wir spannen Ideen, was für Möglichkeiten es denn gäbe, jemanden kennen zu lernen. Da kam mein Mann dazu, sagte „Hallo“ zum Nachbarn, nahm meine Hand, machte noch einen kleinen Scherz und zog mich dann mit sich ins Haus. Es war nicht die einzige Situation, in der er meine Gespräche auf diese oder ähnliche Weise beendete.
Ich bin immer noch traurig, wenn ich daran zurück denke, weil das Leben so nicht sein sollte. Wie viele Abendessen im Familienkreis habe ich erlebt, die nach dem folgenden Schema abliefen: ich koche, wir setzen uns an den Tisch, eins der Kinder benimmt sich nicht seinen Vorstellungen entsprechend oder sagt etwas, das er für falsch hält, und er reagiert lautstark, als würde man ihn persönlich beleidigen, obwohl es überhaupt nicht um ihn geht. Im besten Fall beenden wir das Essen unter drückendem Schweigen oder er verschwindet hinter der knallenden Tür in seinem Büro.
Wie bricht man aus solchen Mustern aus? Ich konnte mich dessen nicht erwehren und wusste beim besten Willen nicht, wie ich das ändern sollte. Es gab nur Aushalten für mich. An eine Trennung habe ich damals nie gedacht. Es wurde zum Alltag, dass er jederzeit explodieren konnte. Ich hatte jede Menge Erklärungen für seine Ausbrüche. Sein Leben war nicht einfach. Er war freischaffend tätig und hatte ständig Sorgen, genügend Aufträge zu bekommen. Die Beziehung zu seiner Familie, also seinem Elternhaus, war schwierig und belastend. Er war voller Schmerz. Und ich war in gewisser Weise abhängig von ihm. Ich hatte mich vollkommen auf meine Rolle als Ehefrau und Mutter eingelassen. Sie war mein Leben, meine Anerkennung, meine Identität. Was würde von mir übrig bleiben, wenn ich sie nicht mehr hätte?
Während der Trennungsphase hatte er mich oft nach dem „Warum“ gefragt. Er wollte Gründe von mir hören, weshalb ich nicht mehr mit ihm leben wollte. Er meinte, er hätte mir doch nie etwas Böses getan. Er hätte mich nie geschlagen, mich nie betrogen, wir hätten genug Geld und uns gehe es doch gut. Wie sollte ich ihm nur meinen Wunsch nach einem erfüllten, glücklichen Leben erklären, wenn ich doch selber gar nicht wusste, was ein solches ausmacht. Meine Tochter sagte mir, ich hätte eine „Midlife-Crisis“. Ja, die hatte ich. Ich habe in der Mitte meines Lebens Bilanz gezogen und festgestellt, dass es nur noch aus Grautönen bestand, dass sich alles in mir nach Leben sehnt, nach Singen, Tanzen und Leichtigkeit. Kennt ihr diese Sehnsucht, dieses Ziehen im Herzen?
Die Auszeit, die mein Mann uns gewährte, fand im März statt. Nachdem danach feststand, dass wir uns trennen würden, musste noch eine weitere Entscheidung gefällt werden. Wir hatten im letzten Jahr für Mitte April eine relativ teure Urlaubsreise gebucht und jetzt war die Frage, was damit passierte. Sollten wir zusammen fahren und das Ganze als Abschiedsreise zelebrieren? Ganz absagen? Zu guter Letzt und relativ kurzfristig habe ich mich entschlossen, alleine zu fahren.
Johanna - unbeschwerte Reise
Es war eine unglaublich schöne Rundreise durch Israel. Ich genoss es, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen, zu essen, wann und wie ich wollte, so weit und so schnell oder langsam zu laufen, wie ich Lust hatte, zu sprechen, wenn es mir danach war - es fand sich immer jemand für ein Gespräch, wenn ich wollte - und zu schweigen, wenn ich nichts zu sagen hatte. Es machte mir Freude die biblischen Orte zu besuchen und die Geschichte sowohl von ihrer historischen als auch der mystischen Seite zu erleben. Stundenlange philosophische Betrachtungen über Bibelzitate und Sichtweisen von Glauben und Religion.
Nach einem erfüllten Tag saß ich abends noch irgendwo alleine und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Immer mit diesem Hochgefühl der plötzlichen Freiheit. Ich weiß, dass Freiheit im eigenen Kopf anfängt und aufhört und ich noch viel an mir arbeiten muss. Es wäre ein Trugschluss, zu glauben, ich hätte schon irgendetwas von dem, das die Schieflage in meinem Leben verursachte, geklärt, nur weil ich mich gerade so gut fühlte. In dieser zu Hause so anstrengenden Zeit, war es einfach erholsam, mich von neuen Eindrücken und fremden Landschaften ablenken zu lassen. Raus aus der Waschmaschine in meinem Kopf, die seit Monaten auf Schleudergang gestellt war. Raus aus meinen Gedanken, die sich Tag und Nacht gebetsmühlenartig wiederholten. Ich machte ganz einfach Urlaub.
Das I-Tüpfelchen am Ende meiner herrlichen Reise war eine wundervolle Begegnung mit einem tollen Mann. Ich saß am Flughafen und mein Flug wurde zum Boarding aufgerufen. Ich hatte keine Lust, in der Schlange zu stehen und deshalb blieb ich noch sitzen und beobachtete die Menschen, wie sie alle ihre Bordkarten vorzeigten und durch die Türe hinter der Kontrolle verschwanden. Dabei fiel mir der große dunkelhäutige Mann auf. Sehr sympathisch, gut aussehend mit freundlichen Augen. Was soll ich lange herum reden, er saß im Flugzeug neben mir. Wir hatten eine Dreierreihe für uns zu zweit. Carlos war auf dem Heimflug nach Brasilien und hatte geschäftlich in Tel Aviv zu tun gehabt. Er erzählte mir, dass er die Geschäftsreise auch noch genutzt hatte, um sich von einem alten Freund zu verabschieden, der sehr krank war und im Sterben lag. Kein Smalltalk zwischen zwei Menschen, die sich gerade im Flugzeug zum ersten Mal gesehen haben. Es fühlte sich eher an, wie zwei Menschen, die sich schon sehr lange kannten. Wir brauchten nicht viele Worte und sprachen auch nur kurz über unsere jeweiligen aktuellen Lebensumstände. Es war nicht wichtig. Wir hörten über einen Kopfhörer mit jeweils einem Stöpsel im Ohr zusammen Musik und hatten furchtbar viel Spaß bei dem Versuch, Entspannungsübungen zu machen. Er fragte mich: „Was hast du noch vor in deinem Leben? Was sind die Dinge, die du noch ausprobieren oder sehen möchtest?“. Er schrieb mir seine Email-Adresse in das Buch, das ich gerade las. Zum Abschied hielten wir uns lange in den Armen und dann habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Es war eine intensive und sehr berührende Begegnung, an die ich immer noch gerne zurück denke.
In dieser Stimmung kam ich nach Hause. Doch sie hielt nicht lange an, denn mein Leben holte mich schlagartig wieder ein. Mein Mann eröffnete mir, dass er eine Wohnung gefunden habe und in der kommenden Woche ausziehen würde. Das war eine harte Landung in der Wirklichkeit. Alles, was ich gewollt und mit meinen Gedanken und durch mein Handeln heraufbeschworen hatte, wurde jetzt wahr. Jetzt musste ich Neuland betreten und ich fürchtete mich sehr vor den Konsequenzen und all dem Unbekannten, das die Veränderung mit sich bringen würde.
Mutter - nachdenklich
Sie zieht es tatsächlich durch. So sehr drängt es sie in ein neues Leben, dass alle Ängste und Zweifel sie nicht zurück halten können. Wäre ich noch am Leben, ich hätte es nicht gut geheißen. Doch jetzt muss ich sagen: „Ich bin stolz auf dich mein Kind!“ Ich wünschte, ich wäre dir ein besseres Vorbild gewesen oder hätte dich mehr unterstützt. Und ich frage mich: „Wie war denn das bei mir? Was hat mir meine Mutter weiter gegeben?“ Du hast deine Oma nie kennen gelernt. Sie war eine starke Frau, musste ihre Familie in zwei Kriegen zusammenhalten und hat auch sonst viel Leid erfahren. Hatte sie eine andere Wahl als es schweigend zu ertragen, wenn sie nicht zerbrechen wollte? Das war es, was sie mich gelehrt hat: den Schmerz verbergen und das Beste daraus machen.
In diesem Zusammenhang würde ich dir gerne eine Geschichte über deine Großeltern erzählen. Letztendlich eine Lügengeschichte, die einmal in die Welt gesetzt wurde, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Eine verlogene Ordnung von Anstand und Moral. Nach den vielen Jahren des Schweigens hatte ich selbst fast vergessen, dass sich dahinter eine andere Wahrheit verbirgt. Ich war noch ein Kind und trotzdem hatte ich dieses Wissen in mir, dass etwas daran nicht stimmte. Wobei, von Wissen zu sprechen setzt ein Bewusstsein voraus, das ich gar nicht hatte. Es war mehr eine Ahnung, die wie ein Windhauch, der kommt und geht, gleich wieder vergessen ist und doch tief in unserem Empfinden abgespeichert wird.
Auf dem Hof meiner Eltern gab es viele Dienstboten. Mein Vater war ein gerechter Dienstherr und kümmerte sich gut um seine Leute. Und doch kam es mir seltsam vor, dass ich ihn nachts manchmal die Treppe zu den Kammern hochsteigen hörte. Ich hörte auch die Mägde manchmal über Dinge tuscheln, die ich nicht verstand. Eine von ihnen war schwanger. Sie war am Hof bis kurz vor der Entbindung. Dann ist sie, ich weiß nicht wohin, verschwunden. Einige Wochen später war plötzlich ein Baby da und alle sprachen davon, dass eines Morgens ein Findelkind vor unserer Haustüre gelegen hatte. Und weil der Bauer ja ein rechtschaffener, wohl angesehener Mann war, nahm er sich des kleinen Buben an, sorgte für dessen Unterkunft und Verpflegung. Ich glaube nicht an den Zufall! Den rechtmäßigen Platz in der Familie oder als Sohn durfte er aber nie einnehmen. Ob dieses Arrangement von meinem Vater alleine beschlossen worden war oder er das Einverständnis seiner Frau