Manfred Lafrentz

Dindra Drachenreiterin


Скачать книгу

seine Tochter für ihr unvernünftiges Verhalten zu tadeln. Sie seufzte. Etru mochte es nicht, wenn sie den Drachen nachschaute. Wenn es nach ihm ging, hatte sie während eines Gewitters im Haus zu sein und es nicht zu verlassen, bis die Sonne wieder die Herrschaft über die Ebene gewann.

      Sie hatte es nicht eilig, zum Hof zurückzukehren, auch wenn es Etru nicht milder stimmen würde, wenn sie trödelte. Sie machte einen Umweg und schlenderte - anstatt es zu durchqueren und damit den Weg abzukürzen - an einem der kleinen Wäldchen vorbei, die sich außerhalb der Dörfer und Höfe wie Inseln durch die Ebene zogen. Der Wind ließ das Laub der Bäume zu ihrer Rechten rauschen. Es klang, als würden hunderte von Frauen der Ebene in ihren langen Röcken tanzen. Bald würde verzagtes Vogelgezwitscher die Stille des Graslands nach dem Gewitter aufheben.

      Es war der letzte Mond in der Zeit der heißen Sonne und die Bäume wurden hier und da schon kahl. Die Blätter der Goldsternbäume waren jetzt gelb, als träumten sie von den vor Monden verlorenen goldenen Blüten, denen sie nun bald folgen mussten. Die wie Hände geformten Blätter der Fingerblattbäume waren längst nicht mehr grün, sondern braun gefleckt, wie die Hände alter Leute. Und über allem leuchtete der Rote Ebenenstolz, der höchste Baum der westlichen Ebene, der sein nun fast purpurnes Laub wie einen Königsmantel zwischen seinen Untertanen trug.

      Dindra mochte diese Zeit, die so viel Farbe in das eintönige Grün der Ebene brachte, aber sie mochte auch die Zeit der kühlen Sonne, selbst wenn die Bäume dann zu kahlen Gerippen wurden und das Gras blass oder braun war. Es war die Zeit der warmen Kamine und der langen Geschichten.

      Hinter dem Wäldchen lag, zwischen diesem und dem nächsten, eine Schneise, auf der das Gras nicht so hoch wuchs. Sie markierte den Weg zu Etrus Hof. Gerade als Dindra sie betreten wollte, schnitt ein durchdringendes Geräusch durch die Stille der Ebene, wie ein zu stumpfes Messer, das mit hässlichem Reißen groben Stoff durchtrennt. Es hörte sich an, als brüllte ein großes Tier in verzweifelter Todesangst, so entsetzlich und erschütternd, dass Dindra jäh stehen blieb und erschrocken aufschaute. Unwillkürlich wich sie ein paar Schritte zurück vor dem, was sich am Himmel abspielte.

      Ein Drache flog über der Ebene, nicht weit zu ihrer Linken, auf eine Weise, die sie nie zuvor gesehen hatte. Statt seine Flügel langsam und majestätisch auf und ab schwingen zu lassen, ließ er sie unruhig und hektisch flattern und wand seinen lang gestreckten Rumpf schlangenhaft durch die Luft, als ob ihn etwas peinigte. Das Gebrüll, das er dabei immer wieder ausstieß, wurde von Flammen begleitet, die sich blassgelb vor seiner Schnauze abzeichneten.

      „Das muss der dritte sein”, dachte Dindra. Es sah aus, als wollte er seinen Reiter, den sie nur schemenhaft ausmachen konnte, abschütteln. Der Gedanke beunruhigte sie, denn er widersprach allem, was sie über die Drachen wusste. Sie waren sanftmütig und gütig gegenüber den Menschen. Seit tausenden von Jahren.

      Dieser Drache schien jedoch entschlossen, das zu ändern. Er setzte seinen wilden Tanz am Himmel fort, und Dindra bangte um seinen Reiter, denn es schien nur eine Frage der Zeit bis er den Halt verlieren und abstürzen musste. Kurz darauf aber gewann er offenbar die Kontrolle zurück, denn der Drache senkte sich langsam auf die Ebene hinab, wobei er weite Kreise zog und schließlich hinter einer Waldinsel außer Sicht geriet.

      „Er ist gelandet!”, dachte Dindra aufgeregt. So etwas kam hin und wieder vor, wenn die Drachenreiter mit den Hofbesitzern um Regen feilschten oder Nachrichten von Goldfels überbrachten, aber bei solchen Gelegenheiten hielten die Reiter die Hof- und Dorfleute dazu an, sich von den Drachen fernzuhalten, da sie empfindlich auf fremde Menschen reagierten. Alle Eltern verboten ihren Kindern, das Haus zu verlassen, wenn ein Drache in der Nähe landete, und Etru machte da keine Ausnahme.

      Dindra überlegte. Sie konnte eine brave Tochter sein, nach Hause gehen und Etru von dem Drachen erzählen, so wie er es von ihr erwarten würde. Oder sie konnte zur Waldinsel hinüberlaufen und vom Schutz der Bäume aus zum ersten Mal einen Drachen aus der Nähe betrachten. Etru würde dann sehr böse sein. So böse, dass er vielleicht zum ersten Mal den Stock benutzte. Der Gedanke an den Stock ließ sie zögern. In Gedanken sah sie den kräftigen, von seiner Rinde befreiten Ebenenstolzzweig vor sich, der an zwei Haken über dem Kamin aufgehängt war. Über die Jahre hatte sich das Holz durch den Rauch dunkelbraun verfärbt wie die Zähne eines alten Mannes. Der Stock hing dort so lange Dindra denken konnte. Wenn ihr Vater böse mit ihr war, stellte er sich immer neben den Kamin und sah den Stock bedeutungsvoll an. Schon als kleines Mädchen hatte sie gewusst, was es bedeuten sollte. Etru hatte ihn nie benutzt, aber Dindra war sicher, dass es eine Grenze gab, die sie nicht überschreiten durfte, ohne zu riskieren, dass Etru den Stock von seinem Platz nahm. Einmal, vor langer Zeit, hatte sie das Gatter vom Schafspferch offen gelassen. Mühsam hatten die Knechte die Schafe wieder einfangen müssen. Etru war zornig gewesen. Er hatte ihr eine Predigt über ihre Pflichten gehalten und dabei immer den Stock angesehen. Es war eine ihrer frühesten Erinnerungen, wie sie zitternd vor Angst vor ihm gestanden hatte. Über die Jahre hatte Etru viel durchgehen lassen, doch wenn sein Blick zu dem Stock wanderte, empfand Dindra immer noch die gleiche Angst wie damals. Sie hatte nie herausgefunden, wo die Grenze lag, aber wenn sie sich jetzt heimlich dem Drachen näherte, übertrat sie sie vielleicht.

      Andererseits war dies wahrscheinlich die einzige Gelegenheit in ihrem Leben, einen Drachen aus der Nähe zu sehen. Wenn sie, wie Etru es wollte, einen Hofbesitzer heiratete, musste sie diesem so gehorchen wie ihrem Vater, und er würde ihr befehlen, wie alle anderen Frauen mit den Kindern im Haus zu bleiben, wenn ein Drache beim Dorf landete.

      Während sie noch so tat, als ob sie das Für und Wider abwog, hatte sie sich schon in Richtung der Waldinsel in Bewegung gesetzt.

      „Sei nicht böse, Väterchen”, dachte sie. „Nicht so böse. Ich kann einfach nicht anders.”

      Außerdem musste Etru es ja nicht unbedingt erfahren. Sie konnte einen Blick auf den Drachen werfen und sich dann unbemerkt zurückziehen und nach Hause gehen.

      Es dauerte nicht lange bis sie das Wäldchen erreicht und durchquert hatte, aber als sie zu den Bäumen an seinem anderen Ende kam, vergaß sie alle ihre Vorsätze und trat, wie unter einem Zauberbann, auf die Ebene hinaus.

      Es war vor allem die Größe des Drachen, die sie überwältigte und ihr alle Gedanken an Vorsicht, Etru oder den Stock wie ein Sturmwind aus dem Kopf wehte. Der Anblick all jener Drachen, die sie in den vierzehn Zeiten der heißen und kühlen Sonne ihres Lebens am Himmel hatte entlang ziehen sehen, hatte sie nicht auf den Eindruck vorbereitet, den sie am Boden machten.

      Der Drache war riesig. Er hatte sich auf seinen kräftigen Hinterbeinen aufgerichtet, an die vier Mannslängen hoch, und die Flügel, deren Spannweite mindestens acht Mannslängen betrug, ausgebreitet. Sein Reiter, der neben ihm stand und beschwörend auf ihn einredete - ein hellhaariger Bursche, der nicht viel älter sein konnte als Dindra selbst - wirkte neben ihm winzig. Wie unter einem Zwang schüttelte der Drache den Kopf, als versuchte er, sich gegen die Befehle des Reiters zu wehren. Der lange silbrige Bart unter seiner spitz zulaufenden Schnauze schaukelte hin und her wie die Spitzen der langen Graslandsträucher, die im Wind tanzten. Auch der lange Schwanz peitschte nervös durchs Gras, tauchte abwechselnd links und rechts hinter dem kräftig verdickten Rumpf auf. Schließlich, als wollte er doch endlich auf die Beschwörungen des Reiters hören, ließ der Drache sich nach vorn fallen und landete auf allen vieren. Dabei bebte der Boden unter Dindras Stiefeln so heftig, dass sie fast ins Taumeln geraten wäre.

      Der Reiter redete unablässig auf den Drachen ein, aber dieser schien ihn kaum wahrzunehmen und machte weiter den Eindruck, als sei er über irgendetwas aufgebracht. Dindra verspürte plötzlich Mitgefühl. Die Vorstellung, dass ein solch mächtiges Wesen, ein Bringer des Drachensegens, einer Qual ausgesetzt war, gegen die es sich offenbar nicht wehren konnte, empörte sie. Von der Größe des Drachen eher beeindruckt als verängstigt, zog es sie unwillkürlich zu ihm hin, aus dem unbestimmten Bedürfnis heraus, ihn zu trösten, als wäre es ihre Pflicht, ihm zu helfen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte.

      Der Drache schien nicht erfreut. Kaum hatte er sie wahrgenommen, zuckte sein Kopf zurück, und er spuckte Feuer, nicht so viel, dass es Dindra erreicht hätte, aber genug, um ihr einen ordentlichen Schrecken zu