D. Bess Unger

Der Engel mit den blutigen Händen


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sie zum Himmel empor, sah die Sterne und den Abglanz des Mondes zwischen den Wolken dahintreiben. Erschöpft schleppte sie sich zum Rande der Lichtung. Zwei Mädchen hatte sie opfern müssen, wahrhaft nicht schön, doch dafür war ihre Zukunft gesichert.

      Als die Beiden den Platz verlassen hatten, erhob sich ein Rabe vom Ast einer Robinie. Mit kraftvollen Flügelschlägen stieg er auf und flog zum höchsten Gipfel des Piliongebirges.

       12. März, Donnerstag, Heidelberg

      Nasse, dicke Schneeflocken fielen vom grauen Himmel, der Winter war nach einem kurzen Frühlingsausbruch zurückgekehrt. Die fünfzehnjährige Lena schlenderte zusammen mit ihrer Freundin Shara frierend und schlecht gelaunt über den Schulhof des Hölderlin Gymnasiums.

      In einer Ecke standen drei Mädchen und zwei Jungen aus der 11A. Die Mädchen hatten die Köpfe zusammengesteckt, gemeinsam glotzen sie auf das Display eines Smartphones, ab und zu kicherten sie, eine stieß mit einem Mal einen schockierten Schrei aus. Die zwei Jungen ordneten sich vom Typ her in Bleistift und Radiergummi ein. Beide trugen teure Lederjacken. Der dicke Junge redete auf den anderen ein und zeigte ihm etwas, das in seiner Hand lag.

      Shara, vorlaut wie es ihre Art war, rief ihm zu: »Hi, verteilst du Packs? Dealst du? An Haschisch wären wir interessiert.« Im Kifferjargon kannte sie sich aus, Drogen waren im Unterricht das Thema der Woche.

      Genervt blickte der Große zu ihnen herüber. Er hatte ein blasses Gesicht mit müde blickenden Augen, die Brauen waren gepierct. Shara konnte sehen, dass etwas Buntes herunterfiel. Niemand in der Gruppe bemerkte, wie es im Schnee versank. »Darüber macht man keine Witze«, raunzte er. »Verpisst euch, ihr Humanmüll!«.

      »Nicht so rotzig, du Schrottfresse«, gab Shara wenig damenhaft zurück. »Zumal ich höflich gefragt habe!« Sie erlaubte sich diese Frechheit, da ein Lehrer vorbeischlenderte und die Gruppe misstrauisch beäugte.

      Die drei Mädchen bekamen nichts mit, unbeteiligt standen sie in kurzen T-Shirts im Schneegestöber und Lena wunderte sich, dass sie nicht froren. ›Der dealt mit Drogen‹, dachte sie, ›wie sonst würden die Mädchen das bei dem Sauwetter ohne Jacken aushalten?‹

      Der Spargeltarzan schaute auf. Lenas sportliche Figur, ihre seidig glänzende schwarze Haare gefielen ihm. Als sein Blick auf ihre ausgeprägten Mandelaugen und hohen Wangenknochen fiel, verlor sich schlagartig sein Interesse. ›Eine Asylantin‹, dachte er. ›Das Pack hat es schon an diese blöde Schule geschafft.‹

      »Klaro«, antwortete der stämmige Junge mit der schicken Lederjacke. »Ein bisschen Antörnen, ihr Tussis? Alles da, Shit, Crystal Meth, Glückspillen, nichts Gefährliches. Oder blaue Bomben für eure Kerle? Dass sie bei euch Flachbusen einen hochkriegen?«

      »An deiner Stelle wäre ich vorsichtig mit solchen Angeboten«, sagte Lena. »Das kann übel ausgehen! Davon abgesehen: Nein, nicht interessiert!« Angeekelt wandten sich die Mädchen von der Gruppe ab. Die nachgerufenen Beleidigungen versuchten sie zu überhören.

      »Hat der das im Ernst gemeint?«, fragte Shara. »Und was war das mit der blauen Bombe?«

      Lena flüsterte ihrer Freundin eine Erklärung ins Ohr. Herausprustend stiefelten sie davon. »Mit den Drogen, das war nur Angabe. War wohl von der Themenwoche angeregt.«

      Die Schulglocke läutete, die Schüler verzogen sich ins Gebäude. »Warte!« Shara lief rasch zu der Stelle, wo die Jungen gestanden hatten.

      »Was suchst du da? Los, wir müssen uns beeilen!«, drängte Lena.

      Doch Shara ließ sich nicht beirren. Sie knetete den Schneematsch durch, zog einen Plastikbeutel mit aufgedrucktem rotem Sticker heraus, schob ihn in die Hosentasche und lief zu Lena zurück.

      Frau Brechthold war noch nicht da, einige Schüler wischten hektisch über die Displays ihrer Smartphones. Lena und Shara hingen mit anderen an den Fenstern und blickten in das Schneegestöber hinaus.

      Shara packte Lena am Arm. »Da, schau! Dick und Doof!«

      Auf dem Schulhof wühlten die beiden Jungen im Schneematsch. Die Schüler an den Fenstern johlten, ein Mädchen aus einem unteren Stockwerk rief Unverständliches nach unten. Sie drohten wütend hinauf und schüttelten die Fäuste.

      »Die können suchen, bis sie schwarz werden«, flüsterte Shara. »Ich habe, worauf sie scharf sind!«

      »Zeig her, was ist es?«, wollte Lena wissen.

      Shara schob ihre Hand in die Tasche. Die Tür des Klassenzimmers fiel ins Schloss, die Lehrerin war hereingekommen.

      »Auf die Plätze, ein bisschen dalli!«, schimpfte sie beim Anblick der Schüler, die sich aus den aufgerissenen Fenstern lehnten. »Die Fenster zu! Ich verteile jetzt ein paar Arbeitsblätter für unser Thema von heute.«

      Als sie zu Sharas Tisch kam, wollte die etwas mit der Hand verdecken, zu spät, die Lehrerin erstarrte. Vor Shara lag ein Beutelchen, eingepackt in eine Folie mit aufgedrucktem rotem Sticker.

      »Shara, was ist das? Woher hast du das?«, fuhr sie das Mädchen an. Im Lehrerkollegium waren Bilder dieser Hülle herumgereicht worden, die Polizei hatte darauf aufmerksam gemacht.

      Lena folgte mit den Augen dem ausgestreckten Zeigefinger der Lehrerin und erkannte sofort, was das Emblem auf dem Sticker darstellte. Seit ihrem siebten Lebensjahr betrieb sie Shinson-Hapkido, eine aus Korea stammende Technik zur Selbstverteidigung. In ihrem Übungsraum stand eine Buddha-Figur: Seine linke Hand lag mit der Handfläche nach oben im Schoß, die andere ruhte auf dem Knie, die Finger zeigten nach unten in der Geste der Erdberührung.

      Auch auf dem Sticker war ein sitzender Buddha in der Meditationshaltung zu sehen. Er trug ein rotes Gewand, die Hautfarbe war giftgrün, auf einem dünnen Hals saß der Kopf eines kahlköpfigen Alien mit schlitzförmigen Raubtieraugen. Boshaft starrte es auf eine schwebende Erdkugel, die über seiner linken Hand schwebte. Lena hatte das Gefühl, dass sie das Bild schon gesehen hatte. Wo war das nur gewesen? Ihr fiel es nicht ein.

      »Shara! Ich habe dich etwas gefragt! Gehören die Drogen dir?«, unterbrach die bestürzt klingende Stimme von Frau Brechthold Lenas Gedanken.

      »Drogen? Das sind doch keine Drogen«, stammelte Shara. »Ehrlich Frau Brechthold, ich habe das da unten auf dem Schulhof gefunden«. Ihr Blick ging zu ihrer Nachbarin hin. »Fragen Sie Lena, die ...« Ihre Stimme versagte, hilfesuchend blickte sie ihre Freundin an.

      »Komm mit vor die Tür, Shara!« Frau Brechtholds Lippen waren schmal geworden, Lenas Bestätigung nahm sie nicht zur Kenntnis.

      »Nehmt die Biologiebücher heraus und lest Kapitel 3. Formale Genetik!«, rief sie der Klasse zu und wandte sich zur Tür. Shara stand auf, mit gesenktem Kopf folgte sie der Lehrerin.

      Keiner der Schüler öffnete das Buch, alle sprangen von ihren Plätzen auf und umringten Lena.

      »War das Crystal Meth?«

      »Das Zeug, das bei dem Schauspieler gefunden wurde?«

      »Wie nimmt man es?«

      »Schniefen, rauchen, spritzen?«

      Frage auf Frage umschwirrte Lena. »Nein, nein!«, wehrte sie sich. »Wir haben es nur gefunden, unten auf dem Schulhof.« Ungläubiges Gelächter, niemand schien das zu glauben.

      Die Tür öffnete sich, alle rannten zu ihren Plätzen. Man hörte eifriges Aufschlagen der Biologiebücher und hektisches Blättern. Frau Brechthold setzte sich auf ihren Stuhl und sagte nichts. Shara schob sich auf ihren Platz, sie schien bedrückt. Lena nahm unter dem Tisch die Hand ihrer Freundin und drückte sie.

      Schweigend blickten die Schüler zu Frau Brechthold. Endlich schien ein Ruck durch die Lehrerin zu gehen, sie stand auf. »Dieser Vorfall passt zu unserem Wochenthema wie die Faust aufs Auge. Julia, hast du deine Präsentation fertig?«

      Selbstbewusst erhob sich Julia, ging an den Computer und steckte ihren USB-Stick ein. »In meiner PowerPoint-Präsentation möchte ich über die Art der Drogen, die Dealer, ihre Kontaktaufname