Irene Dorfner

DIE LEICHE MUSS WEG


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Armee? Sind das Polen?“, wollte der achtundfünfzigjährige Hans Hiebler wissen, der auch heute trotz des schlechten Wetters wieder aussah, als würde er sich im Süden aufhalten. Und ihn umgab wieder ein betörender Herrenduft, der neu sein musste und vor allem Leo, der neben ihm saß, die Luft zum Atmen nahm.

      „Wie kommst du denn darauf?“, fragte Leo.

      „Hast du im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst? Die Blaue Armee hat sich aus polnischen Männern in Frankreich in der Zeit des ersten Weltkriegs gebildet.“

      „Man kann ja nicht alles wissen“, maulte Leo, der noch nie etwas von dieser Armee gehört hatte.

      „Bitte, meine Herren, kommen wir auf den Punkt zurück. Über die Mitglieder ist nicht viel bekannt, die Kollegen beim BND arbeiten daran“, sagte Krohmer, dem die Nationalität dieser Gruppierung völlig egal war. Es würde Unruhen in seinem geliebten Mühldorf geben, die er keinesfalls duldete – ganz egal von wem auch immer. „Wir werden diese Leute gebührend in Empfang nehmen und dafür sorgen, dass Ruhe und Ordnung herrschen.“ Krohmer schaltete den Projektor ein und gab den Plan bekannt, den er während der Nacht ausgearbeitet hatte. „Insgesamt werden siebzig Polizisten eingesetzt, die sich vor der geplanten Silvesterfeier einfinden und ihre Plätze einnehmen werden. Dadurch werden Gäste abgewiesen werden müssen, was uns sehr entgegen kommt. Vielleicht sind sogar einige Mitglieder der Blauen Armee darunter, was sicher nicht schadet. Die jeweils Ihnen zugewiesenen Kollegen werden von Ihnen an den strategischen Punkten platziert, wobei das Hauptaugenmerk auf die beiden Eingangsbereiche und den damit verbundenen Kontrollen gelegt wird. Der Rest mischt sich unter die Partygäste. Dass keine Uniformen getragen werden, versteht sich von selbst. Alle Polizisten geben sich als normale Feiernde aus.“

      „Die Abgewiesenen werden nicht begeistert sein, zumal die Karten schon lange ausverkauft sind.“ Die Leiterin der Mordkommission, Tatjana Struck, meldete sich zu Wort. Der Einsatz zu Silvester war ihr gleichgültig, es war ein Datum wie jedes andere auch.

      „Das müssen wir in Kauf nehmen. Sie wissen, was zu tun ist. Sobald Ihnen irgendjemand verdächtig vorkommt, nehmen Sie ihn fest.“

      „Ohne ausreichenden Grund? Eine bloße Verdächtigung reicht aus?“, hakte Tatjana nach.

      „Unter diesen Umständen ja. Jede einzelne Festnahme wird von mir abgesegnet.“

      „Donnerwetter! Hoffentlich nimmt das nicht überhand. Wo sollen wir mit den Leuten hin? In unseren vier Zellen ist nicht allzu viel Platz.“ Tatjana sah in viele ratlose Gesichter, denn alle wussten, dass die Arrestzellen, die sich im Keller des Polizeigebäudes befanden, nur für wenige Personen ausgelegt waren.

      „Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist. Machen Sie sich an die Arbeit. Instruieren Sie alle Kollegen und sehen Sie zu, dass Sie die Lage im Griff behalten. Ich wünsche Ihnen viel Glück!“ Krohmer fühlte sich hundeelend. Er hatte keine Ahnung, was genau auf ihn zukam und das gefiel ihm überhaupt nicht. Es gab noch nicht viele Informationen über diese Blaue Armee. Auch darüber, was genau diese Leute vorhatten, tappte man völlig im Dunkeln. Seit dem gestrigen Telefonat am späten Abend mit Theo Dinzinger vom BND hatte er Magenschmerzen. Er spürte, dass diese Aufgabe eigentlich zu groß für ihn und seine Polizei war. Er hatte Verstärkung angefordert, die ihm aber aufgrund des besonderen Datums nicht bewilligt wurde. Nur die Altöttinger Kollegen hatten Unterstützung zugesagt. Jede andere Polizeidienststelle wollte im jeweils eigenen Revier für Ordnung sorgen. „Noch Fragen?“, wandte er sich an die Kollegen.

      „Ja. Wann kommt endlich der längst versprochene Kollege, der Werner ersetzten soll?“ Leo war nicht scharf auf einen neuen Kollegen, aber Verstärkung würde sehr guttun.

      „Habe ich Ihnen das noch nicht mitgeteilt? Die Verstärkung tritt am 1. Januar den Dienst an. Bis dahin müssen Sie noch ohne einen vierten Kollegen auskommen.“

      „Um wen handelt es sich? Gibt es nähere Informationen über den Mann?“ Auch Hans war neugierig.

      „Ich habe nicht gesagt, dass es sich um einen Mann handelt, ich sprach nur von einer Verstärkung, über die mir noch keine näheren Informationen vorliegen. Wir werden abwarten müssen. In zwei Tagen lernen wir die Kollegin oder den Kollegen kennen.“ Krohmer wusste tatsächlich selbst noch nicht genau, um wen es sich handelte. Nur der Name Nußbaumer war ihm bekannt, mehr nicht. Er hatte einige Quellen angezapft, erfuhr aber trotzdem keine weiteren Details. Das war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise hatte er als Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf immer alle Informationen auf dem Tisch. Aber diesmal nicht. Ob das an Weihnachten und der damit verbundenen Urlaubszeit lag? Im Grunde genommen war ihm das Geschlecht und nähere Einzelheiten egal. Ihm war nur wichtig, dass sich der oder die Neue schnell ins Team einfügte.

      3.

      Zur selben Zeit in München

      „Warum Mühldorf? Warum dieses kleine Kaff?“ Der neunzehnjährige Severin Torka hatte all seinen Mut zusammengenommen und war aufgestanden, um diese Frage, die viele der Kameraden beschäftigte, zu stellen. Charly Eckmann mochte keine Widerworte. Und er hasste es, wenn man an seinen Entscheidungen zweifelte.

      Charly sah seinen Weggefährten an. Jedem anderen hätte er diese Unverschämtheit nicht durchgehen lassen, aber ihm schon. Er hatte eine Schwäche für Severin Torka, und vor allem für dessen Mutter.

      „Denkt doch nach, Männer! In einer Kleinstadt werden wir DIE Schlagzeile werden. Die Zeitungen werden voll von unserem Auftritt sein, die Medien werden sich überschlagen. Ich habe eine Überraschung für euch, die in Mühldorf während unseres Aufenthaltes enthüllt wird. Ihr werdet staunen! Sobald wir zurück sind, wird ein Statement veröffentlicht werden, mit dem wir uns ausführlich äußern werden. Könnt ihr euch vorstellen, wie wir auf einen Schlag bekannt werden? Würden wir in München oder Nürnberg zuschlagen, würde man von uns kaum Notiz nehmen. Noch Fragen?“

      Severin Torka fand es trotzdem immer noch dämlich, in diesem kleinen Ort Unruhe zu verbreiten und die geplanten Aktionen durchzuführen. Er zweifelte auch daran, dass man ihre Aktionen überhaupt in dem gewünschten Rahmen zur Kenntnis nehmen würde. Nein, seine Zweifel waren noch nicht ausgeräumt. Er sah seinen Kameraden Wolf Perlinger an. Die beiden hatten sich angefreundet und unternahmen sehr viel gemeinsam auch außerhalb der Gruppe, was niemand wusste und was nicht gerne gesehen war. Wolf nickte ihm aufmunternd zu. Sie hatten im Vorfeld beschlossen, den Vorstand umzustimmen und die Aktion in der Silvesternacht in einer Großstadt durchzuführen. Das konnte nur Severin machen, alle anderen, auch er selbst, trauten sich nicht. Charly Eckmann konnte sehr ungehalten darauf reagieren, wenn man ihn kritisierte. Severin Torka blieb stehen.

      „Bitte überdenke deine Entscheidung, Charly. Du hast selbst gesagt, dass seit geraumer Zeit Informationen durchsickern. Ich habe mir den Mühldorfer Stadtplatz online angesehen. Wenn uns die Polizei dort erwartet, wird das kein Zuckerschlecken. Es gibt kaum Fluchtwege. Außerdem befürchte ich, dass alle Aktionen sinnlos verpuffen, dafür steckt zu viel Arbeit dahinter. Lass uns doch…“

      „Genug! Ich habe entschieden und dabei bleibt es!“ Charly Eckmann brüllte. Noch während Severin sprach, stieg sein Wutpegel mehr und mehr an.

      Severin setzte sich. Viele beobachteten ihn und wussten, dass jetzt das letzte Wort gesprochen war. Schade, denn sie hatten sich von dieser bevorstehenden Aktion sehr viel versprochen. Viele Stunden hatten sie zusammengesessen und alle Vorschläge diskutiert, die von allen Seiten vorgebracht wurden, bis sie sich schließlich geeinigt hatten. Die Mehrzahl der Kameraden war enttäuscht, denn ihr Auftritt würden in dem Kaff sicher untergehen und nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Wer würde sich denn für Informationen aus einem nichtssagenden Dorf interessieren? Und was würde passieren, wenn dort tatsächlich die Polizei auf sie wartete?

      Charly Eckmann spürte die Unruhe und beruhigte seine Kameraden, wofür er die richtigen Worte fand. Charly war ein äußerst begabter Redner, der seine Zuhörer schnell in den Bann zog. Auch deshalb war er der perfekte Anführer, auch wenn seine Entscheidungen, wie jetzt auch, angezweifelt wurden.

      „Ich