Thomas Riedel

Die Zwanzigste Stunde


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mir also gerade vor, den Leichnam an eine bestimmte Stelle zu schaffen, sodass auf jeden Fall ich den Fall zu bearbeiten habe?«

      Wieder nickte Bishop. »Wenn nötig, ja.«

      »Ihnen ist aber schon bewusst, dass es ungesetzlich ist, einen Leichnam fortzuschaffen, ehe Scotland Yard dazu die Erlaubnis gegeben hat?«

      »Glauben Sie, dass ein Mann im Laufe von siebzig Jahren überhaupt nichts lernt? … Selbstverständlich würde ich einen Leichnam nicht mal mit einer yardlangen Stange anrühren.« Er blickte ihn herausfordernd an und ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber ich habe noch nie von einem Gesetz gehört, dass es verbietet, den Ort zu ändern, an dem ein Leichnam gefunden wird.«

      »Den Ort ändern?« Jetzt war es an Flanders sein Gegenüber argwöhnisch zu mustern, während er tief Atem holte. »Würden Sie so freundlich sein und mir mitteilen, wo sich der Körper des Opfers in diesem Mordfall augenblicklich befindet?«

      »Aber gern«, erwiderte Bishop. »Er befindet sich im Fond auf dem Rücksitz eines Landauers.«

      »Und wo befindet sich diese Kutsche?«

      »Das möchten wir ja gerade von Ihnen wissen«, erwiderte Bishop gereizt.

      »Oh, mein Gott: Barmherzigkeit!«, rief Flanders aus, imaginär zum Himmel blickend. »Sie wollen von mir wissen, wo sich der Landauer befindet?«

      »Nein! Ich weiß ja nicht, ob es an der frühen Morgenstunde liegt, aber Sie scheinen mir schwer von Begriff zu sein, Inspector! Wir möchten wissen, wo sich die Kutsche befinden muss, damit Sie den Fall bearbeiten! Der Leichnam ist genau dort, wo Robert Merrivell ihn gefunden hat. Auf dem Rücksitz des Landauers.«

      »Und wo ist dieser Landauer jetzt?«, wiederholte Flanders. Dabei betonte er jedes einzelne Wort, als spräche er mit einem kleinen Kind.

      »Der steht vor Ihrer Haustür, Inspector«, gab Robert mit leiser Stimme Auskunft. »Mr. Bishop und ich haben sie hergefahren.«

       *

      Ungefähr eine Stunde nach Roberts und Bishop' Besuch bei Inspector Flanders fuhr ein ›Hansom Cab‹ vor ein Gebäude in der ›Newland Road‹, etwas südlich vom Park, vor. Früher war dieses Gebäude ein Warenhauslager gewesen, doch dann hatte man das zweite und dritte Stockwerk in Wohnungen verwandelt, in die man von der ›Boyton Road‹ aus gelangte. An der ›Newland Road‹ war ein weiter Torweg, in dessen Hintergrund ein Pferdewagen stand. Zur Rechten des Tores kündigte ein schwarzgoldenes Schild an, dass sich hier die Reitschule von Captain Broderik Turnblower und Darlene Newdale befand.

      Darlene Newdale kletterte aus dem ›Hansom‹ und händigte dem Kutscher die Zwanzig-Shilling-Münze aus. »Behalten Sie das Wechselgeld. Es ist nicht meines«, erklärte sie trocken.

      Sie begab sich an dem Einspänner vorbei auf die Reitbahn. Mächtige Lampen, die bereits elektrisch gespeist wurden, hingen von der Decke herab, deren Licht von den weißgetünchten Wänden zurückgeworfen wurde. Jenseits der Bahn, an der Rampe zu den Ställen, standen zwei Männer: Patrick Chambers, der erste Stallknecht und Captain Broderik Turnblower.

      Turnblower gewahrte Darlene und kam auf sie zu. »Du willst wohl, dass der Landauer hereingeschafft wird und die Pferde abgerieben werden? Sie wird gleich entfernt.«

      Darlene lachte, aber es klang nicht fröhlich. »Die Kutsche und Pferde können nicht hereingeschafft werden, denn die habe ich nicht. Ich bin auf die schönste Art und Weise versetzt worden.«

      Turnblowers kluge Augen sahen, dass sie allem Lachen zum Trotz den Tränen nahe war. »Was ist los?«, fragte er besorgt.

      »Robert!«, erklärte sie. »Es ist wirklich komisch, Broderik. Er kam zu mir und sagte, er müsse noch heute Nacht mit mir sprechen. Ich … ich dachte schon, er sei vielleicht eines anderen Sinnes geworden. Ich schlug ihm vor, auf mich zu warten und nachher mit mir heimzufahren. Als ich dann zurückkam, war er mitsamt dem Landauer fort.«

      »Der dumme Junge!«, reagierte Turnblower ärgerlich.

      »Aber er war sehr fürsorglich, Broderik! Er übergab einem Bobby Geld für mich, damit ich mit einem ›Hansom‹ heimfahren konnte.«

      »Und warum …?«

      »Er ließ mir durch den Polizisten ausrichten, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, länger zu warten.«

      »Wenn ich den Burschen erwische dann, …«

      »Lass' gut sein, Broderik. Man kann Robert für seine Handlungen nicht zur Verantwortung ziehen. Er ist verliebt.« Ihr Lächeln wirkte ein wenig traurig. »Ich wünschte nur, er würde sich endlich entschließen, in wen.«

      »Vergiss ihn«, mahnte Turnblower und legte ihr seinen Arm um die Schultern. »Ich habe noch gar keine Gelegenheit gehabt, dir zu sagen, wie stolz ich auf dich bin, Kleines. Du hast deine Sache glänzend gemacht. ›Lucky Longtail‹ steht nun ganz groß da.«

      »Danke, Broderik. Ich … ich bin fast ein wenig betrübt, dass Pembroke ihn gekauft hat. ›Lucky Longtail‹ ist ein so feines Pferd.«

      »Nun, … du bist jetzt halt eine Geschäftsfrau, Kleines«, lächelte Turnblower. »Da darfst du nicht sentimental sein. Zweitausend Pfund können eine Menge Wölfe fernhalten.«

      Darlene nickte.

      »Da wir gerade von Wölfen sprechen«, fuhr er fort, »dein Vater und Tante Mabel haben oben etwas zu essen für uns. Rachel ist auch gekommen. Ich versprach ihr, sie nachher heimzubringen … Komm, wir gehen hinten hinauf.«

       *

      Der Salon der Newdales war mit Möbeln eingerichtet, die verrieten, dass die Familie schon bessere Tage gesehen hatte. Es waren Stücke darunter, von denen man sich nur im äußersten Notfall zu trennen pflegte.

      Douglas Newdale saß in einem großen Sessel neben dem Ofen. Er war um die sechzig Jahre alt und hatte graue Haare. Er trug einen Tweedanzug, der an einen Gutsbesitzer denken ließ und der so gar nicht in eine Londoner Stadtwohnung passte. Er erhob sich, als Darlene und Turnblower eintraten. »Meinen Glückwunsch, Liebling!«

      Darlene starrte ihn an. »Du hast doch nicht etwa zugesehen, Dad?«

      »Natürlich habe ich zugesehen. Du warst großartig.«

      »In diesem Anzug?!«, klagte sie.

      Douglas Newdale blickte zärtlich an seinem abgetragenen Tweedanzug hinunter. »N …nein. Ich habe mich inzwischen umgezogen.«

      »Du bist wirklich garstig, Dad. Niemals habe ich Gelegenheit, dich im Abendanzug zu sehen. Und dabei siehst du dann so gut aus!«

      »Nun, auf jeden Fall habe ich zugesehen. Miss Evermer stellte Mabel und mir liebenswürdigerweise ihre Loge zur Verfügung. Augenblicklich sind die beiden in der Küche.« Er wandte sich an Turnblower. »Einen Whisky, Broderik?«

      »Danke schön. Ich bediene mich schon selbst.« Turnblower ging zu einem Schrank und füllte sich ein Glas. »Jetzt wird es wohl aufwärts gehen mit der Reitschule. Darlenes Sieg wird viel dazu beitragen.«

      »Ich war sehr stolz auf dich, mein Liebling«, sagte Douglas Newdale. »Ich hoffte so, Margaret würde auch dasein. Aber wahrscheinlich ist sie durch Freunde abgehalten worden.«

      »Natürlich«, erwiderte Darlene hastig. »Ich will mal schauen, ob ich in der Küche etwas helfen kann.«

       *

      Miss Mabel Cartwell, Darlenes Tante, stand am Herd. Über einem schwarzen Kleid trug sie eine Küchenschürze. Ihre feinen Züge verrieten, dass sie einmal ein sehr hübsches junges Mädchen gewesen sein musste, wenngleich sie noch immer von ansprechender Schönheit war. Obwohl sie sämtliche Haus- und Küchenarbeiten bei den Newdales verrichtete, gelang es ihr, stets den Eindruck hervorzurufen, als