Thomas Riedel

Die Zwanzigste Stunde


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Augen«, erklärte der alte Mann nachdrücklich. »Wie lange ist sie schon tot?«

      »Das werden wir erst erfahren, wenn der Bericht eingetroffen ist. Auf jeden Fall schätze ich, schon eine geraume Zeit … Vielleicht ein oder zwei Tage.«

      »Großer Gott!«, stieß Robert hervor.

      Flanders blickte ihn an.

      Robert befeuchtete seine Lippen. »Sie müssen wissen, Inspector, dass Margaret seit vorigem Mittwoch vermisst wird«, sagte er eifrig. »Seit drei Tagen haben Dwayne und ich sie in ganz London gesucht. Dwayne … Dwayne Straightbolt war mit ihr so gut wie verlobt.«

      »Und die Familie fand ihr Verschwinden nicht wichtig genug, um die Polizei zu benachrichtigen?«

      Robert blickte auf seine Kopfbedeckung nieder, die er in den Händen drehte. »Margaret war … Nun ja, sie war etwas merkwürdig, Sir. Sie verbrachte den größten Teil ihrer Zeit außer Haus. Sie hatte überall Freunde. Es sah ihr durchaus ähnlich, fortzugehen und niemanden zu benachrichtigen.«

      »Machten sich ihre Eltern denn keine Sorgen?«

      »Ihre Mutter ist schon lange tot. Die beiden Mädchen leben mit ihrem Vater und ihrer Tante, Miss Mabel Cartwell, zusammen. Den beiden hatte man gesagt, Margaret halte sich bei ihrer Freundin Rachel Evermer auf. Darlene wollte nicht, dass man der Familie vor der Zeit etwas von dem Verschwinden mitteilte. Margaret hatte schon oft genug für Sensationen gesorgt.«

      Bishop hielt die Augen geschlossen, als würde er schlafen. Jetzt öffnete er sie. Sie waren so hell und klar wie die eines Vogels. »Margaret war ein Wildfang und eine Herumtreiberin«, erklärte er, lehnte sich zurück und schloss die Augen wieder.

      Robert errötete.

      Flanders wartete ab.

      »Sie … sie war ein wenig wild, ja, und auch unbeherrscht«, räumte Robert ein. »Sie konnte die engen Verhältnisse zu Hause nicht ertragen. Früher waren die Newdales recht vermögend, bis das Maklergeschäft des Vaters in Konkurs ging und sie alles verloren.«

      »Woraufhin sich Douglas Newdale hinsetzte und nur noch herumjammerte«, bemerkte Bishop, ohne sich zu rühren. »Er ist ein Schwächling. Das habe ich ihm auch ins Gesicht gesagt. Jeder kann im Leben mal stürzen, aber dann heißt es: wieder aufzustehen!«

      »Darlene nahm die ganze Sache in die Hand«, berichtete Robert. »Sie besaßen Pferde. Mit Captain Broderik Turnblower zusammen, einem ehemaligen Kavallerieoffizier, eröffnete sie eine Reitschule und gaben Unterricht. Züchteten Pferde und verkauften sie. Dwayne Straightbolt, Turnblowers bester Freund, finanzierte das Geschäft. Es ist bis jetzt ganz gut gegangen, sodass sie Dwayne Geld zurückzahlen konnten. Immerhin haben sie hart zu arbeiten, ohne dass viel dabei herauskommt. Margaret war für dieses Leben nicht geschaffen. Sie war es gewohnt, jeden Wunsch erfüllt zu bekommen.«

      »Quatsch!«, warf Bishop ein. »Ein verzogener Wildfang und eine Herumtreiberin! Hinter jedem heiratsfähigen vermögenden Mann war sie her. Sie kennen Straightbolt. Polo …, eine Yacht …«

      »Ich habe von ihm gehört«, nickte Flanders. »Darf ich erfahren, welcher Art Ihre Beziehung zu Margaret Newdale war, Mr. Merrivell?«

      Abermals blickte Robert auf seinen zerknitterten Hut nieder. »Ich … ich habe ebenfalls mit Pferden zu tun, Inspector. Ich besitze ein kleines Gestüt in ›Sheperd's Bush‹. Darlene kam eines Tages dorthin, um sich ein Pferd auszusuchen. Ich … Nun ja, ich verliebte mich in gewisser Weise in sie. Ich begann nach London zu reisen, um sie zu sehen. Sie ist das großartigste Mädchen von der Welt, Inspector.«

      »Ich wollte von Margaret hören«, mahnte Flanders ihn sanft.

      Der Widerschein des Kaminfeuers erhöhte die Farbe von Roberts Wangen. »Natürlich machte ich auch Margarets Bekanntschaft. Sie war hinreißend.«

      »Wie ein Weihnachtsbaum!«, bemerkte Bishop mit geschlossenen Augen. »Ein Haufen Flitter und Glitzerzeugs … aber keine Wurzeln!«

      »Ich verlor den Kopf«, bekannte Robert. »Ich begann Margaret den Hof zu machen.«

      »Ich dachte, sie sei mit Straightbolt verlobt gewesen«, warf Flanders ein.

      »Nun ja, schon, aber … Es war noch nichts Offizielles. Ich war der Meinung, dass ich zumindest bis dahin das Recht hätte, mein Glück zu versuchen.«

      »Und dann entdeckte er recht schnell, dass dieser Apfel einen Wurm hatte«, kicherte Bishop.

      »Ich erkannte, dass ich einem Rausch zum Opfer gefallen war«, verbesserte Robert ihn. »Vergangenen Mittwoch ging ich mit Margaret ins Café ›White's and Brookes'‹. Ich sagte ihr, wie es um mich stand. Ich sagte ihr, dass ich zu Darlene zurückkehren wollte, wenn sie mich noch nehmen würde. Margaret wurde böse und lief davon.«

      »Und sie konnte es nicht ertragen, einen Mann zu verlieren, selbst wenn sie ihn gar nicht wollte«, murmelte Bishop.

      »Und das war, soviel ich weiß, das letzte Mal, dass Margaret von einem ihrer Freunde gesehen wurde … bis heute«, schloss Robert.

      Flanders paffte nachdenklich vor sich hin. Prüfend betrachtete er Robert. »Und heute?«, fragte er dann.

      »Als ich sie erblickte …«, Robert schauderte, »fuhr ich geradewegs zu Mr. Bishop.«

      »War kein Polizist in der Nähe?«

      »Doch. Ich bat sogar einen Bobby, Darlene Geld zu geben, damit sie sich ein ›Hansom‹ nehmen konnte.«

      »Kam Ihnen denn gar nicht der Gedanke, dem Polizisten von Ihrem Fund zu berichten?«

      Roberts Gesicht nahm einen eigensinnigen Ausdruck an. »Ich wollte nicht, dass Darlene in die Sache verwickelt wird.«

      Flanders seufzte. »Und warum fuhren Sie ausgerechnet zu Mr. Bishop?«

      Robert machte eine hilflose Bewegung. »Das … das geschah rein instinktiv. Er ist eine Art Onkel der Newdales, und er hatte mir einmal erzählt, wie er ihnen im vorigen Jahr bei einem anderen Mordfall geholfen hat. Er sagte, Sie seien … Sie seien sehr intelligent.«

      »Danke für die Blumen«, bemerkte Flanders. »Ist Ihnen bewusst, Mr. Merrivell, dass Sie eine Menge Fragen zu beantworten haben werden? Immerhin haben Sie Margaret Newdale als Letzter lebend gesehen. Sie haben sie aufgefunden. Sie haben sich im Streit von ihr getrennt. Vielleicht stand sie Ihrer Aussöhnung mit Darlene im Weg …«

      »Blödsinn!«, kommentierte Bishop scharf. »Er hat nur getan, was jeder andere Mann auch getan hätte, um ein Mädchen zu beschützen. Lassen Sie doch die Haarspalterei, Flanders. Das passt gar nicht zu ihnen.«

      »Hmh …«, machte Flanders. »Haben Sie die Absicht, sich in diese Angelegenheit einzumischen, Mr. Bishop?«

      Der alte Mann wirkte kriegerisch. »Ich will nicht, dass Darlene ein Leid geschieht.«

      »Haben Sie ein Interesse daran, dass ein brutaler Mörder gefangen wird, oder nicht?«

      »Natürlich habe ich das!«, fuhr Bishop auf. »Ich will nur nicht, dass Sie sich wie ein Elefant im Porzellanladen benehmen!«

      Es wurde geläutet.

      Robert sprang sofort durch den Raum. »Das wird Darlene sein!«

      Flanders klopfte seine Pfeife aus. »Manchmal hasse ich meinen Beruf«, murmelte er leise.

      Darlenes Stimme wurde hörbar, als Robert die Tür öffnete. »Oh, Robert! Wo ist Margaret?«

      »Ich hasse ihn wie die Hölle«, knurrte Flanders.

      Bishop blickte auf. Zum ersten Mal glänzte ein warmer Schimmer in seinen blassblauen Augen auf. »Sie ist ein Vollblut, Flanders. Die einzige in der Familie, die Mark in den Knochen hat ... Tun Sie Ihr Bestes, ja?«

      Der Inspector schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. »Sie sentimentaler alter Heuchler«, erwiderte er. Dann