Lene Levi

Nordwest Bestial


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ging zu ihrem Wagen hinüber und beobachtete von außen, wie sie sich ihrer Schutzkleidung entledigte.

      Als sie ihn bemerkte, winkte sie ihm zu. „Was dagegen, wenn ich mich dem Leichenwagen anschließe? Ich habe hier nichts mehr zu tun, außerdem möchte ich noch vor Einbruch der Dunkelheit in Oldenburg eintreffen. Vielleicht schaffe ich es ja auch noch, einen ersten Blick auf die Leichen zu werfen.“

      „Und der Sturm?“, fragte Robert.

      „Ich pass schon auf. Wollt ihr etwa noch hierbleiben?“

      „Ja. Wir müssen morgen ohnehin die Spurensicherungsarbeiten im Haus fortführen. Heute ist das nicht mehr zu schaffen. Der Kollege Bloemer war so nett und hat uns angeboten, bei ihm in Goldenstedt zu übernachten.“ Er überlegte kurz. „Du könntest ja auch noch bleiben, oder?“

      Er betrachtete sie eindringlich, wusste aber genau, dass es zwecklos war, Lin etwas auszureden, wenn sie sich bereits entschieden hatte.

      „Fahr vorsichtig, Liebes. Und ruf mich an, wenn du angekommen bist.“

      Er griff nach ihrer Hand. Ihr Gesicht war ein wenig blass, aber sie wirkte nicht gestresst. Robert verspürte dennoch ein leichtes Unbehagen, als ihr Wagen kurz darauf über den Kiesweg rollte und nach wenigen Minuten aus seinem Sichtfeld entschwand. Ob es sich bei den beiden Toten tatsächlich um Hendrik de Groot und seine Ehefrau Sophia handelte, würde sicher erst nach der Leichenschau im Rechtsmedizinischen Institut festzustellen sein.

      Er richtete seinen Blick hinauf zu den Wipfeln der kahlen Bäume, deren knorrige Äste selbst der starke Wind kaum etwas anhaben konnte. Er entdeckte an einer der oberen Astverzweigungen eine zerfetzte Plastiktüte, die sich dort verfangen hatte. Sie sah aus wie eine zerfledderte Fahne, die im Wind hin und her gerissen wurde. Das flatternde Geräusch des Plastikfetzens nervte ihn. Dieser herumfliegende Abfall schien inzwischen die ganze Welt zu umhüllen. Ein erschreckender Gedanke. Er schüttelte den Kopf und öffnete die Fahrertür des Streifenwagens, um sich im Fond vor Wind und Regen zu schützen. Als er das Autoradio einstellte, liefe gerade eine Sondersendung. Es wurde berichtet, dass am späten Nachmittag der Orkan »Xaver« die deutsche, niederländische und die dänische Nordseeküste erreichen würde.

      Die Suchtrupps hatten die nähere Umgebung nach auffindbaren Beweismitteln durchforstet und waren inzwischen zu ihren Fahrzeugen zurückgekehrt. Polizeiobermeister Bloemer hatte sie tatkräftig unterstützt, da er die Wege durch die aktiven Teile des Moores und alle darin lauernden Gefahren gut kannte. Wer diese Pfade verließ, lief immer Gefahr zu versinken. Aber die Ausbeute der Spurensucher war dennoch auf den ersten Blick mager ausgefallen: einige durchnässte Zigarettenkippen, unzählige Einkaufstüten, ein abgebrochenes Küchenmesser und jede Menge Verpackungsmaterial aus Kunststoff. Ob auch nur eines dieser Fundstücke später irgendeine Relevanz erlangen könnte, würde einzig und allein die genauere Untersuchung im Labor entscheiden. Dennoch hatten sie jeden Gegenstand an Ort und Stelle fotografiert, säuberlich in Beweismaterialbeutel eingetütet, nummeriert und mit den genauen Fundortangaben versehen.

      Als Robert die Ausbeute betrachtete, stellte er fest, dass die allgemeine Stimmung bei allen seinen Leuten einen ersten Tiefpunkt erreicht hatte. Auch bemerkten die Kollegen erst jetzt, dass sie unter ihren nicht atmungsaktiven Overalls völlig durchgeschwitzt waren und plötzlich im nasskalten Wind zu frösteln begannen. Aus ihren Gesichtern war deutlich abzulesen, dass sie für heute genug hatten. Doch dann kam Jan auf die Gruppe der Männer zugeeilt und rief ihnen ganz aufgeregt zu: „Das müsst ihr euch unbedingt ansehen. Die Kollegen Dröge und Holzkämper haben was Interessantes zwischen dem Abfall in der blauen Papiertonne entdeckt.“

      Er hielt einen Beweismittelbeutel hoch, in dem sich Papierschnipsel befanden.

      „Wir stellen ab sofort alle weiteren Arbeiten ein“, forderte Robert sein Team auf. „Der Orkan bricht bald los. Hast du schon mal in den Himmel gesehen?“

      Die Beamten stiegen in ihre Einsatzfahrzeuge.

      „Und was wird aus dem Hund?“, erkundigte sich Jan, „Der hat ja bestimmt seit gestern nichts mehr zu fressen gekriegt.“

      „Den nehmen wir natürlich mit“, antworte Robert. „Immerhin ist er im Augenblick unser einziger Zeuge. Vielleicht ist Wim ja auch so eine Art Mantrailer-Hund. Wer weiß?“

      13

      Hinnerk Bloemer hatte das Gasthaus in Goldenstedt von seinem Vater geerbt, aber als gastronomische Einrichtung nicht fortgeführt. Er und seine Frau bewohnten den hinteren Teil des stark renovierungsbedürftigen Gebäudes, der früher einmal als Küchentrakt genutzt worden war. Seine Oldenburger Kollegen waren im ehemaligen Tanzsaal der stillgelegten Gastwirtschaft einquartiert. Die vergangene Nacht hatten sie auf Zeltbetten zugebracht. Und obwohl in den vergangenen Stunden heftige Orkanböen das alte Gebälk des Dachstuhls immer wieder bedrohlich ins Wanken gebracht hatten, waren sie jetzt am frühen Morgen doch sehr froh darüber, das Angebot ihres Goldenstedter Kollegen und Gastgebers angenommen zu haben. Nachdem sie aufgestanden waren und einer der Kriminaltechniker den Fernseher angestellt hatte, sahen sie die ersten TV-Bilder und Berichte über die Sturmschäden, die »Xaver« in den vergangenen Stunden im ganzen Nordwesten angerichtet hatte. Auf unzähligen Straßen lagen umgestürzte Bäume quer über die Fahrbahnen, heruntergerissene Dachpfannen hatten Kollateralschäden verursacht, Deiche waren beschädigt, Strommasten wie Streichhölzer umgeknickt und Lastkraftwagen lagen umgekippt auf Autobahnen. Es wäre ein Fehler gewesen, gestern noch zurückzufahren, denn seit der vergangenen Nacht waren die Verbindungsstraßen zwischen Oldenburg und Vechta nicht passierbar. Sie hätten also heute ihre Arbeit gar nicht fortführen können. Und als dann noch die Ehefrau des Gastgebers mit einem großen Topf Punkebrot und Grütze zum Frühstück aufwartete, war die stürmische Nacht fast schon vergessen.

      Robert hatte sich nach dem schweren Frühstück neben Hinnerk Bloemer gesetzt. „Ihr Chef, Kai Bahlmann, hat mir gesagt, dass Sie mir eventuell behilflich sein könnten. Ich hätte da ein paar Fragen.“

      „Wat mut, dat mut“, antworte Bloemer gutgelaunt.

      „Wie gut kannten Sie Hendrik de Groot und seine Frau?“, begann Robert.

      Doch Bloemer zuckte nur mit den Achseln. „Von gut kann keine Rede sein. Herr de Groot ist, oder vielmehr, er war einer der angesehensten Leute hier im Landkreis. Aber dass er nur Freunde hatte, wage ich trotzdem zu bezweifeln. Aber seine Frau Sophia war allgemein sehr beliebt. Sie hat sich zum Beispiel um die Renovierungsarbeiten des alten Bauerngehöfts gekümmert und ihre Einkäufe hier bei uns im Dorfladen erledigt. Sie wissen ja, wie das so in kleinen Ortschaften üblich ist. Auf solche kleinen Nebensächlichkeiten wird hier sehr viel Wert gelegt. Schließlich kennt hier ja jeder jeden.“

      „Sie sagten gerade, dass Hendrik de Groot nicht nur Freunde hatte. Kennen Sie Leute, die ihn nicht mochten?“

      Bloemer schüttelte bedächtig seinen runden Bollerkopp und grinste verschmitzt. „Nee, Herr Kommissar. Ich verstehe, worauf ihre Frage abzielt. Wenn sich bei uns einige Leute untereinander nicht grün sind, heißt das noch lange nicht, dass man gleich einen bestialischen Doppelmord begeht. Kleinere Meinungsverschiedenheiten werden bei uns auf eigene Faust auf dem Stoppelmarkt aus der Welt geschafft, wenn Sie verstehen, was ich meine. Am Ende gibt’s ein paar blaue Veilchen um die Augen und – bum! – fertigt ist die Laube. Aber Mord? Nee. Das geht mir irgendwie nicht in den Kopf.“

      „Das war aber einer. Hendrik und Sophia de Groot wurden umgebracht.“

      „Sie können sich schon vorstellen, dass man als großer Zampano heutzutage nicht nur von allen Leuten bewundert wird, oder?“

      „Hatte er Schwierigkeiten? Und wenn ja, mit wem?“, hakte Robert nach.

      „Mir ist jedenfalls zu Ohren gekommen, dass hier im Landkreis vor einiger Zeit ein paar Leute öffentlich gegen seine Geschäftspraktiken protestiert haben. Umweltschützer, wenn Sie verstehen.“

      Robert nickte. „Ah ja, Umweltschützer.“

      „Ach, wissen Sie, es gab da vor einiger Zeit eine Kampagne gegen