D. Bess Unger

Der Engel mit den blutigen Händen


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mir das. Das war Crystal Meth. Das lasse ich doch nicht mir in die Schuhe schieben.«

      »Zurück auf die Plätze!« Der Lehrerin kam die Unterbrechung nicht ungelegen. »Das seht ihr, was herauskommt, wenn man mit Drogen dealt. Zurück zum Thema! Welche von den heutigen Drogen gilt als äußerst chic? Na?« Sie blickte bewusst nicht in die Richtung, in der Lena und Shara saßen. Keine Antwort. Sie hackte auf der Tastatur herum, der Beamer zeigte ein Bild, in behandschuhten Händen lag ein Haufen gelblicher Kristalle.

      »Kandiszucker! Nur Kandiszucker!« Jonas, der Klassenclown versuchte, die gedrückte Stimmung aufzuhellen. Vergeblich, der Beamer zeigte Bilder von vier Personen, jeweils ein Vorher- und ein Nachher-Bild. Erschrocken versuchten alle zu verstehen, was sie da sahen.

      »Das seht ihr die Auswirkungen von Christal Meth! Crystal gehört mit zu den zerstörensten Drogen. Das Potenzial der Abhängigkeit ist gewaltig. Crystal wird überwiegend geschnupft, teilweise auch geraucht, in Wasser gelöst und intravenös injiziert. Spätfolgen sind Zahnausfall, epileptische Anfälle, Hirnblutungen und Herzversagen. In der Regel dauert der Verfall nur zwei, drei Jahre. Wer aber denkt schon an Verfall, wenn der Rausch einsetzt, Minuten nach der Einnahme.«

      »Warum nimmt man das Zeug, wenn man in der Folge wie ein Zombie aussieht?«

      »Warum raucht man, wenn man die Ekelbilder auf den Zigarettenpackungen sieht? Menschen nehmen das Zeug, um ihr Leben geil zu finden, einen besseren Sex zu haben, den Himmel blauer, die Welt schöner zu sehen, die Musik intensiver zu erleben. Einer unserer Schüler ist dieser betörenden Verführung erlegen. Anfangs genügte ihm ein Schuss am Morgen vor der Schule, dann musste es immer öfter sein, am Schluss zehnmal am Tag. Eine unstillbare Gier nach immer mehr erfüllte ihn. Allmählich zog er sich in sich zurück, mit Freunden redete er nur belangloses Zeugs. Schreckliche Fantasien begannen ihn in den Nächten zu quälen. Er wurde aufbrausend oder lag starr auf dem Fußboden, total in sich versunken. Er hielt sich für eine Gefahr für die Menschheit, hörte eine innere Stimme, die ihm befahl, sich vor einen Zug zu werfen. Man brachte ihn in ein Krankenhaus für suchtkranke Jugendliche. Dort war er eingesperrt wie in einem Gefängnis. Von Zeit zu Zeit musste man ihn an das Bett fesseln, er gefährdete sich und die Mitpatienten. Erst nach Monaten glaubte man, ihn geheilt zu haben, und er wurde entlassen.« Frau Brechthold machte eine Pause, sie wirkte aufgewühlt.

      »Ist er geheilt, Frau Brechthold?«, fragte Jana kaum vernehmbar.

      »Nein, leider nicht. Ich habe Neuigkeiten gehört, und keine guten, wisst ihr. Er wurde rückfällig, die Zähne fielen aus, seine Persönlichkeit liegt nun in Trümmern. Antriebslos und leergebrannt dämmert er vor sich hin. Ich war seine Klassenlehrerin und kannte ihn als gescheiten und liebenswerten Jungen.«

      Sprachlos starrte die Klasse ihre Lehrerin an. Endlich meldete sich Annika: »Warum konnte er denn nicht aufhören damit? Ich hätte ihm keine Drogen mehr gegeben, dann hätte er das Zeug vergessen.«

      »Die Droge vergessen? Annika, der Junge ist süchtig! Süchtig! Wisst ihr, was das heißt? Er hat eine unstillbare Gier nach der Droge, gegen alle Vorsätze und Vernunft. Wenn du ihm das Zeug verweigerst, passieren schreckliche Dinge! Zuerst beginnt er unruhig zu werden. Ein Schwächegefühl überkommt ihn, er gähnt, zittert und schwitzt gleichzeitig, während eine Flüssigkeit aus Augen und Nase rinnt, was ihm vorkommt, als liefe heißes Wasser in seinem Mund empor. Für ein paar Stunden mag er in einen unruhigen Schlaf verfallen. Doch beim Erwachen, ein Tag nach Einnahme der letzten Dosis, betritt er die wahre Hölle! Das Gähnen kann so heftig werden, dass er sich die Kiefer ausrenkt, aus der Nase fließt jetzt ein dünner Schleim, die Augen tränen. Die Pupillen sind erweitert, die Körperhaare sträuben sich, die Haut ist kalt, sie wird zur Gänsehaut und sieht aus wie von einem gerupften Truthahn. Der Zustand verschlimmert sich, die Därme beginnen mit enormer Gewalt zu arbeiten. Die Magenwände ziehen sich ruckweise zusammen und verursachen ein explosives Erbrechen, wobei Blut mit austritt. Ungeheuer sind die Kontraktionen der Eingeweide. Der Leib sieht von außen so geriffelt und knotig aus, als seien direkt unter der Haut Schlangen in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. Die Bauchschmerzen steigern sich. Der Darm entleert sich immerfort, sodass es laufend zu wässrigen Stuhlgängen kommt. Auf die Toilette schafft er es nicht mehr, er ist zu kraftlos.«

      Zum Glück beendete die Pausenklingel die Schulstunde.

      »Entschuldigt, dass ich euch das so drastisch erzählt habe. Aber genau so sieht die Realität aus. Denkt an den Jungen, wenn euch jemand zu Drogen verführen will! Egal zu welchen!« Frau Brechthold verließ das Klassenzimmer.

      »Ich nehme nicht so ein Zeug«, unterbrach Benan die Stille. »Das mit den Schlangen ist ja widerlich«.

      Die Schule war aus, das Schneetreiben hatte aufgehört und die Sonne war durch die gelbgrauen Wolken gebrochen. Es war mild geworden, der glänzende Schnee, der vor sich hinschmolz, blendete in den Augen.

      Shara und Lena hatten ihre Anoraks ausgezogen und gingen über den Schulhof. Jählings packte Shara Lenas Arm und drückte ihn angstvoll. »Da, der Spargeltarzan und die Mädchen. Sie kommen direkt auf uns zu!«

      »Lass meinen Arm los, Shara! Sei unbefangen, schau nicht auf den Boden, sieh nach vorne. Sie werden uns nicht erkennen, sie blicken der Sonne entgegen. Das wird sie blenden.«

      Shara warf Lena einen erstaunten Blick zu, als sie mit waschechter Sorglosigkeit über ihre Lieblingssängerin Rihanna zu sprechen begann. Mit scheinbarer Gleichgültigkeit ging sie an dem Jungen und den Mädchen vorbei.

      »Wie schaffst du das nur, so cool zu bleiben?«

      »Jahrelanges Training in Shinson-Hapkido«, erwiderte Lena. »Das wäre auch etwas für dich! In brenzligen Situation gerätst du nicht in Panik. Am besten kommst du morgen mit zum Training und schnupperst hinein.«

      An der Bushaltestelle Richtung Ziegelhausen trennten sie sich. Lena bog in die Straße zum Geschäft ihrer Eltern ein. Als sie sich dem Laden näherte, sah sie, dass ihr Vater damit beschäftigt war, Steigen mit exotischen Früchten auf den vor dem Schaufenster stehenden Tisch anzuordnen. Einige Kisten standen noch auf dem Bürgersteig. Damis, der bei den Papaluka-Brüdern angestellt und für die Warentransporte der Geschäfte in Heidelberg und Mannheim zuständig war, hatte sie dort abgeladen. Lenas Vater schien die Arbeit Spaß zu machen, gekonnt pfiff er ein Lied seiner Lieblingssängerin Anna Vissi. Blaue Feigen, süßlich riechende Guaven, orangefarbene Sharonfrüchte, grüngelbe Mangos, birnenförmige Papayas und die bläulichen Jabuticabas wusste er farblich so geschickt anzuordnen, dass der Anblick eine reine Freude war.

      Die ersten Passanten blieben stehen und betraten den Laden.

      Lena bückte sich hinter den Ladentisch, um dort den Wohnungsschlüssel an sich zu nehmen. Als sie ihre Hand in das Glas mit dem Schlüsselmäppchen steckte, erstarrte sie. Ihr Blick fiel auf den Boden. Auf den sonst immer reinlichen Dielenbrettern lag ein Plastikbeutel. Lena zog die Hand aus dem Glas, hob ihn auf, drehte ihn um und sah in das Gesicht des böse blickenden Aliens. Vor Schreck ließ sie den Drogenbeutel fallen. Jemand musste ihn hinter dem Ladentisch verloren haben! Hier, in ihrem Geschäft! Wer?

      Hastig hob sie das Beutelchen auf, steckte es in ihre Tasche, nahm den Schlüssel und ging nach oben. In ihrem Zimmer legte sie sich auf die Couch und betrachtet den Sticker auf dem Umschlag. Ja, es war das gleiche Bild wie das in der Schule. ›Den seltsamen Buddha habe ich doch schon früher gesehen‹, überlegte sie verzweifelt, ›wo nur, wo?‹

      Um sich auf andere Gedanken zu bringen, zog Lena ein Buch aus der untersten Schreibtischschublade. Für sie stellte es eine Verbindung zu ihren indianischen Vorfahren her. Ihre amerikanische Mutter durfte es nicht sehen, ängstlich hütete die das Geheimnis ihrer Abstammung. Indianische Heilgeheimnisse von Frank Yellow Horse und John Standing Bear stand auf dem Umschlag. Sie schlug das Buch in der Mitte auf. Die Sonne begrüßen hieß das Kapitel, am Anfang stand ein indianischer Ritualgesang. Ihre Lippen begannen die indianischen Laute zu formen: »tuato ke tsche a mani u-elo.« Sie verstand den Text nicht, doch in ihrer Seele wurde etwas angestoßen, das ihre Ängste verklingen ließ.