Thomas Riedel

Die Zwanzigste Stunde


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      »Kein Wort davon ist wahr«, lachte Rachel Evermer, die gerade damit beschäftigt war, belegte Sandwiches auf einer Platte anzurichten. »Nach deiner heutigen Leistung hätten wir auch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts auf dich gewartet, mein Engel. Ach, Darlene, ich weiß gar nicht, was ich dafür gäbe, wenn ich auch so reiten könnte wie du!«

      Rachel Evermer hatte blauschwarze Haare und eine milchweiße Haut. Ihr weicher Mund zeigte ein tiefes Rot. Man sagte oft von ihr, sie sei eine der bestangezogensten Frauen Londons, was nicht weiter verwunderlich war, da sie in der ›Westbury Avenue‹ ein Schneideratelier betrieb, in dem sowohl die erste Gesellschaft als auch die Stars des Theaters ein und aus gingen.

      »Dann nimm doch Stunden bei uns«, erwiderte Darlene lächelnd. »Wir können jeden Penny gut gebrauchen, meine Liebe.«

      »Gern, wenn ich denn nur Zeit dazu hätte!«

      »Eigentlich hätte Margaret so viel Anstand haben sollen, heute Abend zur Loge zu kommen, wo ihr Vater saß«, bemerkte Mabel Cartwell vorwurfsvoll. »Seit drei Tagen haben wir nichts von ihr gesehen oder gehört. Ich fragte Rachel, was die gute Margaret eigentlich die ganze Zeit treibt, aber sie scheint es auch nicht zu wissen.«

      Rachel und Darlene tauschten einen raschen Blick aus.

      »Ich bin immer schon im Bett, wenn sie heimkommt«, erklärte Rachel. »Und am Morgen bin ich längst im Geschäft, wenn sie aufsteht.«

      »Meiner Meinung nach sollte sie dir nicht zur Last fallen, wo sie ein eigenes Heim hat«, bemerkte Mabel ärgerlich.

      »Aber ich habe sie doch so gern«, entgegnete Rachel, die sich beeilte, mit den belegten Sandwiches fertig zu werden.

      Mabel stellte eine dampfende Schüssel auf ein Tablett. »Bring' du die Sandwiches hinein, Rachel«, sagte sie. »Und du, Darlene, kannst den Kaffee nehmen.«

      Kaum hatte die alte Lady die Küche verlassen, wandte sich Darlene an Rachel: »Nichts Neues?«

      »Tut mir leid, Liebes: kein Wort.«

      »Es ist goldig von dir, dass du Dad und Tante Mabel gegenüber angibst, Margaret sei bei dir«, sagte Darlene. »Aber wenn sie bis morgen nicht auftaucht, muss man ihnen doch die Wahrheit mitteilen … Es wird Ernst, Rachel.«

      »Ich würde mir an deiner Stelle nicht so viele Sorgen machen«, meinte Rachel. »Sie bummelt mit irgendjemand herum und hat nur vergessen, dir Bescheid zu sagen.«

      In der Halle schrillte das hochmoderne Wandtelefon.

      Darlene lief direkt hin und nahm die Hörmuschel von der Gabel. »Hallo?«

      »Darlene!«

      »Robert! Nun sag' mir aber bloß …«

      »Darlene, hör' mich an! Ich kann dir jetzt nicht erklären, warum ich mit der Kutsche durchgebrannt bin, denn du musst den Schein wahren. Nur so viel sollst du wissen: Es geschah um Margarets willen.«

      »Du weißt, wo sie …«

      »Ja, Darlene.« Roberts Stimme klang sehr ernst. »Ich weiß, wo sie ist. Du musst sogleich an einen bestimmten Ort kommen: ›Rathcoole Avenue‹ 26, Flanders. Kannst du dir Namen und Adresse merken?«

      »Ja, Robert. Aber meine Familie … Es sind ein paar Leute hier. Ich …«

      »Du musst kommen, Darlene! Es ist … es ist nicht sehr erfreulich. Ein Unglücksfall!«

      »Oh, Robert!«

      »Du musst kommen, Darlene!«

      »Ja, natürlich komme ich. ›Rathcoole Avenue‹ 26, Flanders.« Sie kehrte in die Küche zurück, wo Rachel gerade die Platte mit den belegten Sandwiches ergriff, um sie in den Salon zu tragen. In Darlenes Augen spiegelte sich der Schrecken, den ihr das Telefonat eingejagt hatte. »Es war Robert! Es handelt sich um Margaret. Er sagt, es sei ein Unglücksfall geschehen!«

      »Oh!«

      »Er erklärte nichts Näheres, sagte aber, ich müsse sofort kommen. Ich möchte nicht, dass die anderen etwas erfahren. Sag' ihnen … sag' ihnen, dass ich in der Ausstellung etwas liegengelassen hätte. Ich laufe rasch durch den Hinterausgang.«

      »Du kannst auf mich zählen, Liebes«, erwiderte Rachel. »Soll ich nicht mit dir kommen?«

      »Robert ist dort«, rief Darlene, die sich schon in der Halle befand. Rachels scharfer Ton konnte sie nicht aufhalten.

      »Hör', Darlene, wenn Margaret etwas zugestoßen ist, dann lass' es mich unverzüglich wissen, ja?«

      Darlene blickte über ihre Schulter zurück. »Ja. Robert machte ja nur eine dunkle Andeutung …« Sie schlüpfte in ihren Mantel.

      »Es ist wichtig«, rief Rachel ihr zu. »Denn wenn ihr etwas zugestoßen ist, kann ich vielleicht helfen.«

      »Ich weiß, dass du immer hilfsbereit bist, Rachel. Aber das ist unsere Sache.«

      »Du missverstehst mich, Darlene. Seit fast zwei Wochen peinigt mich schon die Angst, dass ihr etwas zustoßen könnte. Versprich mir, dass du mir sofort Bescheid sagen wirst!«

      »Ich verspreche es dir!«

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      Kapitel 3

      Bishop richtete sich auf der Couch in Inspector Flanders' Zimmer auf, als die Tür geöffnet wurde.

      Robert Merrivell, der noch immer seinen Mantel anhatte, stand vor dem Kamin, als müsste er sich wärmen.

      Flanders kam herein und warf Hut und Mantel auf einen Stuhl neben der Tür. »Haben Sie Miss Newdale informiert?«, erkundigte er sich, Robert anschauend.

      »Ja. Sie kommt her.«

      Bishop vollführte eine Bewegung der Ungeduld. »Also, … was ist nun los? Wollen Sie uns nicht wenigstens Auskunft geben?«

      »Es handelt sich wirklich um einen Mord«, erwiderte Flanders ruhig. »Sie wurde mit einem Seidenschal erwürgt. Ich vermute, mit ihrem eigenen.« Er stopfte sich abermals eine Pfeife. Seine Augen ruhten auf Robert. »Warum?«

      »Ich … ich verstehe nicht.«

      »Ich frage Sie, warum sie getötet wurde«, entgegnete Flanders. »Sie war noch jung, ungefähr drei- oder vierundzwanzig Jahre alt. Ihren Angaben nach stammt sie aus guter Familie. Sie ist also nicht die Art Mädchen, die auf diese Weise umzukommen pflegen.«

      »Fragen Sie diesen jungen Toren doch nicht nach Margaret, Inspector«, mischte Bishop sich kichernd ein. »Er ist sehr vertraut mit ihr und ihrer Schwester. Er ist mit all ihren Lebensumständen sehr vertraut.«

      »Wissen Sie, warum sie getötet wurde?«, wandte Flanders sich an Bishop.

      »Allerdings.«

      »Warum also?«

      »Weil jemand sie hasste oder weil sie für jemand gefährlich war.«

      »Wer ist der Betreffende?« Flanders' Stimme klang ergeben.

      »Wie zum Teufel, soll ich das wissen? Das ist Ihre Angelegenheit.«

      Flanders zuckte die Schultern und richtete seine Worte wieder an Robert. »Der Landauer ist zum Yard verbracht worden. Man wird die neue Fingerabdrucktechnik einsetzen und den Leichnam fotografieren. Allerdings bezweifle ich, dass man mit der Suche nach Fingerabdrücken Erfolg haben wird, nachdem Sie und Ihr Freund herumgewühlt haben.«

      »Das ist ohnehin zwecklos«, fiel Bishop bissig ein. »Sie wurde nicht in der Kutsche getötet. Mantel, Handschuhe und Tasche waren einfach hineingeworfen. Sie wurde irgendwo anders