Lene Levi

Nordwest Bestial


Скачать книгу

Richtung des Gartengrundstücks zurück. Ein Tatortfotograf versuchte Aufnahmen zu machen, ohne dabei mögliche Spuren zu zerstören, was sich als äußerst schwierig herausstellte.

      Als er damit fertig war, nahm Robert seinen Atemschutz ab und rief: „Kann jetzt vielleicht jemand mal die Umlaufpumpe von dem Ding abstellen.”

      Doch Lin hatte den zur Hälfte untergetauchten Schädel noch nicht vollständig aus dem Pool geborgen. Sie winkte heftig ab und erklärte: „Nein. Ich bin noch nicht fertig.” Ihre Stimme klang durch die Sprechmembran der Maske seltsam farblos. Dann versuchte sie weiter, mit ihrer Arbeit voranzukommen.

      Robert sah hinüber zu Jan und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er zu ihm kommen sollte. Jan folgte der Aufforderung nur zögerlich. Endlich hatte Lin den Schädel soweit aus der Brühe gefischt, dass jetzt die schemenhaften Gesichtszüge eines männlichen Kopfes erkennbar wurden, dem beide Augäpfel aus ihren Höhlen gequollen waren. Über beide Wangenpartien hatte sich die Gesichtshaut gelöst, so dass die mimische Muskulatur vollkommen freilag. Das Blitzlicht des Fotografen hielt diesen Augenblick in grellem Licht fest.

      In unregelmäßigen Stößen durchdrang Roberts Atem die fast unerträgliche Stille. Qualvolle Sekunden spürte er fast gar nichts mehr.

      Als Lin mit dem männlichen Schädel fertig war, beschäftigte sie sich mit der weiblichen Leiche. Die Frau war unbekleidet. Sie lag jetzt auf dem Rücken mit nach vorn zusammengeschnürten Armen in gekreuzter Haltung über dem Körper. An einigen Stellen war ihre Haut durch die lang anhaltende Hitzeeinwirkung und durch Verätzungen stark verfärbt. Auf ihren Beinen hatte sie sich bereits komplett abgelöst oder war nur noch durch wenige Faserreste mit ihrem Körper verbunden. Auf dem Gesicht hatte sich Waschhaut gebildet, die aufgequollen, geschrumpelt und grau aussah. Große Teile ihrer dunklen langen Kopfhaare schwammen auf der Oberfläche oder klebten in Büscheln am Beckenrand.

      „Und jetzt muss ich noch die genaue Wassertemperatur bestimmen und ein paar Proben der Flüssigkeit entnehmen”, erläuterte Lin, „dann könnt ihr meinetwegen den Stecker ziehen.”

      Über den Rand des Outdoor-Whirlpools hatte der Wind einige schmutzige Schaumkronen geweht. Die Windstöße hatten in der vergangenen Stunde spürbar an Intensität zugenommen, sodass Robert einen besorgten Blick hinauf zu den Baumkronen der Mooreichen richtete. Jan stand die Anspannung deutlich ins Gesicht geschrieben. Er wartete darauf, welche Anweisung ihm Robert erteilen würde. Ihm fehlte die Erfahrung, um über die richtige Vorgehensweise nachzudenken.

      „Ich glaube nicht, dass wir hier draußen noch vor Einbruch der Dunkelheit fertig werden“, stellte Robert mit gesenkter Stimme fest. „Gehe bitte ins Haus und sage den Leuten von der Spurensicherung, dass sie ihre Arbeiten unterbrechen sollen. Diesen Job können sie auch morgen noch erledigen. Viel wichtiger ist es, das gesamte Gelände nach möglichen Spuren abzusuchen. Wenn erst der Orkan hier drüber hinweggefegt ist, wäre alles verloren.“

      Jan war heilfroh darüber, nicht in die Arbeiten am Pool einbezogen zu werden. Er eilte sofort ins Haus.

      Jetzt hatte sich vorsichtig auch wieder Polizeioberrat Bahlmann dem Whirlpool genähert. „Gibt es schon erste Hinweise über eine mögliche Todesursache?“

      „Wie ein Badeunfall sieht es jedenfalls nicht gerade aus“, versicherte Lin. „Sehen Sie mal.“ Sie fischte mit einer Metallstange, an deren Ende eine Schlinge angebracht war, auf dem Grund des Beckens und hob dann zwei Beine, die mit einem Plastikbinder zusammengeschnürt waren, an die Oberfläche.

      „Beide sind jedenfalls nicht freiwillig hier rein gestiegen. Da hat jemand nachgeholfen.“

      Kai Bahlmann kämpfte mit sich und dem Inhalt seines Magens. Seine Augen starrten dabei unentwegt ins Leere. Und je heftiger er mit sich rang, umso fester presste er die Atemschutzmaske auf seinen Mund.

      „Hier, nehmen Sie das“, sagte Robert und bot ihm eine Tube mit Eukalyptuspaste an. „Das sollten Sie sich unter die Nase reiben. Manchmal hilft´s, manchmal auch nicht.“ Doch Kai Bahlmann winkte ab.

      „Ich hab was gefunden“, rief Lin den Männern zu.

      Zeitgleich drehten sich die Köpfe zu ihr. Lin hatte mithilfe eines Siebes etwas vom Grund des Beckens geborgen. Sie deutete mit einem Handzeichen an, dass es sich wahrscheinlich um ein wichtiges Fundstück handeln könnte. Robert nahm das Sieb entgegen und puhlte aus dem Metallfilter einen runden und glänzenden Gegenstand. Es war eindeutig ein Ehering. Eilig streifte er die Atemschutzmaske vom Gesicht, setzte sich seine Lesebrille auf und betrachtete den Gegenstand. Er begann, eine Gravur auf der Innenseite zu entziffern: Hendrik & Sophia - 20.07.2002.

      Bahlmanns Walkie-Talkie rauschte und eine weibliche Stimme meldete sich: „Polizeioberrat Bahlmann. Es gibt jetzt einen konkreten Anhaltspunkt. Wir haben den Hinweis eines Anwohners erhalten, der die zwei verdächtigen Personen am Brägeler Pickerweg beobachtet haben will, wo sie offenbar Zuflucht in einem alten Bauernhof gesucht haben. Der Bereich wurde von uns inzwischen umstellt und hermetisch abgeriegelt. Könnten Sie bitte sofort zum Einsatzort kommen?“ Kai Bahlmann bestätigte, dann wandte er sich an Robert: „Sie haben es gerade selber gehört. Ich muss sofort los.“ Er wollte sich schon abwenden, da fiel ihm doch noch etwas ein. „Was meinen Sie, Kommissar Rieken? Schaffen Sie und ihre Leute es noch die Beweisaufnahme abzuschließen, bevor der Sturm hier alles hinwegfegt?“

      Robert ging nicht darauf ein und erklärte stattdessen: „Wenn Sie mir einige Ihrer Leute zur Verfügung stellen, könnte ich Ihnen vielleicht auf diese Frage eine definitive Antwort geben.“

      „Ich werde Ihnen Polizeiobermeister Bloemer zur Seite zu stellen. Mehr geht nicht!“ Dann verschwand er durch die Terrassentür.

      „So ein arrogantes Arschloch“, zischte ihm Robert hinterher.

      11

      Der Brägeler Pickerweg lag etwa neunzehn Kilometer vom Haus der de Groots entfernt. Der Weg selbst führte anfangs noch durch ein Gebiet, das hauptsächlich von kleinen Wäldchen, Entwässerungsgräften, Feuchtwiesen und überschaubar großen Feldflächen abwechselnd gekennzeichnet war. Das Territorium gehörte nicht mehr zu Vechta, sondern zum Nachbarort Lohne.

      Kai Bahlmann passierte einen Kontrollposten, der einen der Zufahrtswege mit seinem Streifenwagen blockiert hatte. Der Polizist grüßte ihn beim Vorbeifahren. Die hermetische Abriegelung scheint gut zu funktionieren, dachte Bahlmann zufrieden.

      Nach etwa drei Kilometern tauchten zwischen den Waldschneisen und Feuchtwiesen ein paar ziemlich heruntergekommene Resthöfe auf, die früher mal zu größeren Landwirtschaften gehört haben mussten. Die einstigen Hochmoore und Heidesandböden brachten jetzt kaum noch Erträge, lediglich mit Maisanbau konnten die ansässigen Landwirte noch Geld verdienen. Da sich mit Mais als Biomasse zur Energiegewinnung ein absatzsicheres Geschäft machen ließ, verpachteten sie einen Großteil ihrer Nutzungsflächen an Agrarunternehmer. Nicht wenige hatten sogar ihre brachliegenden Ackerflächen verkauft und waren weggezogen. In den vergangenen Jahren sind so auf dem Pickerweg hauptsächlich Mastanlagen oder Biogasbetriebe entstanden, welche die ursprüngliche Biotoplandschaft immer mehr zurückdrängten.

      Kai Bahlmann kündigte über Sprechfunk sein baldiges Eintreffen bei der Einsatzleiterin des Sonderkommandos an. Ihrer tiefen Stimme war eine deutliche Anspannung anzumerken. Sie versuchte, ihn frostig über den aktuellen Stand der Ereignisse aufzuklären. „Einer der Anwohner hat vor etwa einer Stunde Schüsse in der Nähe seines Wohnhauses gehört. Daraufhin hat er sich telefonisch sofort bei der Cloppenburger Polizei gemeldet. Als dann die Information an mich weitergeleitet wurde, war ja klar, dass sich hier Bewaffnete aufhielten.“

      „Und haben Sie inzwischen den Anrufer persönlich kontaktiert?“, informierte sich Bahlmann gereizt.

      „Ja, selbstverständlich. Ich bin vor einer halben Stunde bei ihm gewesen. Nach meinem Erkenntnisstand deutet alles darauf hin, dass sich im betreffenden Gebäude die mutmaßlichen Zielpersonen noch immer aufhalten. Eine genaue Personenbeschreibung konnte er allerdings nicht liefern.“

      Als