Thomas Riedel

Die Zwanzigste Stunde


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      Kapitel 4

      Bishop erhob sich, als Robert Darlene zur Couch führte, die sich gleich darauf wieder an ihn lehnte und ihr Gesicht an seiner Schulter verbarg. »He! Wer wird denn weinen?«, polterte er. Hilflos schielte er zum Inspector hinüber. »Na, nun unternehmen Sie doch gefälligst etwas!«

      Flanders begab sich in die angrenzende kleine Küche und kehrte mit einem Glas Cognac zurück, das er Darlene reichte. »Trinken Sie langsam«, mahnte er sie.

      Darlene trank das Glas leer und ließ sich auf der Couch nieder.

      Niemand sprach ein Wort, bis sie sich etwas beruhigt hatte.

      »Kann mir jemand eine Zigarette geben?«, fragte sie nach einer Weile.

      Robert beeilte sich, ihrem Wunsch nachzukommen.

      Sie vermied es, jemand anzublicken. »Ich hatte nach dem Telefongespräch mit Robert gleich den Verdacht, dass sie tot ist«, sagte sie leise. »Ich war darauf vorbereitet, Onkel Bishop. Aber … aber Mord …?!«

      »Es ist scheußlich«, erwiderte dieser. »Doch diesmal sollst du die Last nicht allein tragen. Es wird Zeit, dass dein Vater einmal die Verantwortung auf sich nimmt. Seit Jahren betreibt er eine Vogel-Strauß-Politik. Aber vor diesem Mord kann er sich nicht drücken! Diesmal nicht!«

      Darlene presste ihre schlanken, gebräunten Hände zusammen. »Es ist so sinnlos! Margaret war doch ganz unbedeutend. Sie hatte doch nichts, um das man sie beneiden konnte … Warum hat man sie dann getötet?«

      »Ich hatte gehofft, dass Sie uns darüber etwas sagen könnten, Miss Newdale«, bemerkte Flanders ruhig.

      »Aber das kann ich ganz und gar nicht!«, rief Darlene. »Sie war ungehemmt wie ein Füllen. Sie stellte viele verrückte Sachen an. Aber sie tat doch niemand etwas zuleide außer sich selbst.«

      »Es muss jedoch einen Grund geben«, versetzte Flanders. »Es ist immer ein Grund vorhanden. Das Motiv ist manchmal schwerer zu finden als der Mörder selbst. Immerhin müssen wir es suchen.«

      »Natürlich müssen wir es suchen«, stimmte Darlene zu. »Jeder von uns muss sich bemühen, den Mörder ausfindig zu machen, denn wer es auch getan haben mag, er muss dafür sühnen.« Sie blickte Bishop an. »Ich habe so oft mit Margaret gestritten, Onkel Bishop. Aber das …«

      »Lassen Sie uns von wesentlicheren Dingen sprechen, Miss Newdale«, unterbrach Flanders sie. Seine kühle, unpersönliche Stimme erstickte alle Tränen. »Mr. Merrivell hat mir erzählt, wie er den Leichnam Ihrer Schwester gefunden hat. Er hat sich ziemlich töricht benommen, aber ich will seine Geschichte vorläufig einmal als glaubwürdig hinnehmen. Damit wären wir aber auch schon bei der Frage: Wie ist der Leichnam Ihrer Schwester in den Landauer gekommen, Miss Newdale?«

      Sie starrte ihn an. »Davon habe ich keine Ahnung, Inspector. Ich …«

      »Wo befand sich die Kutsche seit Mittwochabend, dem letzten Zeitpunkt, zu dem Margaret gesehen wurde?«

      »Ich hatte sie in Gebrauch«, gab sie bereitwillig Auskunft. »Wir hatten die ganze letzte Woche Pferde ausgestellt. So fuhr ich jeden Morgen gegen acht Uhr zur Ausstellung, um zu trainieren und die Pferde zu bewegen. Ich blieb dort bis Mitternacht, da dann die Ausstellung geschlossen wurde. Der Landauer stand jeden Tag vor dem ›Alexandra Park‹.«

      »Wo?«

      Darlene betrachtete ihre Hände. »Ich möchte niemanden in Ungelegenheiten bringen, Inspector … Ich …«

      Flanders lächelte. »Ein Bobby gestattete ihnen, den Wagen an einem Platz abzustellen, wo es eigentlich nicht zulässig war, nicht wahr?«

      Darlene nickte. »Vor dem Ausstellungsgelände an der ›South Terrace‹.«

      »Sie haben die Kutsche also in der vergangenen Woche als einzige benutzt?« Flanders Frage klang ganz beiläufig.

      »Antwortete nicht darauf, Darlene!«, fiel Robert scharf ein. »Irgendjemand hat gestern zwischen acht Uhr früh und ein Uhr nachts Margarets Leichnam in den Fond gelegt. Wenn du nun sagst …«

      »Bitte, Mr. Merrivell, übertreiben Sie nicht«, unterbrach ihn Flanders müden Tones. »Ich schone Miss Newdale nach Möglichkeit, indem ich sie hier, unter Freunden, verhöre, anstatt in meinem Büro im Yard.«

      »Aber Sie versuchen, ihr eine Falle zu stellen«, widersprach Robert.

      »Halten Sie die Klappe, Robert«, knurrte Bishop. Er saß neben Darlene auf der Couch und hielt die Augen wieder geschlossen.

      »Meine Frage bedeutet keine Falle, Miss Newdale«, bemerkte Flanders. »Jemand hat zu irgendeiner Zeit während des gestrigen Tages den Leichnam Ihrer Schwester auf die hintere Bank im Aufbau des Landauers gelegt. Es liegt wohl auf der Hand, dass das nicht geschehen konnte, während diese vor der Ausstellung stand. Ich versuche herauszufinden, wann es bewerkstelligt werden konnte und wem es überhaupt möglich war, an die Kutsche zu gelangen.«

      Darlene runzelte die Brauen. »Es gibt eine Menge Leute die die Kutsche benutzen«, murmelte sie. »Irgendjemand musste fortwährend zur Reitschule zurückfahren, um etwas zu holen. Patrick Chambers, unser Stallknecht, Captain Turnblower … Ich weiß nicht, wer noch.«

      »Sie wissen es nicht?«

      Darlene wich dem Blick des Inspectors nicht aus. »Die Schlüssel für die Türen und den Kofferaufbau lagen dauernd auf dem Tisch im Geschirraum. Jeder hätte sie sich aneignen können, ohne dass es weiter aufgefallen wäre.«

      »Begreifen Sie denn nicht, was das heißt, Inspector?«, fiel Robert ein. »Hunderte von Menschen trieben sich täglich in den Ställen und Räumen der Ausstellung herum. Jedermann … jedermann aus ganz London kann die Schlüssel gestohlen und benutzt haben. Es ist also unmöglich, Genaueres festzustellen.«

      Flanders sah Bishop an. Sie tauschten einen Blick des Einverständnisses miteinander aus.

      »Seien Sie doch kein Narr, Robert«, sagte der alte Mann. »Wir haben es mit einem kaltblütigen Mörder zu tun. Mit einem Menschen, der auf einen höchst angenehmen Ausweg verfallen ist, um sich des Leichnams zu entledigen, nachdem er einen Mord verübt hatte. Jedermann in London? … Pah! Jemand, der Bescheid wusste, mein Lieber. Jemand, der diese Schlüssel an sich nehmen konnte, ohne irgendwelchen Verdacht zu erregen, wenn er dabei ertappt wurde.«

      Darlenes Lippen begannen zu zittern.

      »Es hat keinen Sinn, wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen«, fuhr Bishop fort. »Es handelt sich um eine Person, die der Familie nahe steht … Sind Sie nicht auch dieser Ansicht, Flanders?«

      Der Inspector nickte seufzend.

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      Kapitel 5

      Robert begab sich durch die Tür in den menschenerfüllten Vorraum des ›Blue-Moons‹. Die Luft im Pub war dick. Er hörte abgerissene Töne der Tanzkapelle und das Schleifen von Füßen, die sich im Tanzsaal über den glatten Parkettboden bewegten.

      Ein Mitarbeiter näherte sich ihm, um ihm den Mantel abzunehmen.

      »Danke«, wehrte Robert ab. »Ich habe nicht die Absicht zu bleiben. Ich suche Mr. Straightbolt.«

      »Der Gentleman ist an der Bar.«

      Robert bahnte sich seinen Weg in den trüb beleuchteten Raum. Er war außerordentlich