem ehemaligen Mitschüler oder einer Mitschülerin rächen. So, wie die Fakten bislang aussahen, wäre dann Schneider die treibende Kraft gewesen, der von Fritsch wissen wollte, ob er bei der Sache mitmachen würde. Und das potentielle Opfer hatte den Braten gerochen und war Schneider zuvorgekommen. Diese Möglichkeit, die durchaus plausibel klang, wollte Lange im Hinterkopf behalten.
Ziemlich sicher war er sich, dass Fritsch wirklich nicht gewusst hatte, warum Schneider ihn treffen wollte. Und das war aus Sicht von Lange sehr schade. Es war bestimmt kein Zufall, dass Schneider ausgerechnet Fritsch gewählt hatte. Wenn sie herausfinden könnten, welche Motive Schneider dafür hatte, wären sie ein gutes Stück weiter in ihren Ermittlungen, davon war Lange überzeugt.
NEUN
Als Fritsch das Polizeirevier verließ, was es fast 21 Uhr. Nach dem heftigen Regen am Morgen war das Wetter im Laufe des Tages umgeschlagen. Fritsch genoss die warme Abendsonne, trank in einem Straßencafé, wo überwiegend junge Leute verkehrten, die ihn nicht weiter beachteten, noch ein Bier und machte sich dann auf den Heimweg. Daheim begrüßte ihn sein Hund, der Mischling Blink, schwanzwedelnd und voller Vorfreude auf den Abendspaziergang. Einer seiner Journalistik-Professoren hatte mal gesagt: „Ein guter Journalist sollte immer zwischen allen Stühlen sitzen. Und wenn er einen Freund braucht, dann sollte er sich einen Hund kaufen.“
Dieser Satz ging Fritsch immer mal wieder durch den Kopf. Er hatte schon als Junge einen Hund gehabt. Aber vermutlich hatte er sich Blink nach seiner Rückkehr nach Gondorf auch deshalb zugelegt, weil es einfach schön war, freudig begrüßt zu werden, wenn man heimkam. Fritsch ging noch schnell die Post durch, checkte seine E-Mails und machte sich auf den Weg, als es gerade dunkel wurde.
Sie drehten ihre übliche Runde durch den menschenleeren Stadtpark. Beim Rückweg kam ihnen eine Person in einem Trenchcoat entgegen. Ungewöhnlicher Aufzug für eine Sommernacht, dachte sich Fritsch. Erst im Licht der Laterne erkannte er Gerti, eine ehemalige Klassenkameradin, die schnurstracks auf ihn zuging, leise „Hallo Fidschi“ flüsterte, ganz nahe kam und ihn küsste. Fritsch atmete das verführerische Parfüm ein, hauchte „Hi Gerti“, drückte sie fest an sich und gab ihr einen Kuss,