dass bereits eins dieser beiden Attribute vollkommen ausgereicht hätte, da der Grieche ein aufbrausendes Temperament besaß und auch sonst gern mal die ganze Straßenbreite für sich allein beanspruchte. Er gehörte zur Headbanger-Fraktion und war Dauerabonnent beim Wacken Open-Air-Festival. Robert schätzte seine gründlichen Tatortanalysen und forensischen Kenntnisse außerordentlich, und wusste, dass er sich auf seinen kriminalistischen Spürsinn verlassen konnte.
Als er das Schlafzimmer der de Groots betrat, fiel sein Blick zuerst auf das Ehebett. Die Bettlaken und Kopfkissen waren eingedrückt und auf dem Fußboden lag ein benutztes Taschentuch. »Papa Dopo« hatte es mit einer Pinzette angehoben und stellte lapidar fest: „Ich gehe jede Wette ein, das sich daran noch Rückstände von Chloroform feststellen lassen.“
Jan hatte sich unterdessen in einem Nebenraum umgesehen, dessen Zugangstür direkt neben der zum Badezimmer lag. Der Raum wurde wahrscheinlich hauptsächlich als Büro genutzt. An den Wänden standen Regale mit Aktenordnern. Viele Fachbücher über Tierzucht und Agrarwirtschaft standen nebeneinander aufgereiht. Er zog wahllos eins der Bücher heraus und blätterte darin herum. Jan empfand es als wissenschaftliche Anleitung, um Tiere zu quälen und eine innere Abscheu machte sich deutlich in ihm bemerkbar. Er stellte es an seinen Platz zurück. Dann ging er zu einem der winzigen Fenster, vor dem ein Schreibtisch aufgestellt war. Die Gardinen waren zugezogen und dämpften die optische Wahrnehmung, zumal das Tageslicht ohnehin nur schwach eindringen konnte. Ihm fiel sofort ein grünes Licht auf, das unter einigen darüber abgelegten Geschäftsbriefen permanent blinkte. Es kam von einem Anrufbeantworter. Seine Augen hatten sich inzwischen auf das Halbdunkel eingestellt und er machte einige Fotos von der Arbeitsfläche des Schreibtisches.
„Robert, kommst du mal“, wiederholte Jan seine Bitte.
Als der kurz darauf direkt hinter ihm stand, drückte er mit der Spitze seines Touchpad Stiftes auf die Play-Taste des Anrufbeantworters. Gleich die erste gespeicherte Nachricht vom 2. Dezember ließ beide aufhorchen. Eine männliche, aber zweifelsfrei verstellte Stimme, hatte nur eine kurze, dafür aber aussagekräftige Botschaft hinterlassen: „Wir werden dich und deinesgleichen bestrafen!“
Ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens breitete sich auf ihren Gesichtern aus.
„Die Anruferliste …“, sagte Robert, „wir müssen das überprüfen!“
Dann kündigte ein Piepton eine zweite Nachricht an. Sie wurde zwei Tage nach dem Drohanruf am 4. Dezember aufgezeichnet. Sie stammte von Erik de Groot. Er hatte um 8 Uhr 30 angerufen und außer der kurzen Frage: „He! Wo seid ihr?“, keine weiteren Informationen hinterlassen. Fünf Minuten später, gegen 8 Uhr 35, hatte sich noch eine weibliche Stimme gemeldet: „Ja, hier Sekretariat der Kanzlei Volkerts & Volkerts, Chantal Wülbers am Apparat. Ich möchte Sie nur an den heute mit uns vereinbarten Termin erinnern, Herr de Groot. Der Herr Notar erwartet Sie bereits in seinem Büro. Es wäre sehr nett, wenn Sie uns eventuell zurückrufen könnten, falls Ihnen irgendetwas Dringendes dazwischengekommen ist. Vielen Dank und Auf Wiederhören.“
„Allerdings ist Herrn de Groot tatsächlich was dazwischengekommen“, grummelte Robert.
„Weißt du, was ich besonders merkwürdig finde? - Sie haben seit dem 2. Dezember, also mindestens zwei Tage, bevor sie umgebracht wurden, ihren AB nicht mehr abgehört.“
„Oder sie wollten absichtlich mit dem Drohanrufer nicht direkt sprechen“, bemerkte Jan. „Ich packe den AB ein. Da muss ein Experte ran. Immerhin ist das eine heiße Spur.“
Robert nahm seine Brille ab. „Ich glaube, wir sollten jetzt Erik de Groot einen Besuch abstatten. Du hast doch die Anschrift von der Klinik, oder?“ Jan nickte. „Hier stören wir ja doch bloß“, stellte Robert fest.
Obwohl Twistringen nur etwa sechsundzwanzig Kilometer vom Haus der de Groots entfernt lag, benötigten sie fast sechzig Minuten bis zur Klinik, da die Nebenstraßen völlig vereist waren und obendrein auf halber Strecke eine ausgerückte Feuerwehr damit beschäftigt war, einen entwurzelten Baum zu entfernen, der die Fahrbahn blockierte. Robert stieg mit dem Hund aus und ließ ihn am Feldrain pinkeln, dann unterhielt er sich noch kurz mit einem der Feuerwehrmänner. Jan hatte die Fahrtunterbrechung genutzt, um über Erik de Groot im Internet zu recherchieren. Er stieß auf einige Namensvetter, die er aber gleich wieder wegklickte. Dann aber entdeckte er auf ein paar spärliche Blog-Einträge, die sich inhaltlich hauptsächlich mit betriebswirtschaftlichen Themen beschäftigten und von einem Studenten der Rijksuniversiteit Groningen herausgegeben wurde. Darin tauchte sein Name gleich mehrfach auf, immer im Zusammenhang mit irgendwelchen Master's degree programmes, Economics, Business and Environment und ähnlichen Schlagwörtern. Facebook und andere soziale Netzwerke schien Erik zu meiden. Was irgendwie für ihn sprach, dachte Jan. Ein Foto von Erik war nirgendwo im Netz zu finden.
Als sie den Parkplatz vor dem Klinikum erreicht hatten, fiel Robert noch eine Frage ein: „Sag mal, was hältst du eigentlich von dem anonymen Drohanruf auf dem AB?“ Jan schaltete seinen Tablet-PC aus und verstaute ihn in einem Etui.
„Ich weiß nicht genau, was dieses ‚Wir werden dich und deinesgleichen bestrafen!‘ zu bedeuten hat.“
„Ich musste gerade daran denken, was Hinnerk Bloemer heute früh gesagt hat. Er sprach davon, dass die Familie de Groot nicht nur Freunde hatte, sondern dass hier im Landkreis sogar einige Leute gegen ihre Geschäftspraktiken protestiert haben sollen“, meinte Robert und legte die Stirn in Falten, schürzte die Lippen und war so in Gedanken versunken, dass er das Geräusch vom Rücksitz des Wagens gar nicht wahrnahm. Erst als Wim anfing, die Lefzen hochzuziehen und dabei knurrend ein- und ausatmete, drehte er sich um.
„Was geht denn jetzt los?“, fragte Jan entsetzt und warf einen ängstlichen Blick über seine Schulter.
„Der Hund muss irgendwas wahrgenommen haben, was ihn beunruhigt.“
Sie blickten sich ein paar Sekunden lang hilflos um und entdeckten dann die Ursache für Wims Verhalten. Etwa zwanzig Meter von ihrem Fahrzeug entfernt lief ein Mann in schwarzem Anzug und weißem Kollar am Kragen über den Parkplatz und kam direkt auf sie zu. Es war ein Geistlicher der römisch-katholischen Kirche, der zum Tragen einer solchen Kleidung verpflichtet war. Der hagere Mann ging wie auf Eiern über das Glatteis und fuchtelte dabei mit seinen Armen herum.
„Offenbar irritiert Wim sein komischer Laufstil“, meinte Robert.
„Will der was von uns?“, fragte Jan.
Doch der hagere Geistliche lief achtlos an ihrem Wagen vorüber und lenkte stattdessen seine unsicheren Schritte gezielt in Richtung eines in der Nähe parkenden Mercedes GLK. Der schwarze Geländewagen hatte dunkel getönte Scheiben, sodass sie nicht erkennen konnte, ob noch jemand mit im Fond saß.
„Eins muss man denen ja lassen“, bemerkte Robert sarkastisch, „sie verstehen was von Autos.“
„Das ist kein Auto“, meinte Jan, „das ist ein Stadtpanzer.“
Kaum war der Geistliche eingestiegen, fuhr der Geländewagen auch schon vom Parkplatz und schlug genau jene Richtung ein, aus der sie soeben gekommen waren.
„Was macht wohl ein römisch-katholischer Priester in einer Psychotherapeutischen Klinik?“, fragte Jan und notierte sich gleichzeitig auf einem Notizblock das Kennzeichen des Wagens. Seine Frage verursachte jedoch bei Robert nur ein mitleidiges Schmunzeln.
„Wir sind hier in Südoldenburg, Jan, schon vergessen? Die katholischen Kleriker haben hier das Sagen. Vermutlich gehört ihnen sogar die Klinik.“
Wim hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Er rollte sich auf seinem Platz auf der Rückbank des Wagens zusammen, spitzte aber weiterhin die Ohren.
***
Dr. med. Gernot Knick war Therapeutischer Leiter der Klinik und zugleich Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er erweckte rein körperlich eher den Eindruck eines aus dem Leim gegangenen Marlon Brando. Sein Gesicht war schwammig und sein Händedruck lau. Dafür verrieten seine dichten Augenbrauen ein recht durchsetzungsfähiges Naturell. Er erwartete die beiden Kriminalbeamten bereits in seinem Dienstzimmer.