nicht die Schuldgefühle, die mich plagten. Ich war alleine, Luca würde mir nicht helfen, mein Problem zu lösen. Ich wusste nicht mehr aus noch ein und war vollkommen handlungsunfähig, gelähmt von der Angst, etwas auszusprechen, was mir selbst so ungeheuerlich vorkam.
Die Situation wurde schier unerträglich. Wir versuchten es mit einer Eheberatung, doch die Würfel waren längst gefallen. Mein Mann sagte einmal in einer Sitzung zur Therapeutin: „Kann es sein, dass meine Frau depressiv ist?“ Und ihre Antwort lautete: „Ich habe eher das Gefühl, da sitzt ein Vulkan vor mir, der kurz vorm Ausbruch steht.“ Es gab kein Zurück mehr für mich. Ich war irgendwo zwischen Leiden und der leisen Ahnung und Hoffnung nach mehr Leben. Was auch immer das heißen mag, ich wusste, dass ich mehr wollte. Auch wenn das „Mehr“ die negativen Seiten mit einschloss. Ich machte noch ein paar Vorschläge für alternative Beziehungsformen, doch davon wollte mein Mann nichts wissen. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass das nach meiner damaligen Gemütsverfassung auch nicht erfolgreich gewesen wäre.
Ich erinnere mich an einen Sonntagnachmittag, an dem er sich zu einer Bergtour bereit erklärt hatte. Er war wirklich bemüht, denn im Normalfall fand er Wandern einfach furchtbar. Ich fragte ihn unterwegs: „Was sind denn deine Träume? Was möchtest du in deinem Leben noch machen? Und was ist aus unseren gemeinsamen Plänen geworden?“ Als wir uns kennenlernten, hatten wir oft darüber gesprochen, dass wir, sobald meine Kinder aus dem Haus sind, an einem anderen Ort leben möchten. „Wenn du mich so fragst“, sagte er, „dann würde ich gerne mit dem Motorrad die Pan Americana entlangfahren.“ Ein kurzer Hoffnungsschimmer glomm in mir auf und ich wollte wissen, wann wir aufbrechen. Doch der Strohhalm war so schnell weg, wie er aufgetaucht war. „Es ist beruflich im Moment einfach nicht möglich. Danach ist mein Job weg“, war seine Antwort. Hätten wir etwas in der Art gewagt, einen wirklich radikalen Schnitt durch unseren Alltag, wäre unsere Ehe vielleicht noch zu retten gewesen. Oder machte ich mir damit etwas vor? Hatte ich den Entschluss, alleine weiterzugehen, längst gefasst? Lange vor diesem Gespräch? Vielleicht sogar lange vor Luca? War es nur eine bequeme Ausrede für mich, dass wir keine gemeinsamen Ziele mehr hatten und die Dinge, die uns wichtig waren, meilenweit voneinander entfernt lagen?
Johanna - Aus-Zeit!
Mein Mann machte den Vorschlag einer kleinen Auszeit. Er wollte für einige Wochen auf Geschäftsreise gehen. Das verschaffte mir Luft, ich konnte wieder atmen und gleichzeitig wusste ich, dass es nur ein Aufschub war. Ich habe diese Wochen alleine sehr genossen. Abends heimzukommen ohne mich verstecken zu müssen, war Entspannung pur. Trotzdem nagte in mir das Gefühl des Versagens. Ich war dabei, meine zweite Ehe in den Sand zu setzen und fühlte mich schuldig. Nicht nur, dass ich Schuldgefühle meinem Mann gegenüber hatte, da war noch mehr. Eine Stimme, die mir zuflüsterte, ich dürfe mir nicht einfach alles nehmen, was ich möchte, jemand der mir sagte, dass ich mich für diese Ehe entschieden hätte und es mir jetzt nicht einfach anders überlegen könne. Ich dürfe nicht mein Glück über das eines anderen stellen. Diese Stimme in mir hatte auch eine Adresse. Ich projizierte diese Gedanken und Ängste in mir auf meine Familie, die Wertvorstellungen meiner verstorbenen Eltern und meiner Geschwister. Stellvertretend sah ich dabei vordergründig meine älteste Schwester. Was hatte ich für einen Heidenbammel, mich ihr und damit letztendlich meinen eigenen Ängsten zu stellen. Dabei musste sie längst bemerkt haben, dass in meiner Ehe etwas nicht stimmte. Sie hatte meinen Mann und mich an Silvester sprachlos nebeneinander erlebt.
Ich musste meinen ganzen Mut zusammen nehmen und nutzte die Abwesenheit meines Mannes, um sie für ein Wochenende einzuladen. Es brauchte ein paar Anläufe, bis ich das Thema wirklich zur Sprache brachte. Anfangs sehr ungelenk. All die Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte, kamen total verquer daher. Aber ich habe es geschafft. Ich habe ihr von meinen Ängsten erzählt, die ich bei dem Gedanken hatte, ihr zu erzählen, dass ich mich von meinem Mann trennen wolle. Von meiner Sorge, wie es dann finanziell weiter gehen sollte und überhaupt, wie es um mich stand. Nur Luca ließ ich aus. Letztendlich spielte er auch keine tragende Rolle, was die Trennung selbst betraf. Ihr Kommentar war schlichtweg: „Na und?“. Das war für mich mehr als Absolution, das war nach vorne schauen, als hätte sie das Licht am Ende des Tunnels eingeschaltet. Warum fällt es mir so schwer, ich zu sein und ehrlich auszusprechen, was mich bewegt. Dabei sollte es doch das Normalste auf der Welt sein. Mit diesem Gespräch hatte sich eine Türe für mich geöffnet und es war ein wichtiger Schritt für mich und das, was ich vorhatte. Es zeigte mir auch, wie befreiend es ist, sich seinen Dämonen zu stellen. Sie lösen sich in Luft auf und verwandeln sich in Chancen.
Noch eine Nacht und ein Tag dann ist meine Auszeit vorbei und ich würde Farbe bekennen müssen. Um mir Unterstützung und Kraft zu holen, wollte ich am Abend zu einem Satsang gehen. Einer meiner Yogalehrer war der Veranstalter. Ihr müsst euch das so vorstellen: Die Teilnehmer sitzen in Stuhlreihen wie bei einem Konzert oder einem Vortrag. Der Sprecher sitzt vor den Zuhörern und neben sich hat er einen freien Stuhl. Anfangs spricht er über ein frei gewähltes Thema, über Wahrheit, das Hier und Jetzt und den Augenblick. Irgendwann kommt der Punkt, an dem er das Publikum auffordert, Fragen zu stellen. Der Haken ist, dass man dabei nicht sitzen bleiben kann, sondern man aufstehen und nach vorne auf den freien Stuhl kommen muss, um sein Anliegen los zu werden. Ich hätte sehr gerne meine persönliche Situation vorgebracht, aber ich war nicht mutig genug. Das Gute war, ich musste mich gar nicht trauen, weil eine andere Frau das für mich übernahm. Ihr Anliegen war nicht eins zu eins identisch mit dem meinen, aber es ging auch bei ihr um eine langjährige Beziehung und die Frage, ob sie sich trennen oder der Partnerschaft noch eine Chance geben soll. Ich weiß gar nicht mehr genau, um was es dann im Detail ging, doch plötzlich stand folgender Satz im Raum: „und dann tauschst du einen Mann mit dem anderen aus, doch was hat sich dadurch tatsächlich verändert?“ Autsch - damit hatte ich nicht gerechnet. Eine böse Frage, über die ich zweifelsohne einmal genauer nachdenken sollte. In Bezug auf meine Ehe konnte sie aber nichts mehr bewirken.
Mein Mann kehrte von seiner Reise zurück und wollte wissen, ob es meinerseits neue Erkenntnisse gäbe. Sein Gepäck stand noch im Flur und der Zeitpunkt erschien mir ziemlich unpassend. Ich fühlte mich kaltherzig. Doch lügen wollte ich auch nicht. So kam es, dass ich ihm zehn Minuten nach seiner Heimkehr sagte, dass ich nicht mehr mit ihm leben wolle.
Mutter - Erkenntnis
Nie hätte ich gedacht, dass sie unglücklich sein könnte oder sich ein anderes Leben wünschte. Sie strahlte so viel Freundlichkeit aus. Sie hatte einen fürsorglichen Ehemann, zwei gescheite, gesunde Kinder, eine gut bezahlte Arbeit, ein schönes Haus, alle mochten sie. Und allem voran, sie brachte Abwechslung in mein Leben. Sie kam oft sonntags zum Kaffee oder sie und ihr Mann holten mich ab und wir gingen zum Essen aus oder saßen in ihrem wilden Garten am Teich. Sie hatte ein perfektes Leben und hätte sie mir etwas anderes erzählt, ich hätte es nicht verstanden und das wusste sie. Nach all den Schmerzen, die ich in meinem Leben hatte überstehen müssen, wollte ich nur Frieden und meine kleinen Freuden des Lebens genießen. Sie machte einen Großteil davon aus. Es schmerzt mich im Nachhinein zu erkennen, dass mir nicht bewusst war, welchen Preis sie dafür bezahlte. Und doch muss jeder seinen eigenen Weg finden und die Verantwortung für das, was man tut und lässt, liegt immer in einem selbst.
Johanna - Rückschau
Durch das Eintauchen in meine Erinnerungen, erwachten längst vergessen geglaubte Ereignisse zum Leben. Scheinbar vollkommen banale Kleinigkeiten wurden plötzlich zum Symbol für einen ganzen Lebensabschnitt. Es ist schon einige Jahre her und wir hatten zu einem Osterbrunch Gäste eingeladen. Ich hatte gekocht und gebacken, so dass der Tisch prall gefüllt war mit tollen Leckereien. Die ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühlings waren schon zu spüren und es hätte ein schöner Tag sein können. Eines meiner Kinder hatte etwas getan oder gesagt, das seinem Stiefvater nicht passte. Es kann nichts furchtbar Schlimmes gewesen sein, sonst würde ich mich daran erinnern. Aber er hat den ganzen Tag ein beleidigtes Gesicht aufgesetzt. Wenn er etwas sagte, dann nur, um einen blöden Spruch oder etwas Beleidigendes loszuwerden. So lange er sich so benahm, wenn wir alleine waren, konnte ich es verdrängen, mich ablenken oder weggehen. Doch im Beisein der Gäste wurde es wahr, ich sah es in und durch deren Augen. Ich war unglücklich und versteckte mich in der Abstellkammer zum Heulen.
Oder