Thomas Riedel

Die Zwanzigste Stunde


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dem Ausstellereingang parkte der dunkelgrüne Landauer der Newdales. Robert Merrivell, der seinen Mantelkragen hochgeklappt hatte, schritt auf dem Seitenpfad auf und ab. Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigte ihm, dass es bereits nach ein Uhr war.

      Endlich erschien Darlene, beladen mit zwei Mänteln, einer großen Silbertrophäe und einem Köfferchen.

      Ganz Gentleman nahm Robert ihr die Last ab. »Ich dachte, du würdest überhaupt nicht mehr kommen«, bemerkte er ein wenig vorwurfsvoll.

      »Ich bin eigentlich noch gar nicht hier, Robert«, erwiderte sie und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. »Sei ein Engel, ja? Leg' die Sachen hinten in die Kutsche. Hier hast du die Schlüssel. Ich muss noch mit ein paar Leuten sprechen. Mit Rachel wegen Margaret telefonieren und einige berufliche Sachen erledigen. Es dauert bestimmt nicht lange.«

      »Es ist dein Schaden«, entgegnete er, »denn, wenn ich erst einmal angefangen habe zu reden, musst du mir bis zum Schluss zuhören. Vielleicht dauert es bis in die frühen Morgenstunden.«

      Für einen Augenblick legte sie ihre Hand in die seine. »Das wäre mir ganz gleich.« Dann kehrte sie rasch wieder ins Gebäude zurück.

      Robert trug die Sachen, die sie ihm übergeben hatte, zu dem in die Jahre gekommenen Landauer hinüber und schloss die Seitentüren zu den hinteren Sitzen auf. Ungefähr dreißig Sekunden lang stand er wie versteinert am offenen Schlag. Dann schlug er ihn schnell wieder zu, sah sich dabei kurz um und verstaute ihre Sachen in fliegender Hast im Kofferaufbau, zu dessen Schloss sich auch ein Schlüssel am Bund befand. Als er damit fertig war, schritt er über die Straße auf einen Bobby zu. »Kennen Sie Miss Newdale vom Ansehen?«, erkundigte er sich.

      »Die junge Lady, mit der Sie gerade gesprochen haben? … Natürlich.«

      »Bestellen Sie ihr doch bitte, dass ich nicht warten konnte«, trug er ihm auf. »Wenn sie herauskommt, sagen Sie ihr nur, dass ich nicht länger warten konnte.«

      »Sie nehmen den Wagen?«, fragte der Uniformierte nach.

      »Ja.« Robert kramte in seiner Tasche und holte eine Zwanzig-Shilling-Münze hervor. »Geben Sie ihr die und sagen Sie ihr, sie soll mit einem ›Hansom‹ heimfahren.«

      »Vielleicht gefällt es ihr ganz und gar nicht, versetzt zu werden«, bemerkte der Polizist.

      »Ja, vielleicht«, erwiderte Robert. Er ging zum Landauer zurück, stieg ein und fuhr in Richtung der ›Dukes Avenue‹ davon.

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      Kapitel 2

      Inspector Nicholas Flanders von der Mordkommission wälzte sich unruhig in seinem Bett und öffnete schließlich die Augen. Jemand klopfte ausdauernd an die Tür seiner Wohnung. Flanders richtete sich auf, knipste die Nachttischlampe an und blickte auf seine Armbanduhr: Viertel nach zwei!

      Er schlüpfte in seine Pantoffeln und zog sich einen blauen Morgenrock an. Das Klopfen hielt weiter an. Flanders hatte keine Eile. Er fuhr sich mit den Fingern durch seine kurzgeschnittenen roten Haare, strich den Kragen des Pyjamas glatt und schlurfte zur Tür.

      »Aufhören!«, schimpfte er. »Sie schlagen ja noch das Haus zusammen!« Er löste die Sicherheitskette und öffnete die Tür.

      Vor ihm stand ein alter Herr, der mit dem Elfenbeingriff seines Schirmes gegen die Tür gehämmert hatte. Zwischen der Krempe einer altmodischen, hohen braunen Melone und dem Astrachankragen eines langen schwarzen Mantels war nicht viel sichtbar. Aus der linken Tasche des Mantels schaute ein schwarzes Hörrohr hervor. Misstrauisch musterte der alte Gentleman Flanders. Hinter ihm stand ein junger Mann mit blassem, verzerrtem Gesicht.

      »Guten Tag, Mr. Bishop, oder vielmehr guten Morgen«, sagte Flanders. Seine sanften grauen Augen spiegelten Belustigung wider. Er blickte Bishops Begleiter an.

      »Dieser junge Narr hier heißt Merrivell. Robert Merrivell«, erklärte Bishop. »Kümmern Sie sich nicht um ihn, bis ich Sie etwas gefragt habe.«

      »Wenn Sie mich etwas zu fragen haben, sollten Sie besser eintreten.« Flanders drehte einen Schalter neben der Tür an.

      Ein merkwürdiger Raum wurde erhellt. Einstmals war er die große Küche einer herrschaftlichen Wohnung gewesen. Über dem Kamin hingen alle möglichen Kupferpfannen, offensichtlich zum Schmuck. Auf einem Tisch stand eine blaue Porzellanschale, die mit Pfeifen gefüllt war. Das Bett des Inspektors, das sich in einer Vertiefung zwischen den Fenstern befand, machte den Eindruck einer Schiffskoje. Am anderen Ende des Raumes war eine Tür, deren obere Hälfte aus Glas bestand und die in einen kleinen Garten führte.

      Flanders lud seine Besucher mit einer Handbewegung ein, auf einer Couch vor dem Kamin Platz zu nehmen. Er selbst machte sich daran, die Glut im Kamin neu zu entfachen.

      Bishop legte Hut, Schirm und Hörrohr auf den Tisch. Er zog seinen Mantel und einen gestrickten Schal aus, ergriff das Hörrohr wieder und nahm die Mitte der Couch ein.

      Robert Merrivell stand abwartend bei der Feuerstelle und starrte den Inspector an. Als dieser sich erhob, begegnete er seinem Blick.

      »Nun?« Fragend schaute Nicholas Flanders den alten Mann an.

      »Was sagten Sie?« Das Hörrohr war auf Flanders gerichtet.

      Der Inspector lächelte Robert an. Es war ein freundliches Lächeln. Trotz seiner vielen Runzeln auf der Stirn konnte Flanders nicht älter als vielleicht vierzig oder fünfundvierzig sein. »Die Erfahrung hat mich gelehrt«, sagte er, »dass man unseren Freund nicht zwingen kann zur Sache zu kommen.«

      »Natürlich kann ich zur Sache kommen«, fuhr Bishop auf, der ohne Hörrohr ganz gut zu verstehen schien. »Ich bin hergekommen, um eine Frage an Sie zu richten … eine technische Frage. Machen Sie also keine Flausen, sondern beantworten Sie sie geradeaus.«

      »Ich will mein Bestes tun«, erwiderte Flanders. Er suchte sich eine Pfeife aus und begann sie zu stopfen.

      »Es handelt sich um Folgendes«, begann Bishop. »Durch wen werden Sie im Fall eines Mordes mit der Untersuchung beauftragt?«

      »Durch den Commissioner.«

      »Angenommen, im Stadtteil ›Soho‹ wäre ein Verbrechen verübt worden. Könnten Sie mit diesem Fall beauftragt werden?«

      »Das wäre möglich, wenn der Commissioner der Meinung ist, dass ich der richtige Mann dafür bin. Natürlich hat die Polizei des betreffenden Reviers den Vortritt.«

      »Heiliger Strohsack!«, bellte Bishop. »Ich wünsche eine direkte Antwort zu hören, und was erhalte ich stattdessen? Macht es irgendeinen Unterschied, in welchem Stadtteil der Leichnam gefunden wird? Könnten Sie dennoch mit dem Fall betraut werden?«

      »Ja, wenn der Commissioner …«

      »Hören Sie auf, Inspector!« Bishop wandte sich an Robert. »Ich sagte Ihnen ja, dass er Flausen machen würde. Er ist einfach nicht imstande geradeheraus zu reden.« Er richtete sich wieder an den Scotland Yard-Beamten. »Die Sache ist ganz leicht, Flanders! Wir haben einen Mordfall für Sie und möchten, dass Sie ihn übernehmen. Freunde von mir sind darin verwickelt.« Er legte seinen Kopf ein wenig schief und schaute ihn forschend an. »Wo sollte Ihrer Meinung nach der Leichnam gefunden werden?«

      Flanders hatte ein Streichholz angerissen, um seine Pfeife anzustecken. Die Flamme brannte weiter, bis sie ihm die Finger versengte. Mit einem kurzen unterdrückten Schrei ließ er das Zündholz fallen. »Sie haben einen Mordfall für mich?«, reagierte er gedehnt. »Und Sie fragen mich, wo nach meinem Wunsch die Leiche am besten gefunden werden soll? Ja, … können Sie das denn arrangieren?«

      »Würde ich Sie fragen, wenn ich es nicht könnte?«

      »Angenommen wir