Ed Belser

Die Erbinnen


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aufzuschlagen und die glühenden Brocken darauf zu werfen.“

      Hoffman versorgte den Umschlag in seiner Jacke. „Wenn das alles ist …“.

      „Anschließend kommt ihr zum Fort Augustus und lagert am Loch Ness. Jemand soll mir berichten, wenn ihr angekommen seid.“

      Middlehurst steckte seinen Degen in die Scheide und ging zur Kutsche.

      Zehn, manchmal zwölf Stunden dauerte die Reise von einer Wechselstation zur nächsten. Manchmal schien die Sonne und heizte die Kutsche erbarmungslos auf. Man war froh, wenn es zwischendurch wieder regnete und erst wenn der Fahrtwind die Schauer durch die Fenster trieb, zog man die Vorhänge. Von Zeit zu Zeit wechselten Margaret und Cremor ihre Plätze. Kurzweilige Gespräche über ihre Erlebnisse der Vergangenheit wechselten mit stundenlangem Dösen. Finn O‘Brian hatte erkannt, dass sie seine Gesellschaft zur Abwechslung schätzten und er spürte, wenn er bei einem kurzen Halt sein Pferd hinter der Kutsche anbinden und für ein Wegstück zu ihnen zusteigen sollte.

      Manchmal erzählte Finn von seinem Heimatdorf und warum er als Ire bei der englischen Armee gelandet war. Es war für Cremor nichts Neues, als er erfuhr, wie man ihn betrunken gemacht hatte und ihn ein Papier unterzeichnen ließ und dass er, kaum war er wieder nüchtern, eine englische Uniform trug.

      „Ich war nicht einmal unglücklich darüber, denn endlich kriegte ich genug zu essen.“ Finn verzog sein Gesicht. „Da ging es mir noch besser, als jenen die schon am nächsten Tag auf ein Schiff verladen wurden. Ich habe gar nicht gewusst, dass so viele Leute darauf Platz haben.“ Finn schloss die Augen und schwieg.

      Margaret betrachtete sein versteinertes Gesicht. „Da war noch etwas anderes, oder?“

      Finn ließ den Kopf hängen. Dann schaute er mit schmerzverzogenem Gesicht zu Margaret, dann zu Cremor und wieder zurück zu ihr. „Es war die Hölle. Wir litten Hunger. Die Väter waren irgendwo. Unsere Mütter konnten uns nicht mehr ernähren. Wir mussten betteln, ich und meine Geschwister. Anfangs waren wir noch ein halbes Dutzend. Eines ums andere ist verschwunden. Ich war der Älteste. Ich habe sie gesucht. Vergeblich.“ Er schlug die Hände vor sein Gesicht um seine Tränen zu verbergen. „Entschuldigung, ich wollte nicht …“.

      „Sprich weiter, Finn.“ Margaret fuhr ihm mit der Hand über den Kopf.

      „Ich wollte es zuerst nicht glauben, nicht wahrhaben. Mit der Zeit erfuhr ich es dann. Ich sah die Fuhrwerke voller Kinder, ja Kinder. Jungen und Mädchen. Man hatte sie eingesammelt, mit Gewalt.“ Er schaute Margaret hilflos in die Augen. „Dann wurden sie zum Hafen gebracht. Ich habe alles beobachtet, musste aufpassen, dass man mich nicht entdeckte. Ich sah, dass die Kapitäne Geld für sie zahlten. Dann wurden sie in die Schiffe getrieben. Man sah bald keinen mehr, sie waren alle unter Deck.“

      „Und dann?“, fragte Cremor atemlos.

      „Ich wollte nach Hause. Unsere Hütte war abgebrannt, meine Mutter verschwunden. Ich habe sie überall gesucht. Es war alles so grauenhaft. In den wenigen Hütten, die noch unversehrt waren, vegetierten nur eine paar Alte und Kranke. Keine Kinder, keine jungen Leute mehr. Alle weg. Eigentlich hatte ich noch Glück, dass ich in der Armee gelandet bin.“

      Margaret seufzte tief. „Dann war es also doch wahr.“

      Cremor schaute sie fragend an. Er ahnte was kommen würde. „Amerika?“

      Margaret nickte. „Man hatte viel darüber geredet. Schlimme Geschichten. Ich wollte es nie richtig wahrhaben.“ Sie fuhr sich mit beiden Händen über die Nase und über die Wangen. „Ich hätte es merken müssen. Die Schiffe brachten unzählige Leute aus Irland und Schottland, doch die wenigsten verließen es am Hafen, eben nur diejenigen, die Geld hatten und für die Überfahrt bezahlen konnten. Sie halfen uns beim Aufbau des Dorfes. Doch auch sie hatten schon ihre Arbeiter dabei und die wurden geschunden.“

      „Und die anderen?“

      „Für die war die Reise in Brunswick Town nicht zu Ende. Die Schiffe segelten weiter den Fluss hinauf. Die meisten Leute waren an Bord geblieben. Man sah sie nicht, denn sie waren alle unter Deck.“

      Die Kutsche schaukelte heftig und sie mussten sich an den Wänden festhalten. Cremor spürte, wie es in seiner Stirnnarbe pochte. „Was geschah mit ihnen?“

      „Ich hielt es zuerst für Gräuelgeschichten, so unglaublich war es.“ Margaret schüttelte den Kopf. „Ich habe sie gesehen, als ich als Lehrerin unterwegs war. Man hat es vor mir nicht einmal verborgen. Ich habe sie gesehen, wie sie zusammen mit den schwarzen Sklaven auf den Baumwoll- und Tabakfeldern arbeiteten. Die Hitze war unvorstellbar. Gar Kinder noch, viele von ihnen, teilweise nackt. In den Villen selbst ging alles sehr gesittet zu und her. Die Diener waren gut gekleidet und machten einen sorglosen Eindruck.“ Sie hielt inne. „Aber ich habe mich täuschen lassen. Später habe ich von unglaublichen Geschichten erfahren. Die weißen Sklaven waren weniger wert als die schwarzen. Sie waren schwächer und weniger widerstandsfähig.“ Margarets Augen füllten sich mit Tränen. „Man hat mir erzählt, dass die Decks der Schiffe vollgepfercht waren mit den gefangenen Iren und Schotten. Sie waren an einander gekettet, selbst im Tod noch, etliche sind verhungert oder an Krankheit gestorben. Man hat sie einfach in den Fluss gekippt. Sie trieben später wieder an Brunswick vorbei und wurden ins Meer hinaus gespült.“

      Finn murmelte: „Du hättest es nicht verhindern können.“

      Margaret fuhr auf. „Doch, jemand hätte etwas tun müssen. Aber es war alles wie normal, wie wenn es zum Alltag gehört hätte. Sklaven waren überall, Schwarze und Weiße. Es hat niemanden gestört.“ Sie schrie plötzlich laut auf. „Es war alles wie normal. Völlig normal! Und ich habe es akzeptiert!“

      Cremor setzte sich neben sie und umfasste sie über die Schultern. „Beruhige Dich, Margaret. Du bist nicht schuld daran.“

      Sie atmete tief. Es war, wie wenn sie zu den Sitzpolstern sprechen würde. „Ich habe geschwiegen. Ich brauchte das Geld. Ich wollte es mit den Gutsherren nicht verderben. Ich brauchte das Geld, um zurückzukommen.“ Sie sank in sich zusammen. Cremor suchte nach Worten, doch seine Stimme blieb stumm.

      „Ich hatte später Kinder in meiner Schule, deren Eltern nach Jahren der Zwangsverpflichtung als Sklaven wieder freigelassen wurden. Es dauerte Monate, bis sie wieder zu sprechen begannen.“ Margaret würgte die Sätze heraus. „Eine Mutter hatte mir erzählt, dass es Sklavenmärkte gab. Mädchen und Jungen jeden Alters, nackt, an einander gekettet, jeder der Prüfung durch den Käufer ausgesetzt. Die Schwarzen erzielten höhere Preise als die Weißen, doch für junge weiße Mädchen überboten sich die Käufer gegenseitig.“ Es schauderte sie und sie schluchzte laut. „Und ich habe nichts unternommen.“

      Cremor umfasste ihre Hände. „Du konntest nichts dafür. Du hattest andere Sorgen.“ Er atmete tief aus. „Wir können es nicht ändern. Eigentlich war es nicht wesentlich anders als hier.“ Er drückte noch immer ihre Hände.

      Finn war der erste, der sich gefasst hatte. „Machen wir eine kurze Rast?“

      Cremor nickte kraftlos.

      Als die Reise weiterging, saß Margaret in sich zusammengesunken in einer Ecke der Kutsche. Finn ritt manchmal voraus, dann wieder hinterher. Manchmal sah man ihn durch das Fenster vorbeireiten. Sie nahm ihren Schal und bedeckte ihr Gesicht. „Lass mich einen Moment schlafen, Cremor.“

      Cremor lauschte ihrer tonlosen Stimme. Er selbst war hellwach und aufgewühlt von ihren Schilderungen. „Sicher, meine Liebste, ruh Dich aus.“ Er wühlte nach seinen Papieren, blätterte darin herum und versuchte sich ein Bild zu machen, was er an der Auktion eigentlich alles ersteigert hatte. Hie und da schaute er zu ihr hin. Er hatte nicht den Eindruck als ob sie schlafen würde. Sie hatte ihre Arme vor sich im Schoss. Es entging ihm nicht, dass sie ihre Hände manchmal zusammenpresste. Es kam ihm vor, wie wenn sie ihn durch den Schal hindurch beobachten würde.

      Margaret hatte ihre verdeckten Augen meistens offen. Sie versuchte sich ein Bild zu machen von dem Mann, der ihr gegenübersaß. Der Mann, der ihre erste und einzige Liebe war. Auf den sie ein halbes Leben gewartet hatte, nachdem sie auseinandergerissen worden waren.