Menschen, die stoffliche Contentprodukte selbstverständlich bezahlen, erwarten ebenso selbstverständlich, dass Contentgüter im Internet gratis sind. Menschen mit ganz unterschiedlichen sozialen Profilen – die Generation der Digital Natives und die Generation ihrer Eltern, die Digital Immigrants –, Menschen mit völlig verschiedenen Mediensozialisationen, materiellen Bedingungen und Wertorientierungen haben die gleiche Einstellung: Im Internet sind Contentgüter gratis. Uploaden, Downloaden und Streamen von Contentdateien, deren Inhalt durch das geltende Urheberrecht geschützt ist, sind in allen Schichten der Gesellschaft üblich und alltäglich. Angesichts der epidemischen Ausmaße dieser Rechtsverletzungen müsste man sich fast Sorgen um den Zustand unserer Zivilgesellschaft machen.
Wie kommt es, dass die Nutzer von Contentgütern im Internet elementare Normen und Regeln des Markts ignorieren?
Erklärungen, die auf moralisches Fehlverhalten und gruppenpsychologische Nachahmungseffekte abstellen, bleiben an der Oberfläche. Sozialen Phänomenen auf den Grund gehen, heißt erkunden und erklären, warum Menschen so denken und handeln, wie sie denken und handeln. Welche gesellschaftlichen Bedingungen und Prozesse ermöglichen und befördern das betreffende Denken und Handeln? Und wie schaffen und verändern dieses Denken und Handeln gesellschaftliche Verhältnisse?
Die Suche nach Antworten auf diese Fragen motivierte mich, Fach- und Methodenwissen wiederzubeleben, das ich einst in der Philosophie und in den Sozial- und Sprachwissenschaften erworben hatte. Ich stellte fest, dass diese Denkwerkzeuge noch überraschend gut funktionieren und sich mit den empirischen Erfahrungen meiner beruflichen Praxis erkenntnisgewinnbringend ergänzen. Daraus entwickelte sich ein spannendes privates Forschungsprojekt über die Contentkultur im Onlinezeitalter, das ich seit Mitte 2010 als Freizeitbeschäftigung bearbeite. Die Debatten über die Bedrohungen und Chancen der Buchkultur im Onlinezeitalter sowie die Volksdebatte über das Urheberrecht im Jahr 2012 kamen für dieses Projekt genau zur richtigen Zeit.
Lern- und Wissensquellen meiner Forschung sind
– die Erfahrungen meines beruflichen Alltags als Manager des Video-on-Demand-Portals Anime on Demand und Initiator/Koordinator der Anime-Copyright-Allianz,
– Kenntnisse aus eigenen wissenschaftlichen Arbeiten und Studien über gegenständliche Bedeutungsbeziehungen, Kommunikation und Verstehen, Methodologie der Kommunikationslinguistik, Entwicklungstrends der Informationsgesellschaft und E-Learning,
– fachwissenschaftliche Printpublikationen (vgl. Bibliografie im Anhang),
– unzählige Publikationen und Beiträge im Netz. Ergiebige Quellen waren und sind irights.info, carta.info, netzwertig.com.
Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Entwicklung der Contentkultur im Onlinezeitalter.
In meinem Job bin ich gleichzeitig Teilnehmer und Beobachter der Contentkultur. Als jemand der in einem Contentunternehmen arbeitet und Verantwortung trägt, habe ich für die Mentalität der Menschen, die in Contentunternehmen tätig sind, mehr Empathie als Leute, die diese Arbeitswelt nicht kennen. Aber ich bin auch ständig Nutzer von Contentgütern im Internet und habe in meinem beruflichen und privaten Umfeld umfängliche Einblicke in die Mentalität anderer Nutzer.
Anspruch der vorliegenden Studie ist es, objektive gesellschaftliche Verhältnisse und Prozesse zu beschreiben und zu erklären. Maßgebend sind die für wissenschaftliche Texte üblichen Normen und Regeln. Dazu gehören der sorgfältige Gebrauch von Begriffen, eine stringente Argumentationsstruktur, die Begründung von Behauptungen, die Nennung von Quellen sowie eine weitgehend neutrale Sicht auf die betrachteten Verhältnisse und Prozesse.
Exkurs: Das (Miss-)Verstehen von Begriffen
Missverständnisse und Konfusionen in Argumentationen und Kontroversen erwachsen häufig daraus, dass zentrale Begriffe unreflektiert und undefiniert gebraucht werden. In der Wissenschaft gibt es nominalistische Freiheit. Grundsätzlich kann jeder Begriffe so definieren, wie er das für richtig hält. Allerdings sollte man stets klar sagen, d. h. definieren, wie man einen Begriff gebraucht, insbesondere wenn man von einem im jeweiligen Diskurs üblichen Verständnis des Begriffs abweicht. In diesem Fall sollte man gut begründen, warum man diesen Begriff anders als üblich definiert und gebraucht. Diese Definitions- und Begründungspflicht wird oft vernachlässigt. Meist wird munter drauflosgeredet und -geschrieben – in der naiven Annahme, dass die eigene Verwendung des Begriffs nicht eine mögliche, sondern die einzig richtige ist und jeder Hörer/Leser den Begriff genau so versteht, wie ihn der Autor meint (im Kopf hat). Diese weitverbreitete Unsitte öffnet dem Missverstehen Tür und Tor, denn der Hörer/Leser muss und kann sich selbst „zusammenreimen“, was der Autor mit dem betreffenden Begriff meint. Das führt regelmäßig zu der Unklarheit, ob der Autor bestimmte Sachverhalte kognitiv nicht adäquat begriffen oder diese zwar richtig begriffen, aber nicht sprachlich adäquat ausgedrückt hat, also nicht das sagt, was er meint.
Dass Verstehensprozesse misslingen können, liegt in ihrer Natur. Das Risiko des Missverstehens lässt sich nie vollständig eliminieren, sondern nur bestmöglich reduzieren. Das Hinterhältige an Verstehensprozessen ist, dass sie misslingen können, ohne dass dies der Mensch bemerkt, in dessen Kopf das Verstehen stattfindet. Nicht selten kommt es vor, dass Menschen aneinander vorbeireden, ohne dass sie das merken. Die meisten Menschen haben keine Wahrnehmung dafür, dass sie selbst in beiden Rollen – als Produzent und Rezipient von Texten – Verursacher des Missverstehens sein können.
Besonders hoch ist das Risiko des Missverstehens, wenn wissenschaftliche Begriffe gleichlautende Verwandte in der Alltagssprache haben, wie das beim Begriff ‚Eigentum‘ der Fall ist. Hier besteht immer die Gefahr, dass beim Verstehen auf die alltagssprachliche Bedeutung der Begriffe zurückgegriffen wird. Eine weitere Herausforderung tut sich auf, wenn Begriffe in komplexe Theoriezusammenhänge eingebunden sind. Theorien sind in komplexen Texten kodiert, in denen Begriffe und Theorie in reziproken semantischen und pragmatischen Verweisungszusammenhängen stehen. Um den Inhalt der Begriffe adäquat zu verstehen, muss man die Theorie, in die sie eingebettet sind, adäquat verstehen und umgekehrt. Die Vielzahl exegetischer Abhandlungen von Philosophen und Geisteswissenschaftlern zum Thema „Über den Begriff X bei Denker Y“ zeigt, dass sich der Inhalt zentraler Begriffe eben nicht allein aus ihrer Definition erschließen lässt.
Die Begriffe Onlinewelt, Offlinewelt und Contentgüter umreißen den thematischen Fokus der Studie.
Die Onlinewelt umfasst alle Aktivitäten, Güter und soziale Strukturen, die „im Internet“ stattfinden. Die Offlinewelt ist die Menschenwelt ohne das Internet. Sie umfasst alle gesellschaftlichen und individuellen Reproduktionsprozesse, die außerhalb des Internets stattfinden und stattfanden, bevor es das Internet gab. Contentgütersind für den öffentlichen Gebrauch bestimmte Kommunikationsgüter, die in der Offlinewelt über dingliche und audio-visuelle Trägermedien und in der Onlinewelt über das Internet zu ihren Nutzern gelangen.
Meine Untersuchung und Darstellung beschränken sich ausdrücklich auf Contentgüter. Erkenntnisse und Aussagen über andere Arten geistiger Güter (Patente, Marken,